FORVM, No. 203/II
November
1970

Kino als revolutionäre Anstalt

Das Buch ist träge, es wirkt auf den, der es aufschlägt, aber es schlägt sich nicht selber auf ... Die wahren Quellen, über die wir verfügen, um das mögliche Publikum zu erobern, sind: Zeitung, Rundfunk, Kino ... es gibt eine literarische Kunst des Rundfunks und des Films, des Leitartikels und der Reportage. Man braucht nicht vulgär zu werden: das Kino spricht, seinem Wesen nach, die Massen an ... Wir sind erst mit einem Bein darin: Wir müssen lernen, in Bildern zu sprechen ...

So spricht Sartre 1947. Seither ist das zweite Bein noch immer ausständig, und der Optimismus ist gedämpft. Zwar gibt es unterdessen „literarische“ Filmhersteller, etwa Bergman, der auf dem bürgerlichen Bildungsgut einschließlich der moderneren Literatur aufbaut, oder Antonioni, der nicht zufällig einen Roman von Cesare Pavese verfilmt hat.

So groß jedoch die Freude des Bücherlesers ist, im Kino filmische Novellen zu entdecken, so wenig gelingt es dieser „literarischen“ Filmkunst, die „Massen“ anzusprechen: die „Masse“ fühlt sich, sofern sie sich in derartige Filme verirrt, im Gegenteil gefoppt und verläßt das Kino fluchend und mit den Klappsesseln donnernd — am meisten dann, wenn man sie, wie bei Bergmans „Schweigen“ oder dem verfilmten „Ulysses“, mit dem Versprechen „gewagter Darstellungen“ eingefangen hat. So vertiefen die Kunstfilme mit der Verständnislosigkeit nur die Kluft zwischen den „Studierten“ und den „Massen“ und liefern der latenten Wut dieser auf jene zusätzliche Nahrung. Werden umgekehrt in einem gemeinen Pornofilm wie dem „Ausschweifenden Leben des Marquis de Sade“ die matten Orgien immerfort durch dummes „Philosophieren“ behindert (Marke „Was ist Wirklichkeit? Alles ist Einbildung!“), so ist die Überzeugung der „Massen“ komplett: Bildung ist der größte Spaßverderber und der Gebildete ein perverser Snob.

Mit der zunehmenden politischen Aufklärung der „Gebildeten“ sind die Anstrengungen intensiviert worden, filmisch wirklich an die „Massen“ heranzukommen. Manche Filme der Nouvelle vague und die Subversion des Western zum Italowestern boten Anleitungen. Also wird neuerdings versucht, Informationen und Analysen, die in den eigentlichen Informationskanälen blockiert werden, auf dem Weg des schönen Scheins als Spielfilm an die Massen heranzuschwindeln. Bei „Z“ war diese Taktik ein Erfolg — aber doch nur, weil im Fall der griechischen Militärdiktatur das Publikum durch die antipathisierende Berichterstattung der anderen Medien schon vorgewärmt war.

Wo das nicht so ist, wie im Fall des Vietnamkrieges, hat es ein Film wie Pontecorvos „Queimada“ schwer, seine Aussage an den Mann zu bringen: Kritik und Publikum sehen einen historischen Abenteuerfilm, ohne die gemeinte Parabel vom Neokolonialismus mitzukriegen. So wiederholt sich das Dilemma: es ist dem Kino allein ebenso unmöglich, politisch aufzuklären wie kulturell zu bilden. Um die Vergegenständlichung sozialer Zusammenhänge als solche zu erkennen, statt sie für „typische Einzelschicksale“ zu halten, muß das Publikum die Zusammenhänge wenigstens schon ahnen.

Bei dem Film „Leo der Letzte“ (Regie John Boorman) ist der Unverstand der hiesigen Filmkritik durch nichts zu entschuldigen: das „Negerproblem“ brennt uns so mittelbar auf der Haut, daß darüber genug unverzerrte Information vorliegt. Aber man freute sich an Marcello Mastroiannis angeblicher Schauspielkunst, ohne sehen zu können, daß sein schlapper Adeliger eine Personifikation des abendländischen Humanismus sein soll, so wie diesen Frantz Fanon in den „Verdammten der Erde“ dargestellt hat: als überalterte Herrschaftsideologie der weißen Kolonialvölker. Während Leo der Letzte aus den oberen Fenstern seiner Luxusvilla mit dem Fernrohr der wertfreien Wissenschaft das Treiben der Vögel verfolgt, schwingen im Keller, im „Unterbau“ also, dicke Männer große Reden von vergangenen Schlachten und legen ein Waffenlager an; Anführer des Geheimbundes ist Leos Sekretär, der auch den Gewinn aus den umliegenden Slums einsteckt. Leo, dem nolens volens immer wieder die schwarzen Slumbewohner ins terrestrische Fernrohr kommen, durchschaut langsam die Zusammenhänge: sein Luxus lebt vom Elend der Farbigen. Voll Freude entdeckt er in seinem gelangweilten Organismus ein Gefühl: Mitgefühl.

Sein erster Versuch zu helfen ist, wie die sogenannte „Entwicklungshilfe“, eine Katastrophe: der mit Essen beschenkte Neger stirbt an der unsachgemäßen Nahrung. Schließlich marschiert Leo an der Spitze der Slumbewohner gegen sein eigenes Haus, das der Geheimbund selbstmörderisch in die Luft jagt; dadurch wird aus der Sackgasse eine Gasse: das Hindernis, die Luxusvilla, ist ein Trümmerhaufen, hinter dem neuer Raum zu sehen ist. Der Freiheit eine Gasse: befriedigt stellt Leo fest, daß seine Sackgasse jetzt besser aussieht. Darin sah die Filmkritik die Bankrotterklärung jeder umfassenden Veränderung: daß mit der Gasse parabolisch ein Teil der Welt gemeint war, sah sie nicht. Und daß dieser Film die Mechanik der Ausbeutung in den Slums und der dritten Welt in typisierter Form so augenfällig macht, daß er fast ein Pflichtfilm für den zeitgeschichtlichen Unterricht ist, sah sie auch nicht. Man wollte noch ein Kunstwerk sehen und wurde enttäuscht.

Was das betrifft, ist man bei Godard schon gewarnt. In „Weekend“ schildert er das Verkehrschaos; es hat in diesem Zukunftsfilm ein apokalyptisches Maß erreicht: zwischen blutüberströmten Autowracks und Leichen richten sich gestockte Kolonnen zum Leben auf der Straße ein. Dem Verkehrschaos entspricht ein Geschlechtsverkehrs- und Kommunikationschaos. Haß und Wut sind total: jeder gegen jeden. Über das Land, dem Stadtbewohner Synonym für Freizeit und Urlaub, ziehen militante Hippiebanden, die auch den Kannibalismus nicht verschmähen. Ihre „Gegenkultur“ symbolisiert Godard mit einem Schlagzeuger im Wald, am Ufer eines algenbedeckten Teiches; eine Stimme besingt das Meer, der Schlagzeuger spielt nicht sehr gut. Was auch sonst noch aus dem abendländischen Kulturschatz hervorgekramt wird: es riecht nach Mottenpulver.

Den Reichtum, die explosive Hitze und die alarmierend pathologische Intensität der farbigen und Hip-Gegenkultur dokumentiert „Woodstock“. Der immense Gegendruck, den die schwarzen und weißen Minoritäten Amerikas der Repression entgegensetzen müssen, detoniert hier als eine Kette vorerst nur ästhetisch-emotionaler Befreiungen. Die Anordnung der Kinositze ist dabei ein fast unerträgliches Hemmnis: Unter dieser platzenden Leinwand müßte man laufen und tanzen können. — Unwillkürlich zeigt der Film auch, wie sehr die Hippiekultur parasitär ist, nicht autonom, eine reine Konsumentenkultur: Ausgerechnet das Militär muß für ärztliche Betreuung sorgen und die Klosettanlagen aufbauen und ausleeren; die jungen „drop-outs“ telephonieren mit Papa und Mama und beruhigen sie: Es geht uns gut. Woodstock war zwar, wie immer betont wird, für die Dauer des Festivals wirklich eine eigene Großstadt ohne „power structure“ — aber ihre „Einwohner“ konsumierten nur; sie produzierten nichts.

Antonioni macht aus der amerikanischen Studentenrevolte einen künstlerischen Film. Eine Handlung, so klischeehaft wie ein Plakat, dient ihm als Aufhänger für schöne Bilder: Die Umarmung der zwei jungen Hübschen vervielfältigt sich, in der Wüste von „Zabriskie Point“ blühen auf einmal überall Körper. Amerika erscheint mit den Augen des Ausländers wie auf einem anderen Stern, die behelmten Polizisten wie Marsmenschen, Landschaften und Städte schrecklich schön. Am Ende ergießt sich die Geschichte in eine der für Antonioni typischen langen Schlußsequenzen, die wie eine musikalische Coda die Stimmung des Films zusammenfassen und krönen: Unter dem haßerfüllten Blick des Mädchens, dem die Polizei den Freund erschossen hat, explodiert minutenlang das Traumhaus des American Dream zu kongenialer Beatmusik. In diesem Bild findet das derzeitige Image der Jugendrevolte vollendeten Ausdruck: ihre Ohnmacht, ihre emotionale Intensität und der daraus resultierende extreme Voluntarismus: der Haß gegen das „System“ kann sich nur im Traum, im Rausch, in der Musik entladen, und dort ist das System schon tausendmal explodiert. Aber realisieren kann sich der Haß noch nicht. Für den Voluntarismus verschwimmen bei dieser Intensität die Grenzen von Traum und Wirklichkeit. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg — aber der muß erst gefunden werden, und zwar nüchtern.

Jedenfalls beginnt die „Revolution“ mit der Zeit für die Kinoindustrie „gesellschaftsfähig“ zu werden: als schöner Schein bringt sie große Scheine. Es wird also in zunehmendem Maß möglich sein, im Kino Information bildhaft dargestellt zu sehen, die man sonst nur aus Büchern oder Zeitschriften mit kleiner Auflage gewinnen konnte. Insofern könnte hier wirklich ein „literarisches“ Kino im Sinn Sartres entstehen, das dennoch ein breites Publikum erreicht. Das hängt sicher damit zusammen, daß dem Kino „erlaubt“ wird, progressiver und heikler zu werden, da es sich relativ zum TV in einem ähnlichen Rückzug befindet wie früher die Kulturmedien Buch und Theater vor dem neuen Massenmedium Film; innerhalb des Systems ist größere politische Ohnmacht der Preis für größere ästhetische Freiheit. Es ist nur die Frage, ob die repressive Toleranz der Unterhaltungsindustrie, die ja wegen der Unfruchtbarkeit der Konservativen auf „revolutionäre“ Themata mehr und mehr angewiesen ist, wirklich so total sein kann, daß der in der schönen Form da und dort listig versteckte Inhalt nicht doch mit der Zeit ankommt. Steter Tropfen höhlt den Stein, und der Krug geht solang ins Kino, bis er bricht.

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