Kindergartenprotokolle (II)
aramis (peter sagmüller) malte, stellte erfolgreich aus, entwickelte dann besonderes interesse für psychoanalyse und pädagogik. das bundesheer brachte ihn fast ums leben (vgl. seinen text „lieber sterben“ im NF, Dez. 1970, „kleine österr. soldatenzeitung“). wir drucken hier seinen erfahrungsbericht über den „antiautoritären kindergarten“, der in den räumen der redaktion des „neuen forvm“ (Kritischer Klub) 1969 begonnen wurde und seither durch ableger weitergedeiht.
I.
erziehung der erzieher
erziehung der erzieher
noch immer schlagen die gegner des krieges ihre kinder und die jüngsten versuchen sich mit den imitationen der mordwaffen gegen die aggressionen ihrer pazifistischen väter zu verteidigen. progressive intellektuelle freuen sich über das anwachsen des neurotikerheeres und hoffen auf den gewaltsamen umsturz des repressiven gesellschaftssystems, sie vergessen über der befriedigung die solche fantasie ihrem sadismus bereitet, daß neurotiker auch nach der revolution nicht gesunden sondern auf grund des wiederholungszwanges ihre eigene unterdrückung immerfort reproduzieren. [1] ich kenne genug junge eltern in ehelich sanktionierten kleinfamilien die den schönen vorsatz: „unsere kinder sollen es besser haben als wir“, so konsequent tradieren, daß sie ihre kinder zur promiskuität erziehen wollen.
kinder spielen neue formen der unterdrückung, zertrampeln ein klavier um sich und ihren eltern freiheit zu beweisen, die in wahrheit verzweiflung, wut oder resignation heißt. auch in antiautoritären kindergärten gibt es 4jährige deren potentielle greisenhaftigkeit kaum durch die bewegungen ihrer kindlichen körper überdeckt wird.
wo können wir aus dem kreislauf aussteigen der eltern dazu zwingt aus dem ihrer neurose dienlichsten das beste für ihre kinder zu machen?. [2]
der glaube an die ausbruchsmöglichkeit für unsere kinder ohne daß wir mitausbrechen wird widerlegt durch kenntnisse über das funktionieren der frühesten lernprozesse und über die art wie sich das kleinkind verhaltensweisen aneignet die es später kaum mehr aufgibt.
nur durch die veränderung des bewußtseins der erzieher, ihrer daraus resultierenden neuartigen organisation zur befriedigung ihrer tatsächlichen bedürfnisse, [3] also ihres praktischen aussteigens aus den erfahrungs- und verhaltensclichés in die die fortgeschrittene industriegesellschaft die individuen preßt — nur dadurch wird den kindern eine neue ausgangsbasis geschaffen.
II.
WIR müssen lieben lernen
WIR müssen lieben lernen
liebe und gewalt sind polare gegensätze. pädagogisch formuliert: liebe sucht den anderen in seiner andersartigkeit zu erfassen, zielt auf bewahrung und förderung, entwicklung seiner fähigkeiten und möglichkeiten, auf erziehung zur autonomen persönlichkeit ab. gewalt meistens als liebe getarnt vernichtet den anderen in seiner substanz, saugt ihn auf, macht ihn abhängig und hilflos. [4]
kinder verzichten aus angst vor der aggressivität des erziehers auf das ausleben ihrer eigenen in ihrem wunsch nach triebbefriedigung implizierten aggressivität. [5] sie introjizieren die verbote und ansprüche des erwachsenen und identifizieren sich mit seiner aggression welche sie gegen sich selbst richten: die aggression des gewissens konserviert die aggression der autorität. [6]
die strenge und starrheit des über-ich hängt also von der intensität des kindlichen triebanspruchs und von der härte oder toleranz der erziehungsmaßnahmen ab.
der konstitutionelle faktor ist durch verständnisvolle erziehung modifizierbar. unveränderliches erbgut wird allzuoft dort als entschuldigung gebraucht wo in wahrheit erzieherfehler vorliegen. die änderung unseres verhaltens zu kindern in richtung aggressionsverzicht, verzicht auf ausleben rationalisierter sadistischer aggression an wehrlosen erfordert von uns verzicht auf rache an unseren eltern. kinder identifizieren sich auch mit der liebesfähigkeit ihrer erzieher. WIR müssen lieben lernen.
III.
erziehung ist politik
erziehung ist politik
erziehung ist politik und ausklammern der politik aus der erziehung ist auch eine bestimmte form von politik. die idealisten dominieren noch immer und kaum jemand findet sich, der gegen die gefährliche dummheit einer sogenannten neutralen erziehung auftritt, weil die mehrheit noch nicht einmal erkannt hat, daß auch die kleinfamilie eine politische institution ist. das vergesellschaftete individuum kann sich der politischen aktivität nur um den preis entziehen, daß sein desinteresse an politik die herrschende politik reproduziert.
die neutralität von erziehungsmaßnahmen wird zur farce angesichts eines gesellschaftssystems das so liberal ist daß es auch den völkermord toleriert.
unreflektierte antiautoritäre erziehung wie es sie als spiel oder als ernsten versuch gibt erhöht die chancen zur aufrechterhaltung des status quo. der in summerhill erzogene [7] kann sich dem kapitalistischen produktionsprozeß einordnen und wird auf die widersprüche des systems vielleicht nicht neurotisch reagieren. sein reservoir an glücklicher kindheit wird ihn im konkurrenzkampf siegen lassen. neills liberalität wird sich durch seine schüler fortsetzen. der total außengelenkte mensch dessen psychische anpassungsfähigkeit so groß geworden ist, daß er gleiche ruhige befriedigung daraus bezieht seinen posten am maschinengewehr gut auszufüllen wie eine sonstige arbeit zu tun in der er sich nicht widerfindet ist keine illusion mehr.
IV.
vernichtung des menschen im kind
vernichtung des menschen im kind
kinder haben ihre eigene spontane auffassung und vorstellung von realität. erwachsene belächeln diese, doch ihr lachen kaschiert nur eigene unsicherheit und angst. weil sie selbst nie auf eigenen füßen stehen lernten müssen sie jede kritische prüfung ihrer eigenen wirklichkeitsvorstellung meiden. sie erkennen nicht, daß ihre realität an der sie sich orientieren nur der gesellschaftliche realitätsbegriff ist den sie ungeprüft übernehmen. abgestumpft sehen sie nicht die unmenschlichkeit dieser wirklichkeit mit harmlosen atomaren niederschlägen und der totalen geistigen versklavung ihrer anhänger. [8] deswegen bedroht sie die individuelle realitätsauffassung ihrer kinder. sie tun alles um die fantasie und kreativität der kinder so zu vernichten wie sie ihnen vernichtet wurde.
die wirksamste methode kinder zur aufgabe zu zwingen ist als liebe getarnte gewalt. man zeigt kindern wie sehr man sie liebt und verlangt dafür gegenleistungen. drei viertel aller gebote und verbote gegenüber kindern sind irrational begründet, sie entspringen elterlicher angst, rache, gefühlskälte, bequemlichkeit oder tradition. das verbleibende viertel wäre rational begründet, es entspringt dem wissen der eltern um gefahren für das kind also ihrer sachlichen autorität.
der zwang dem kinder ausgesetzt werden, sich bedingungslos an die erwachsenenrealität anpassen zu müssen verhindert die ausbildung von geistigen fähigkeiten wie bewußtheit, spontaneität und intimität die persönlichkeit und autonomie gewährleisten. [9] das leistungsprinzip wird für sie naturgegeben und die machbarkeit anderer, neuer realitätsprinzipien bleibt zu verlachender utopismus.
der versuch einer neuen erziehung beginnt-mit der reflexion über das herrschende realitätsprinzip (leistungsprinzip) und dessen überwindung. lustprinzip und realitätsprinzip müssen in neue beziehung zueinander gesetzt werden. die traditionelle definition von vernunft als gegensatz zur sinnlichkeit, vernunft durch unterdrückung der sinnlichkeit muß der erkenntnis weichen, daß vernunft nicht weiterentwickelt werden kann ohne unsere sinne weiter zu entwickeln, zu sensibilisieren.
die grundsätzliche überprüfung des realitätsprinzips zu dem erzogen werden soll bleibt erste aufgabe des verantwortungsbewußten erziehers.
- peter, 6 Jahre, fertigte diese zeichnungen im rahmen des traditionellen zeichenunterrichtes in der 1. klasse als „freie“ zeichnungen an. sie zeigen anschaulich die stellung des kindes und die rollenverteilung in der kleinfamilie.
V.
verkümmerung des kindes
verkümmerung des kindes
die brutalität des geburtsvorganges in den spitälern der zivilisierten welt findet ihren krassesten ausdruck in der erzwungenen isolierung von mutter und kind. durch willkürlich festgelegte stillzeiten wird das neugeborene der bürgerlichen ordnungsvorstellung unterworfen.
„daheim“ werden die kleinkinder in gestellen befestigt die ihnen die bewegungsfreiheit nehmen, ihren gesichtskreis bis zur verblödung einschränken und sie mit ausnahme weniger autoerotischer handlungen zur völligen passivität zwingen. diese gestelle dienen der bequemlichkeit der eltern, werden von der industrie als luxusartikel angeboten und heißen kinderwägen, gitterbetten, gehschulen usw.
die windeln die die bequemste reinhaltung der kleider, des bettes und der wohnung gewährleisten beschränken das kind in seiner bewegungsfreiheit, es lernt das liegen im warmen kot zu genießen und fixiert sich auf analerotik, die es dann auf grund der rigoros durchgeführten „reinlichkeitserziehung“ um so härter verdrängen muß.
das kind als modepuppe ergötzt infantile erwachsene und lernt sich in kleidern gefallen die freies spielen verunmöglichen.
die möbel und gegenstände der erwachsenen bedrohen die „kleinen“ durch unnütze kostbarkeit und ihr gebrauch ist privileg. das unabsichtliche oder funktionale zerbrechen von solcherart fetischiertem besitztum durch das kind ruft die objektiv unmotivierte wut der erzieher hervor. ihre vergeltungsmaßnahmen lehren das kind rache zu üben. so gibt es die tabuisierung und monopolisierung von gebrauchsgegenständen an die nächsten generationen weiter.
von den unzweckmäßigen und hemmenden inneneinrichtungen und den bunkerartigen häuserfassaden unserer städte wird es an das gleichförmig-stumpfe denken der bewohner immer erinnert und wird angst vor kreativität bekommen.
- amadeus ist genauso alt wie peter. er wurde jedoch weitgehendst frei erzogen und wird von mehreren personen die mit ihm zusammenleben oder in sehr engem kontakt mit ihm stehen unterrichtet. er zeichnete mich mit mehreren futen und schwänzen (1) und fertigte das kleine taschentheater aus papier an (zwei fickende) mit beweglichen figuren.
VI.
befreiung der kindlichen sexualität
befreiung der kindlichen sexualität
daß wir unsere kindheit und besonders unsere kindliche sexualität so konsequent verdrängen mußten hindert uns am spontanen emotionellen zugang zu sexuellen bedürfnissen von kindern. immerhin gibt es noch erwachsene die sich erinnern können als kind onaniert zu haben (und daß sie das schön fanden), oder erinnern können an die sexuelle erregung die sie bei zärtlichkeiten von ihren eltern empfanden.
aber im großen gesehen bleibt uns als weg zur normalisierung unserer erotischen bezüge hauptsächlich die intellektuelle erfassung und bewußte korrektur. sexualpublizisten retten sich meist in „korrekte wissenschaftlichkeit“ die ihre relevanz für aktive verhaltensänderung der leser oft nur aus der quantitätsforderung von statistiken bezieht. andere (giese, kolle) verschleiern die wirkliche sexualitätsentwicklung und verewigen die repressive entsublimierung. [10] sie mystifizieren unterdrückung in ihrem wandel und die tatsache, daß die partielle befreiung bisher unterdrückter triebe nur um den preis von perfekteren totalitären lenkungen und kontrollen gestattet wird.
zweifellos gewährleistet nur die befreiung der sexualität der erwachsenen die befreiung der kindersexualität.
„revolutionäre“ erzieher wollen sexuelles selbstverständnis „anerziehen“. kinder registrieren jedoch die unbewußten ängste der erwachsenen genau und antworten darauf: ein erzieher mit verdrängten onanieängsten wird auch durch äußerliche bejahung der onanie des kindes dieses nicht davon abhalten können, daß es sich mit den ängsten eines solchen erwachsenen identifiziert.
jeder erziehungsversuch der unbewußte transaktionen zwischen erzieher und kind nicht berücksichtigt muß an der praxis scheitern.
auch der antiautoritäre kindergarten ist keine wirksame alternative, wenn die kleinfamilie nicht auch aufgehoben wird. selbst in kindlichen sexualspielen kann noch die perverse sensationslüsternheit ihrer umwelt impliziert sein.
da kinder ihre sexuellen bedürfnisse nicht nur untereinander befriedigen sondern auch und anfänglich überhaupt nur mit erwachsenen, hängt von deren verhalten weitestgehend die sexualentwicklung der kinder ab. kinder die mit sexuell freien erziehern zusammen aufwachsen, können nicht „verführt“ werden, weil sie ihre bedürfnisse selbst äußern und nicht verdrängen müssen.
wir kennen die bedeutung der freien entwicklung der partialtriebe für die spätere genitalentwicklung und die charakterbildung. [11] die weiterexistenz der repressiven systeme wird schon durch die unterdrückung und manipulation dieser triebe gewährleistet.
die pedantische ordentlichkeit von analfixierten hält die bürokratien am leben.
allzufrühe entwöhnung von der brust und mangelnder emotioneller kontakt läßt babies resignieren. sie werden zu abhängigen objekten mit einem minimum an subjektiver freiheit das ihre ausbeutbarkeit sichert. sie werden die aggressionen die aus ihrer permanenten frustration entstehen in ihren unterdrückern nützliche bahnen ablassen und ihre versklavung weiter verinnerlichen.
entwicklungshemmende fixierungen von kindern an eltern können wirksam ausgeschaltet werden wenn die eltern nicht aneinander fixiert sind. kinder identifizieren sich auch mit der freiheit ihrer erzieher.
wenn der aberglaube von mütterlichen, freundschaftlichen oder sonstigen liebesbeziehungen ohne sexualität aufgegeben wird zugunsten der erkenntnis von der einen erotischen energie (libido) die dann verschiedenen veränderungen (ökonomische, moralische usw.) unterworfen wird; wenn unsere sexualbeziehungen als größtenteils konstruierte gesellschaftliche spiele erkannt werden ergeben sich reale möglichkeiten zur aktiven verhaltensänderung.
die legitimität von sexualbeziehungen zu kindern ergibt sich durch die berücksichtigung der speziellen entwicklungsstufe des kindlichen partners (z.b. der berücksichtigung der partialtriebe).
VII.
erziehung zur unsittlichkeit
erziehung zur unsittlichkeit
schon kleinkinder werden in das kulturelle selbstverständnis des konkurrenzkampfes [12] gepreßt: lernen braver zu sein „als das kind dort“. an unseren schulen gewöhnen sich kinder an die diffamierung von wehrlosen andersartigen, bald beziehen sie mehr passive lust aus der identifikation mit ihren unterdrückern als aus der organisation mit schwächeren gegen diese.
solch grausamer erfolgsgewinn aus dem versagen anderer ist indianern fremd: [13] ihre kulturen basieren auf gegenseitiger hilfeleistung, nicht auf dem wettstreit eines jeden gegen jeden.
bei uns werden in jeder klasse die chancen für den gewinn der konkurrenz sorgfältig abgewogen: die frau heiratet den mann mit der besten zukunft. der kampf- und leistungssport ist ein krasses symptom unserer kultur: nicht die aktion zählt sondern die hundertstelsekunden des vorsprungs vor den anderen. offene augen vor dem fernsehschirm ersparen das studium wissenschaftlicher analysen und statistiken über die entstehung von magengeschwüren. [14] geborgenheit heißt der traum hartgesottenster geschäftsleute. möge der beste gewinnen.
VIII.
einsamkeit durch monopolisierte liebe
einsamkeit durch monopolisierte liebe
nicht die vermassung ist unser problem sondern die vereinsamung, die verödung menschlicher beziehungen. die probleme des einzelnen müssen als die probleme aller erkannt werden: es gibt keinen freien menschen in einer unfreien gesellschaft. erst wenn aus wohngemeinschaften kommunen erarbeitet werden zeigen sich auswege. politik ist nicht die frage wer zu wählen sei sondern wie zu leben sei. die aufhebung der begriffe tante und onkel impliziert auch die aufhebung der alten begriffe mutter und vater. das ende der monopolisierung von liebe ist der anfang echter zwischenmenschlicher beziehungen.
[1] h. e. richter, psychotherapie und soziale wirklichkeit in: patient familie/rowohlt 1970
[2] h. e. richter, eltern, kind, neurose/rowohlt 1969
[3] h. marcuse, versuch über die befreiung/suhrkamp 1969
[4] r. laing, phänomenologie der erfahrung/suhrkamp 1969
[5] m. klein, psychoanalyse des kindes/internat. psychoanalt. verlag 1932
[6] s. freud, das unbehagen in der kultur/fischer 1953
[7] a. s. neill, antiautoritäre erziehung/rowohlt 1969
[8] h. marcuse, der eindimensionale mensch/luchterhand 1967
[9] e. berne, spiele der erwachsenen/rowohlt 1967
[10] r. reiche, sexualität und klassenkampf/neue kritik
[11] e. erikson, kindheit und gesellschaft/klett 1967. r. spitz, vom säugling zum kleinkind/klett 1967. s. freud, drei abhandlungen zur sexualtheorie/fischer
[12] a. plack, die gesellschaft und das böse/list 1968
[13] m. mead, geschlecht und temperament in primitiven gesellschaften/hamburg 1959.
b. malinowski, geschelcht und verdrängung in primitiven gesellschaften/rororo 1962
[14] a. mitscherlich, krankheit als konflikt/suhrkamp 1967
