MOZ, Nummer 51
April
1990
Zwei Optionen für Osteuropa:

Kolonie oder demokratischer Sozialismus

Ende der siebziger Jahre geriet das System der bürokratisch-zentralisierten Wirtschaft in der UdSSR und in Osteuropa in eine strukturelle Systemkrise. Die Wachstumsraten sanken mehr und mehr. Der grundlegende politische Kurs der Nomenklatura seit Stalins Tod bestand darin, gleichzeitig die weitere Modernisierung dieser Wirtschaften, den Rüstungswettlauf mit den USA und eine dauernde, wenn auch gemäßigte Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung zu erreichen. Bei Wachstumsraten, die unter 3,5% sinken, ist dies nicht mehr möglich. Deshalb der Druck in Richtung auf radikale Reformen des Systems.

Im Osten wie im Westen hat man oft versucht, die Gründe dieser Systemkrise in seiner Unfähigkeit der Konversion vom ‚extensiven‘ zum ‚intensiven‘ Wachstum zu entdecken. Dies stimmt insofern, als das Verschwinden von Reserven Wachstum ohne genaue Berechnung von Wirtschafts- und Sozialkosten im steigenden Maße irrational macht.

Will man jedoch die tieferen Gründe der Systemkrise aufdecken, so muß man sie nicht in der ‚Logik‘ der zentralen Planung, sondern auch in der hybriden Natur der Sowjetwirtschaft suchen: die wachsende Verfilzung von zentraler Zuteilungswirtschaft, verwaltet durch die Bürokratie und zugunsten der Bürokratie einerseits und das wachsende Gewicht von Geld- und Warenbeziehungen (bei sehr ungleicher Verteilung von Geldvermögen) andererseits. Diese hybride Kombination, abgestützt durch ein „Zwei-Preisklassen-System“, ist ihrerseits verbunden mit riesigen langfristigen Disproportionen vor allem auf Kosten der Landwirtschaft, der Leichtindustrie, der Dienstleistungen, der sozialen Infrastruktur.

Das alles hat nichts mit irgend einem „Versagen der Planwirtschaft“ an und für sich zu tun. Im Gegenteil: man könnte paradoxerweise die These verteidigen, daß die Sowjetwirtschaft an zu wenig und nicht an zu viel Planung krankt, allerdings an zu wenig proportioneller, harmonischer, die Verantwortung des Einzelnen und der Werktätigen stimulierender Planung. Und das kann nur eine Planung sein, die sich auf gestaffelte Arbeiterselbstverwaltung, auf pluralistische politische Demokratie und auf bedeutsame Kontrolle durch den Markt stützt.

Sozialismus ist möglich, aber unsicher

Wohin führen die Gorbatschowschen Reformen? Wiederum muß man die wichtigsten widersprüchlichen gesellschaftlichen Kräfte bei der Beantwortung dieser Frage berücksichtigen. Wir sehen grundlegend drei solcher Kräfte, was mittel- und langfristig zu drei verschiedenen Ergebnissen des Reformprozesses führen könnte. Die Nomenklatura will im großen und ganzen ihre Macht und ihre Privilegien behalten. Das bedeutet keineswegs eine Absage an wachsende Benützung marktwirtschaftlicher Mechanismen, aber es beinhaltet eine scharfe Begrenzung der politischen Demokratie (der Glasnost).

Die Klein- und Mittelbourgeoisie, zu der sich bestimmte Minderheitssektoren der Nomenklatura gesellen, orientiert sich auf völlige Integration in den Weltmarkt sowie auf wachsende Verfilzung mit dem internationalen Kapital. Das könnte zu einer Restauration des Kapitalismus führen. Diese Bourgeoisie ist bereit, dafür einen hohen Preis zu zahlen: Massenerwerbslosigkeit.

Mit Ausnahme der DDR, der CSSR und vor allem der UdSSR (nicht jedoch der Sowjetrepubliken, die sich aus der Union herauslösen würden), bedeutet ein solcher Kurs letzten Endes eine Rückkehr zur Wirtschaftsstruktur von vor 1940, d.h. zur Struktur einer Halbkolonie. Am Ende steht nicht Schweden, sondern die Türkei.

Die ArbeiterInnen/Angestellten und ein Teil der werktätigen Bauern werden auf die Dauer nicht bereit sein, diesen Preis zu zahlen. Es wird zu wachsendem Massenwiderstand, Demonstrationen, Streiks und sogar Massenexplosionen kommen. Nur wenn sie in diesen Kämpfen eine vernichtende Niederlage erleiden, wäre eine Restauration möglich.

Dies entspricht nicht irgend einer ideologischen Option gegen oder für „Marktwirtschaft“, gegen oder für „Planwirtschaft“, gegen oder für „Gemeineigentum“. Es entspricht einer Verteidigung elementarer Sofortinteressen.

Die Zukunft dieser Gesellschaften, vor allem jener der UdSSR, hängt letzten Endes davon ab, ob sich, ausgehend vom Wiedererwachen der Selbsttätigkeit der werktätigen Massen, ein alternatives Gesellschaftsmodell (Sozialismusprojekt) herausschälen kann. Das ist von vornherein weder gewährleistet noch unmöglich.

Die stalinistische und nachstalinistische Diktatur hat den Begriff „Sozialismus“ bei den Massen zutiefst diskreditiert. Heute ergibt dies ein ‚Weltbild‘, das den in den reicheren kapitalistischen Ländern erreichten Lebensstandard anziehend macht und den Kapitalismus als solchen idealisiert. Aber indem man hüben und drüben immer wieder den unwissenschaftlichen Begriff „soziale Marktwirtschaft“ strapaziert, spricht man im Grunde genommen aus, daß der „real existierende Kapitalismus“ keineswegs so ideal ist, wie es seine dogmatischen neoliberal-neokonservativen Apologeten behaupten.

Der „real existierende Kapitalismus“ beinhaltet nicht nur die von der Arbeiterbewegung eroberten Sozialrechte und Sozialleistungen etwa Schwedens, Österreichs oder der BRD. Er steht gleichzeitig auch für die Massenerwerbslosigkeit, die sich bei der nächsten Rezession in den ‚reichen‘ Ländern der 50-Millionen-Grenze nähern wird. „Real existierender Kapitalismus“ bedeutet auch im kapitalistischen Teil Europas eine „duale Gesellschaft“, d.h. ein Anwachsen des nicht mehr sozial gestützten Teils der Lohnabhängigen. Und er beinhaltet vor allem das fürchterliche Elend der „Dritten Welt“.

Der kapitalistischen Marktwirtschaft ist es nicht gelungen, dieses Übel zu überwinden. Nur wenn die Völker Osteuropas und der UdSSR dieses aus eigener Erfahrung lernen, dann wird der Weg zur echten Alternative, zum demokratischen, selbstverwalteten, bewußt planenden Sozialismus frei.

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