FORVM, No. 230/231
März
1973

Keuschheit in China

Essay aus dem Jahr 1918

Lu Hsün (1881-1936) ist einer der bedeutendsten Literaten und Literaturwissenschaftler des neueren China. Vom bürgerlichen Nationalliberalen entwickelte er sich zum Kommunisten, unterstützte die KPCh, ohne je formell beizutreten. Er war das geistige Haupt der 1. chinesischen Kulturrevolution auf den Hochschulen 1918/19. Aus dieser Zeit, als erstmals in China sexuelle Revolution und Frauenbefreiung auf die Tagesordnung kamen, stammt der folgende Text, welcher demnächst bei Rowohlt erscheint, als: „Der Einsturz der Lu-Feng-Pagode. Essays über Literatur und Revolution in China“.

Lu Hsün war das Haupt der Kulturrevolution in China. Er war nicht nur ein großer Schriftsteller, sondern auch ein großer Denker und ein großer Revolutionär. Lu Hsün besaß Rückgrat, er war ohne jede Spur von Servilität und Kriecherei, und das ist die wertvollste Eigenschaft eines Menschen in kolonialen und halbkolonialen Ländern ... Die Richtung Lu Hsüns ist die Richtung der neuen Kultur des chinesischen Volkes.

Mao Tse-tung: Über die neue Demokratie

Nach Meinung unserer heutigen Moralisten ist eine Frau dann keusch, wenn sie sich nach dem Tod ihres Mannes weigert, noch einmal zu heiraten oder einen Geliebten zu haben; je früher ihr Mann stirbt und je ärmer ihre Familie ist, desto mehr Möglichkeiten hat sie, keusch zu sein. Darüber hinaus gibt es zwei weitere Arten von Märtyrerinnen der Keuschheit: die eine begeht Selbstmord, wenn ihr Mann oder Verlobter stirbt; die andere begeht Selbstmord, wenn sie von einem Wüstling bedroht wird, oder sie stirbt, während sie ihm Widerstand leistet. Je grausamer ihr Tod, desto größer ihr Ruhm. Wenn sie erst Selbstmord begeht, nachdem sie bereits vergewaltigt worden ist, wird es Gerede geben. Sie hat eine Chance gegen tausend, einen großzügigen Moralisten zu finden, der sie vielleicht, in Anbetracht der Umstände, entschuldigt.

Kurz gesagt: wenn ihr Mann stirbt, muß die Frau allein bleiben oder sterben. Trifft sie einen anderen Mann, der ihr gegenüber zudringlich wird, muß sie ebenfalls sterben. Wenn solche Frauen gelobt werden, ist die Gesellschaft moralisch gesund, und es besteht noch Hoffnung für China.

Auf welche Weise fügen unkeusche Frauen ihrem Land Schaden zu? Schließlich ist allen klar, daß das Land heute „vor dem Ruin steht“: Scheußliche Verbrechen ohne Ende, Krieg, Banditen, Hungersnöte, Überschwemmungen und Dürreperioden wechseln miteinander ab. Der Grund hierfür ist das Fehlen einer neuen Wissenschaft und einer neuen Moral; alle unsere Ideen und Verhaltensweisen sind hoffnungslos veraltet. Deshalb ähnelt unsere düstere Gegenwart auch den finstersten Zeiten des Altertums. Schließlich sind alle Schlüsselstellungen in Regierung, Armee, Kultur und Wirtschaft mit Männern besetzt; unkeusche Frauen haben hier keinen Zutritt. Und es ist unwahrscheinlich, daß die Männer an der Macht von unkeuschen Frauen dermaßen verhext worden sind, daß sie keinen Unterschied zwischen Gut und Böse mehr kennen und Verbrechen begehen. Was Überschwemmungen, Trockenheit und Hungersnöte betrifft, so entstehen sie durch das Fehlen moderner wissenschaftlicher Kenntnisse: durch Beschwörung von Drachen und Schlangen, Abholzung der Wälder und Vernachlässigung der Wasserreserven — Frauen haben damit noch weniger zu tun. Krieg und Bandenwesen, das ist wahr, sind oft die Ursache von Unkeuschheit, aber Unkeuschheit ist nicht die Ursache von Krieg und Bandenwesen.

Warum sollen Frauen die Verantwortung auf sich nehmen, die Welt zu retten? Nach den Lehren der Alten gehören die Frauen zum Prinzip des „yin“’ oder Negativen; ihr Platz ist hinter dem Herd, sie sind ein Anhängsel der Männer. Deshalb sollte man die Last des Regierens und die Rettung des Landes konsequenterweise den Männern überlassen, die zum Prinzip des „yang“, oder Positiven gehören. Wie können wir den schwachen Frauen solch eine schwere Pflicht aufbürden? Neuere Theorien behaupten, daß beide Geschlechter gleich sind und auch die gleichen Pflichten haben. Selbst wenn die Frauen diese Aufgaben übernehmen, brauchen sie nicht mehr zu tun, als ihnen zusteht. Es ist Sache der Männer, ihr Teil dazu beizutragen, indem sie nicht nur die Gewalt verdammen, sondern selbst mit gutem Beispiel vorangehen.

Welchem Ziel dient die Aufrechterhaltung der Keuschheit? Wenn wir alle Frauen nach dem Grad ihrer Keuschheit klassifizieren, können wir sie in drei verschiedene Kategorien einteilen: erstens diejenigen, die keusch sind und uneingeschränktes Lob verdienen; zweitens die unkeuschen Frauen; und drittens diejenigen, die noch unverheiratet sind, deren Ehemänner noch am Leben sind, oder die noch keinen zudringlichen Liebhabern begegnet sind, so daß sich ihre Keuschheit nur schwer einschätzen läßt. Über die erste Kategorie gibt es nur Positives zu berichten, deshalb können wir sie hier außer acht lassen. Für die zweite Kategorie ist jede Hoffnung verloren, denn wenn eine Frau einmal im Leben einen Fehltritt begangen hat, gibt es in China keine Möglichkeit für sie, dies je wiedergutzumachen — sie kann nur noch vor Scham sterben. Die dritte Kategorie ist daher die wichtigste: die Frauen, die bereits auf dem richtigen Wege sind, sollten folgenden Schwur leisten: „Wenn mein Mann stirbt, werde ich nie wieder heiraten! Wenn ich einem zudringlichen Liebhaber begegne, begehe ich so schnell wie möglich Selbstmord!“ Aber welche Wirkung kann ein solcher Entschluß schon auf die öffentliche Moral ausüben, die in China von den Männern bestimmt wird?

Ist Keuschheit eine Tugend? Tugenden müssen allgemein anerkannt sein, von allen erstrebt und für alle erreichbar, nutzbringend für einen selbst und für alle anderen — nur so bekommen sie Sinn. Von der Keuschheit sind aber nicht nur alle Männer ausgeschlossen — selbst den Frauen wird diese Ehre nur in seltensten Fällen zuteil.

Wenn eine schwache Frau (unter den gegenwärtigen Bedingungen sind die Frauen immer schwach) einem gewalttätigen Mann gegenübersteht, ohne Hilfe von ihrem Vater, Bruder oder Ehemann, und auch die Nachbarn lassen sie im Stich, bleibt ihr nichts anderes übrig, als zu sterben. Wenn sie Pech hat, stirbt sie erst, nachdem sie schon vergewaltigt worden ist; oder sie stirbt überhaupt nicht. Später setzen sich dann ihr Vater, ihre Brüder, der Ehemann und die Nachbarn mit Schriftstellern, Gelehrten und Moralisten zusammen und diskutieren den Fall, ohne ein Wort über ihre eigene Feigheit und ihr Versagen zu verlieren und ohne sich um die Bestrafung des Schuldigen zu kümmern. Ist sie tot oder nicht? heißt es dann; ist sie vergewaltigt worden oder nicht? Wie großartig, wenn sie gestorben ist, wie peinlich, wenn sie noch lebt! So fabrizieren sie den Nachruhm für keusche Frauen und die üble Nachrede für die unkeuschen. Wenn man nüchtern darüber nachdenkt, sieht man, daß das Ganze, anstatt tugendhaft, einfach nur unmenschlich ist.

Haben polygame Männer das Recht, die Keuschheit einer Frau zu loben? Die Moralisten alten Schlages würden sagen: Natürlich. Allein die Tatsache, daß sie Männer sind, unterscheidet sie in dieser Hinsicht und erhebt sie zu Schiedsrichtern über die Gesellschaft. Indem sie sich auf klassische Zitate über „yin“ und „yang“, das positive und das negative Prinzip, berufen, fühlen sie sich den Frauen überlegen. Aber heute sieht man die Dinge etwas klarer und weiß, daß das Gerede von „yin“ und „yang“ absoluter Unsinn ist. Selbst wenn ein solcher Dualismus existiert, gibt es keinen Grund anzunehmen, daß „yang“ edler ist als „yin“, daß das männliche dem weiblichen Prinzip überlegen ist.

Die Männer dürfen nicht von den Frauen Dinge fordern, an die sie sich selbst nicht halten. Und solange die Ehe ein Geschäft ist, ein Schwindel oder eine Form von Tribut, hat der Mann nicht einmal das Recht, von seiner Frau zu verlangen, daß sie ihm ihr Leben lang treu bleibt. Wie kann sich ein polygamer Mann anmaßen, die Keuschheit einer Frau zu loben?

Nur eine Gesellschaft, in der jeder bloß an sich denkt und in der die Frauen keusch bleiben müssen, während die Männer polygam sind, konnte solch eine pervertierte Moral hervorbringen, die von Tag zu Tag strenger und grausamer wird. Darüber braucht man sich nicht zu wundern. Aber da die Männer den Ton angeben und die Frauen leiden, wie kommt es, daß noch nie eine Frau dagegen protestiert hat? Weil: „Eine Frau sein Gehorsam bedeutet.“ Selbstverständlich braucht eine Frau keine Bildung: wenn sie nur den Mund aufmacht, ist das schon ein Verbrechen. Da ihr Geist genauso deformiert ist wie ihr Körper, hat sie gegen diese deformierte Moral nichts einzuwenden.

Ist es schwierig, keusch zu sein? Antwort: Ja, es ist sehr schwierig. Weil die Männer wissen, wie schwer es ist, loben sie die Keuschheit in den höchsten Tönen. Die öffentliche Meinung geht seit jeher davon aus, daß die Keuschheit allein von der Frau abhängt. Wenn ein Mann eine Frau verführt, wird er dafür nicht zur Rechenschaft gezogen. Macht zum Beispiel A (ein Mann) B (einer Frau) den Hof, und sie weist ihn zurück, so gilt sie als keusch. Stirbt sie dabei, wird sie zum Märtyrer erhoben; A’s Ehre bleibt unbefleckt, und die Welt ist in Ordnung. Wenn jedoch B A erhört, gilt sie als unkeusch; auch diesmal bleibt A’s Ehre unbefleckt, aber sie hat gegen die öffentliche Moral verstoßen. Der Niedergang eines Landes zum Beispiel wird immer den Frauen angelastet. Ohne es zu wissen, tragen sie seit 3000 Jahren die Sünden der ganzen Welt. Da die Männer kein Schamgefühl kennen und die Folgen nicht zu fürchten brauchen, verführen sie die Frauen mit ruhigem Gewissen, und die Dichter machen daraus romantische Liebesgeschichten.

Ist es anstrengend, keusch zu bleiben? Antwort: Ja, sehr. Weil die Männer wissen, wie anstrengend es ist, loben sie die Keuschheit in den höchsten Tönen. Alle Menschen wollen leben, aber um ein Märtyrer der Keuschheit zu werden, muß man sterben. Eine keusche Witwe jedoch lebt weiter. Ganz zu schweigen von ihrem seelischen Leiden, ist auch ihre physische Existenz sehr schwer. Wenn die Frauen materiell unabhängiger wären, und die Hilfsbereitschaft der Gesellschaft wäre größer, könnte eine Witwe sorgenfrei leben; aber in China ist es leider umgekehrt: Solange eine Witwe Geld hat, geht es ihr gut; ist sie arm, muß sie verhungern. Erst nach ihrem Tode erhält sie ein Ehrendiplom, und ihr Name lebt in der Lokalchronik weiter. An letzter Stelle in der Chronik eines jeden Bezirks und Distrikts gibt es eine Liste mit den Namen von „Märtyrerinnen der Keuschheit“: Chao, Ch’ien, Sun, Li — eine oder eine halbe Zeile für jede. Aber wer liest so etwas schon. Nicht einmal die großen Moralisten, die ihr Leben lang die Keuschheit verehrt haben, können einem die Namen der zehn berühmtesten Märtyrerinnen ihres Distrikts auswendig hersagen. Ob tot oder lebendig — die Frauen sind aus der Gesellschaft ausgeschlossen.

Ist es denn weniger änstrengend, nicht keusch zu bleiben? Nein, auch das ist äußerst anstrengend. Da die Gesellschaft solche Frauen verachtet, sind sie gewissermaßen vogelfrei. Viele der Regeln, die ungeprüft von den Alten übernommen werden, sind vollkommen irrational, aber das Gewicht der Tradition und die Meinung der Mehrheit können Außenseiter zum Tode verurteilen. Niemand weiß, wie viele unschuldige Menschen diese anonymen, unwissenden Mörder seit den ältesten Zeiten auf dem Gewissen haben, die „Märtyrerinnen der Keuschheit“ mit eingeschlossen. Diese aber werden wenigstens nach ihrem Tode geehrt und in den Lokalchroniken erwähnt, während die unkeuschen Frauen schon zu Lebzeiten den schlimmsten Beleidigungen und Mißhandlungen ausgesetzt sind.

Wollen die Frauen selbst denn keusch sein? Antwort: Nein. Alle menschlichen Wesen haben ihre Ideale und Hoffnungen. Ob arm oder reich, ihr Leben muß einen Sinn haben. Ideal ist das, was den anderen genausoviel nützt wie einem selbst, aber zumindest erhofft man einen bescheidenen Vorteil für sich selbst. Keusch zu sein ist schwierig und anstrengend, und es bringt weder einem selbst noch den anderen irgendwelchen Nutzen. Die Behauptung, die Frauen wollten gerne keusch sein, ist unsinnig.

Auf Grund der Fakten und Argumente, die ich oben dargelegt habe, komme ich zu dem Schluß, daß die Keuschheit schwierig, anstrengend, unerwünscht, überflüssig für einen selbst und für die anderen, nutzlos für Staat und Gesellschaft und vollkommen wertlos für die Nachwelt ist.

© Rowohlt Verlag Reinbek

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