FORVM, No. 311/312
November
1979

Konsum frißt Arbeiter

Soziologie der Budapester Autobusfabrik Ikarus

Der „reale Sozialismus“ in Osteuropa hat viel mit dem realen Kapitalismus des Westens gemein: Akkord, Leistungsstreben, Statusdenken, Nebenarbeit, Schrebergärtnerei, Fernsehabschlaffung. Die jüngeren Soziologen der Budapester Schule gehen in die Fabrik und entdecken dort diese Übereinstimmung, die der Staatsräson so eklatant widerspricht. [1]

Zsille Zoltan, 36, der mit Frau und Kind in einer Zweizimmerwohnung in einem Budapester Wohnsilo lebt, ist einer von ihnen. Seine Aufsätze werden in Ungarn nicht mehr gedruckt. Er schreibt, daß er im Zuge seiner Untersuchung in der großen Budapester Autobusfabrik Ikarus mit manchen der Arbeiter gut Freund geworden ist. Andere haben ihn mit demselben Mißtrauen behandelt, wie im Westen die Arbeiter linken Soziologen gegenübertreten: als gehörte er zu „denen da oben“.

Wir haben die Aussprüche der Arbeiter in Kursiv gesetzt. Aus Platzgründen ist der Essay auf die Hälfte gekürzt.

Das Denken auf der Leiter

Ich kenn keinen, der seine Kinder nicht auf die Schule schicken will. Ich mache Überstunden, und alles nur, daß meine Kinder nicht auch Malocher werden müssen wie ich. So denken heut alle ... so sieht’s aus. Wer kommt denn schon noch zu uns ? Die hier lernen, die ham schon in der Schule bloß Dreier und Vierer gehabt oder noch schlechter. Bringt einer Dreier heim, sagt ihm sein Vater: Lern, Kind, geh auf die Schule. Ich selbst sag auch: Willst du vielleicht einmal im blauen Anton rumlaufen und an der Drehbank stehen? So versteht er’s vielleicht. Was ein Dreher ist, weiß er ja nicht.

Statusdenken und Hierarchiefrömmigkeit sind innerhalb der ungarischen Arbeiterschaft vorläufig noch die Ausnahme, aber sie breiten sich immer mehr aus. Die von der Mittelschicht geschaffenen, von den Massenmedien unterschwellig an den Mann gebrachten Erfolgsmodelle gewinnen spürbar an Boden. Sie verändern die Beziehungen innerhalb der Familie und das Klima der Kindererziehung.

So finden wir neben konformem Verhalten am Arbeitsplatz und im öffentlichen Leben eine verstärkte Tendenz zum Rückzug ins Privatleben. Privatisieren, Absonderung und Konkurrenz nehmen zu, beanspruchen den Raum der traditionellen Ideale der Arbeitersolidarität. Hinter einer Phraseologie sozialistischer Normen und Prinzipien verdeckt, wird die Verwirklichung solcher Lebensmodelle und Verhaltensmuster möglich.

Gleichberechtigung heißt hier, daß jeder, vom Direktor bis zum Hilfsarbeiter, Teil der hierarchischen Rangfolge ist, Untergebener und Vorgesetzter in einer Person, jeder nicht nur eine Arbeit hat, sondern klassifiziert ist. Eine Folge dieser hierarchischen Mentalität ist, daß der Arbeiter sein Zuhause, seine Lebensumstände an denen seines Vorgesetzten bzw. Untergebenen mißt. Sein Selbstbewußtsein ist Resultat des Wissens um die große Zahl der Leute, die unter ihm angesiedelt sind. Seine Hoffnungen richten sich darauf, daß er mit seinem Status seinen Kindern den Aufstieg zum Chef ermöglichen kann.

Viele Arbeiter sehen das maximal erreichbare Ziel darin, an ihrem „eigenen Platz“ mit ihrer Zeit so haushalten zu dürfen, wie sie es für richtig halten. Sie arbeiten — ähnlich den Bürokraten — mit den verschiedenen Tricks, machen ihre Arbeit zum „Amtsgeheimnis". Das sichert ihnen Vorteile im Kampf um besseren Lohn und bessere Arbeitsbedingungen, ferner können sie so leichter Verantwortung von sich abwälzen, was mit den neuen Maschinen immer wichtiger wird. Verständliches Ziel des Arbeiters ist es, soviel wie möglich Arbeitskraft einzusparen, um sie entweder für zu Hause aufzusparen oder um sie an seinem Arbeitsplatz für sich aufzubrauchen. Oft geht er in der Werkstatt „selbständiger“ Arbeit nach, für eigene Zwecke ...

Montagehalle in der Budapester Autobusfabrik Ikarus

Do it yourself auf ungarisch

Und dann macht natürlich auch viel aus, daß, wer in der Nähe wohnt, auch mehr verdient. Der hat Zeit. Der kann hier bleiben und Stunden machen. Bei denen, die jeden Morgen reinfahren müssen, da geht das dann halt nicht mehr. Da geht’s halt bloß dann, wenn ein Bus fährt. Wenn da einer bis um 5 dableibt, kann’s ihm passieren, daß er erst so um 10 rum heimkommt.

Es gibt beinahe niemanden, für den die ausschließliche Quelle seines Lebensunterhalts sein Einkommen aus der offiziellen Arbeitszeit ist. Meist wird zusätzliche Arbeit geleistet, die dann aber auch beträchtlich mehr einbringen muß als den firmenüblichen Stundenlohn. Für den Arbeiter wäre es unsinnig, während seiner verbindlichen acht Stunden über die Norm hinaus zu arbeiten, ist doch damit sein Verdienst nur in sehr begrenztem Umfange vermehrbar. Sinnvoll ist für ihn einzig die Sicherung solcher Normen, die es ihm ermöglichen, daß er während dieser Arbeit seine Kräfte schont, um nachher seine Energie auf Überstunden, Nebenverdienst, den kleinen Garten ums Haus sowie auf seine „Hauswirtschaft” verwenden zu können (bei der Hauswirtschaft handelt es sich um das bis zu einem halben Hektar große Stück Land, das den Genossenschaftsmitgliedern zur privaten Nutzung überlassen ist — in Rußland „Hofland" genannt).

Wenn er in Überstunden oder sonntags für genau die gleiche Menge geleisteter Arbeit 30 bis 100 Prozent mehr erhält, geht er natürlich dann in Urlaub, wenn einerseits keine Überstunden in Sicht sind, andererseits aber vielleicht geeignete Witterung herrscht, um im Garten zu arbeiten oder das Haus zu streichen. Natürlich versucht man, was während der ordentlichen Arbeitszeit zu tun ist, so einzurichten, daß Überstunden und Zielprämien notwendig werden. Die Verzögerung der Produktion ist in den Augen des Arbeiters gerechtfertigt.

Stiege sein Lohn im gleichen Verhältnis wie seine Leistung, so würde das Problem dennoch weiterbestehen, solange er für dieses Mehr nicht das kaufen kann, was er jetzt mit seiner zusätzlichen Arbeit herstellt. Dinge, die für ihn, seine Verwandten, manchmal auch seine Nachbarn nur schwer, nach langem Warten oder nur schwarz mit vielen Laufereien weit über dem staatlich festgesetzten Preis erhältlich sind.

Die Pendler aus den Pester Anrainergemeinden, die an den firmeneigenen Bus des Ikarus-Werks gebunden sind, können ihre Lebensmittel lediglich im Laden neben der Fabrik oder in ihrer Gemeinde einkaufen. Dabei verbringen die männlichen Arbeiter ihre Zeit zwischen Schichtschluß und Busabfahrt nur selten mit Einkaufen. Daher ist bei ihnen das Bebauen des Küchengartens, die Tierhaltung nicht einfach etwas Vorgefundenes, Traditionelles, sondern auch eine Notwendigkeit. Je mehr Mühe und Kosten mit Besorgungen verbunden sind, desto eher zahlt sich die Naturalwirtschaft aus, zumal sich deren Nutzen noch dadurch steigern läßt, daß die Alten und die Kinder mitarbeiten.

Bei solchen noch stark bäuerlichen Familien wird Nichtstun oder Lesen in der Freizeit als Prasserei verurteilt. Jedes Stückchen brachliegenden Landes, sei es auch noch so klein, wird genutzt. So arbeiten viele der pendelnden Arbeiter wochentags zwei bis vier Stunden, dazu jedes Wochenende, jeden Feiertag, ja sogar im Urlaub, auf ihren 20 bis 30 Ar (manchmal bis zu einem halben Hektar), bauen Obst und Gemüse an, halten Geflügel, mästen ein bis zwei Schweine. In diesem Zweitberuf leisten die Arbeiter oft mehr als an ihrem Arbeitsplatz. Kein Wunder also, daß sie in der Fabrik für keinerlei kulturelle, fachliche oder politische Bildungsprogramme zu haben sind. Die häufigste und oft einzige Forderung der Arbeiter an die Firma ist ein Sitzplatz im Pendlerbus.

Bei den Arbeitern in den Budapester Vororten Matyasföld und Sashalom finden wir Gärten mit 3 bis 7 Ar. Wir finden viel Wein und Obst. Schweine werden kaum gehalten, häufig Geflügel oder anderes Kleinvieh. Die Produkte werden zum Teil von der Familie verzehrt, zum Teil verkauft. Abnehmer sind meist die Kollegen in der Fabrik.

Landwirtschaftlicher Nebenerwerb lohnt sich um so weniger, je besser die Fachkenntnisse eines Arbeiters sind. Ist sein Stundenlohn hoch und sind seine Beziehungen zum Meister und Abteilungsleiter gut, versucht er sein Einkommen mit gut bezahlten und wenn möglich nicht arbeitsintensiven Überstunden zu steigern. Noch verdienstträchtiger sind „Privatarbeiten“ für Arbeitskollegen, Nachbarn, private Kleingewerbetreibende. Manch ein Facharbeiter der Eisenindustrie hat sich so im Privatstudium zum Universalschlosser-Installateur weitergebildet, kann Aufträge verschiedenster Art erledigen. Wir trafen einen Arbeiter, der an seinem Haus vom Fundament über die Malerarbeiten bis zur elektrischen Installation alles selbst gemacht hatte.

Der Materialbedarf an Zäunen und Toren, Installation von Heizungsanlagen, Metallrahmen für Regale wird dabei vollständig legal mit günstig erworbenem Abfallmaterial der Fabrik abgedeckt. Man schaut, daß der „Ausschuß” auch in der gewünschten Menge anfällt. Die bunten Eisentore und Zäune in Matyasföld und Sashalom sind Abfall von nicht gebauten Ikarus-Autobussen.

Realsozialistisches Großraumbüro: Konstruktionsabteilung der Ikarus-Fabrik

Gemeineigentum durch Diebstahl

Wir ham einen Bauplatz in Arpadföld angeschaut, aber der war arg teuer. Mit den städtischen Sozialwohnungen ... da war sowieso nur für Kinderreiche was drin ... und nicht einmal für die. Man kann halt bloß wohnen, wenn man selbst baut. Bei uns ist dann alles auf einen Schlag passiert — das Haus und das Kind. Das war vielleicht unser Glück, daß wir so das Geld zusammengehalten haben. Na ja, das mußte eben sein.

Der typische Ikarus-Arbeiter ist selbstversorgender Kleineigentümer. Er wohnt im eigenen, mit seiner Hände Arbeit errichteten Haus. Die lnstandhaltung besorgt er selbst, auch die Herstellung und Reparatur der Einrichtung sowie die Bestellung des dazugehörigen Schrebergartens. In der Zeit des Hausbaus verwendet er alles Einkommen und das letzte während der Arbeitszeit eingesparte Quentchen Energie auf seine Arbeiten am Haus.

Jeder kann bestimmte Werkzeuge der Firma für seine Zwecke nutzen, der in der Lage ist, als ihr Eigentümer aufzutreten. Diese Form des Gemeineigentums, die zum Gewohnheitsrecht geworden ist, orientiert sich am hierarchischen Aufbau; allerdings nicht nur an der offiziellen Rangfolge, sondern auch an der Stellung innerhalb der informellen Organisation. Die Arbeiter stellen während oder nach der Arbeitszeit für ihren eigenen Gebrauch mit Maschinen und Werkzeugen der Abteilung aus mitgebrachtem Material oder Abfällen der Fabrik einfache Einrichtungsgegenstände oder Handwerkzeuge her oder reparieren sie. Eine Ecke der Werkhalle oder die Werkbank wird organischer Bestandteil, Zubehör, Reparaturabteilung, Bastelecke des Hauses.

Der selbstversorgende Arbeiter produziert keine Waren für den privaten Verkauf, macht keine größeren Geschäfte, aber er macht in gewisser Weise die Firma zu seinem Zuhause, gleicht sie diesem an. An seinem Arbeitsplatz arbeitet er während vier bis sechs Stunden so, daß er auf sein Geld kommt, in der restlichen Zeit ißt er, ruht sich aus, erledigt Sachen, pflegt Beziehungen, informiert sich und organisiert die Vertretung seiner Interessen.

Mit der Gewährung größerer Bewegungsfreiheit am Arbeitsplatz geht eine gewisse Beschränkung der Möglichkeit umzuziehen Hand in Hand, der Arbeitsplatz wird zum Zuhause, das Zuhause wird zur Dienstwohnung. Für den Teil der acht Stunden, den der Arbeiter für seine eigenen Zwecke abzweigt, muß er mit Freizeit zurückzahlen.

Er hat ein Firmendarlehen in Anspruch genommen, seine Brigade hat ihm beim Bauen geholfen. Jetzt muß er zurückzahlen, Gegenleistungen erbringen. Die Verpflichtung, sich erkenntlich zu zeigen, wird zu einem organischen Bestandteil seines Lebens, zum Programm seiner „Frei“zeit. Im Haus vergegenständlicht sich sein Versuch, sich eine unabhängige Existenz aufzubauen. Er wird überall zum Schuldner: in seinem Haus, das unter der Hand zu einer Kolonie der Firma geworden ist, wie auch an seinem Arbeitsplatz, aus dessen Bannkreis er sich nun nicht mehr lösen kann.

Ob der Arbeiter nun Funktionär oder innerbetrieblicher Privatunternehmer wird — er tilgt so oder so eine „Schuld", bleibt immer Gefangener des komplizierten Netzes hierarchischer und kollegialer Abhängigkeiten. Der selbstversorgende Kleineigentümer ist also nicht wirklich selbstversorgend und auch nicht wirklich unabhängig. Er hängt auf jeden Fall von der Firma ab und kann diese Abhängigkeit nur in dem Maße abbauen, wie sein Kleineigentum wächst, eventuell mit Hilfe der Familie.

ln den letzten 10 bis 15 Jahren wurde durch den Bau von Wohnsiedlungen die großstädtische Lebensweise zunehmend attraktiv Das bedeutet die Aufgabe der Illusion, durch das Eigenheim unabhängig werden zu können. Bezieht man eine Firmenwohnung, begibt man sich bewußt und vollständig in die Abhängigkeit von der Firma.

Beide Arten der Abhängigkeit werden vom Arbeiter als widersprüchlich erlebt. Auf der einen Seite betont er seine Arriviertheit, seine gesicherte Position, seine Aufstiegsmöglichkeiten, auf der anderen Seite empfindet er die alltägliche monotone Fabrikarbeit und die nie enden wollenden häuslichen Tätigkeiten, die er sich eingehandelt hat, als Hemmschuh, als ausweglose Einförmigkeit.

Das Dorf in der Stadt

Das ist wahr. Damals war’s noch schwer auf’m Land draußen. Wer ein bißchen was im Kopf gehabt hat, probierte wegzukommen von der Landwirtschaft. Wenn die das Volk nicht so an der Nase herumgeführt hätten, wäre ich vielleicht auch schon nicht mehr da. Wo sie einmal einem 56jährigen Bauern die Scheune abgeräumt haben, da ham dem seine Kinder auch nicht mehr viel Lust, sich um die Pferde zu kümmern, zu hacken und zu ackern.

Die heute Arbeitenden stammen in ihrer Mehrzahl vom Land. Anfangs war die Lebensstrategie dieser Gruppe bloße Überlebensstrategie, die Strategie der Landflucht; Bloß weg von da! Im Leben dieser Nachfahren von Bauern, die ein für allemal aus dem Vas- oder Szabolcsdistrikt in die Ikarus-Siedlungen nach Matyasföld, Sashalom, Rakosfalva, Cinkota emigrierten, eine „trottende Arbeiterbewegung“, die sich täglich in die Stadt und wieder zurück quälen muß, spielen diese Traditionen weiterhin eine Rolle, ein verkümmertes Bauerntum im ständigen Widerspruch zu ihrer sonstigen Lebensweise. Lange Zeit sind sie gezwungen, wie Gastarbeiter zu leben: Sie müssen ihre ganze Arbeit, ihr ganzes Einkommen auf die Schaffung und Erhaltung ihrer Existenz verwenden.

Die einheimischen, bereits hier geborenen Pendler haben einen gewissen „Heimvorteil“. Sie erben vielleicht Haus und Garten, bauen an das Haus ihrer Eltern an, wohnen während ihres Hausbaus kostenlos. Häufig können sie auf dem Dorf auch billiger ein Grundstück kaufen und ein Haus bauen als in der Stadt wohnen. Die zu Hause gebliebene Frau kann sich neben dem Kind, das immer Mehrausgaben und Einkommensverlust bedeutet, mit Viehhaltung und dem Garten beschäftigen und so die gestiegenen Lasten der Familie vermindern helfen.

Auf der einen Seite haben wir die Gastarbeiter, welche auch weiterhin fremd bleiben, die wahrscheinlich für ein ganzes Leben an dörfliche Umgebung fixiert bleiben, die mit dem Betrieb nur während der Arbeitszeit in Berührung kommen, die weder in der Fabrik noch in der Stadt heimisch werden, die nicht fähig sind, sich deren Sprache anzueignen, die uninformiert bleiben.

Auf der anderen Seite stehen die Mutigen, die sich auf fremdem Grund festgeklammert haben, sich eine Existenz aufbauen und bei all dem Lehrgeld, das sie zu zahlen haben, sich städtische Geriebenheit und Routine, Selbstbewußtsein und Ausdauer aneignen und so zum ortsansässigen Bürger, zum Stadtbürger werden, in eine höhere Schicht aufsteigen. Sie verschaffen sich Beziehungen, durch die sie Vorteile, Privilegien und Schutz in der Produktionssphäre gewinnen, während sie gleichzeitig ans örtliche politische Leben Anschluß finden, sei es, um in der Arbeiterhierarchie aufzusteigen und sich so größere Unabhängigkeit zu verschaffen, sei es, um in der Verwaltungshierarchie höherzuklimmen.

Die Arbeiter bäuerlicher Abstammung, die wir bei Ikarus kennengelernt haben, haben ihre Laufbahn in Stadt und Industrie wegen der knapper werdenden landwirtschaftlichen und dörflichen Lebensmöglichkeiten eingeschlagen. Sie haben nicht gewählt, es war ihr Schicksal, das man aus historischem Abstand auch schon wieder als Glück betrachten kann. Noch leben in ihnen nostalgische Gefühle, sie wiederholen die Allgemeinplätze der öffentlichen Propaganda über das Dorf, den höheren Lebensstandard der „Bauern“.

Bei den wirklichen Bauern wird für die gleiche Arbeitszeit weniger Lohn bezahlt, die Arbeitszeit ist länger, mit steigender Entfernung nehmen die soziale Unterstützung, der Gesundheits- und Rechtsschutz, die wirksame politische Vertretung ab. Die Industrialisierung geschah so, daß die Arbeiter selbst dabei wieder verbauerten: was den Ort betrifft, wo sie arbeiten und in ihren ganzen Lebensumständen, dem ständigen Mangel an Gütern des täglichen Bedarfs, Dienstleistungen und kommunalen Einrichtungen, Verkehr alles wie im Dorf.

Ikarus-Autobusse auf der Nepköztarsasag utja‚ der Hauptstraße von Budapest

In den Jahren nach der Reform zog es auch von Ikarus viele in die LPGs (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften), die damals einen starken Aufschwung nahmen. Sie kamen dort im prosperierenden Zweig unter, bei den Kleinbetrieben, die den LPGS angegliedert sind, oder wurden gar zu „Bauern“. Unter ihnen waren nicht selten die bestausgebildeten, vielseitigsten, agilsten und produktivsten Facharbeiter. Die meisten profitierten von der Konjunktur, wenn sie auch mehr, schwerer und unter schlechteren Bedingungen arbeiten mußten. Nach dem Rückschlag und der Liquidierung der prosperierenden Firmen kehrten diese agilen Arbeiter wieder in die Autobusfabrik zurück; diese Erfahrungen haben das Bewußtsein aller Arbeiter mit geprägt.

Sie reden wohl noch vom Schlachtfest und der Hühnersuppe aus dem Ujhazer Garten, aber ansonsten bleibt in denen, die von dort kommen, kein romantisches Sehnen mehr zurück. Wenn es nach ihnen geht, sollen ihre Kinder nicht einmal mehr in dem Maße Bauern sein, wie es die Arbeiter der ersten Generation noch waren; ja sie sollen, wenn möglich, auch nicht Arbeiter werden.

„Sozialistisches“ Montageband?

Das ist hier schon unheimlich groß, nicht wahr? Die größte Autobusfabrik von ganz Europa. Die machen hier Millionen-Investitionen ... Moderne Fertigungsstraße ... aber das schaffen sie nicht, daß man die Fenster auch von unten aufmachen kann, daß man, wenn es warm ist, nicht von unten her mit einem Halbziegel oder einem Stück Eisen auf das Fenster einschlagen muß. In diesen Sachen sind wir halt hier noch ein bißchen hinterm Mond. Klar, wenn ich in so einem Zimmer hocke mit Air-Conditioning, dann stört mich das nicht, daß in der Lackiererei 70 Prozent Lackanteil in der Luft sind. Wir machen eine Fertigungsstraße für Dächer, kaufen alle möglichen Wundermaschinen, aber daß man da auch Leute braucht, fällt ihnen erst am Schluß ein — vielleicht.

Die halbautomatisierte Serienproduktion am Band dehnt sich innerhalb der Firma immer mehr aus. Wie wirken sich die Arbeitsanforderungen und Arbeitsbedingungen auf die Lebensweise der Arbeiter aus? Technische Innovationen erfordern Umorganisation und Umgruppierung der Arbeiter. Sehr wichtig für den einzelnen Arbeiter ist, inwieweit er bei den jeweiligen Veränderungen mitreden kann, bei der Einrichtung seines neuen Arbeitsplatzes. Die Mehrheit wird schlicht und einfach an einen anderen Arbeitsplatz versetzt.

Eine Minderheit allerdings hat Wahlmöglichkeiten, welche von ihrem Status innerhalb der Firma abhängen. Zu dieser Schicht gehören viele Parteimitglieder, Gewerkschafts- und andere Beamte in Führungspositionen. Wir finden hier auch viele wirtschaftliche Führungskräfte der unteren und mittleren Ebene. Diese Stammarbeiterelite, deren informelle Normen in der Vergangenheit häufig die offiziellen Bemühungen und Anforderungen durchkreuzten, hat in der letzten Zeit immer mehr Einfluß auf die Leitung der Firma gewonnen. Viele sind auch in Führungspositionen aufgestiegen.

Reihenhäuser in Miskolc-Diosgvör

Neue Technologie hat häufig das Fachwissen der „alten Füchse“, die damit ihre Autorität sicherten, unbrauchbar gemacht. Innerhalb kurzer Zeit sind die jungen Arbeiter genau wie die älteren in der Lage, bestimmte Aufgaben zu erfüllen, und sie belagern die in harten Kämpfen eroberten Privilegienbastionen der Älteren.

Die Bereiche, in denen individuelle Arbeit möglich ist, haben eine unvermindert starke Anziehungskraft. Hier spürt man die Lust des Arbeiters am Herstellen von etwas „Eigenem“. Etwa das Arbeiten nach groben Zeichnungen und mündlichen Anweisungen. Der Arbeiter kann Versuche machen, herumprobieren, etwas ändern, den Rhythmus seiner Arbeit selbst festlegen. Seine Arbeitskollegen wechseln dabei, er kann sie sich aussuchen. Diese Vorteile hören mit der halbautomatisierten Bandproduktion auf. Die Arbeit wird monoton, schablonenhaft, die Maschine diktiert den Rhythmus, der Spielraum wird enger. Der Arbeiter wird zum „Springer“, den man überall einsetzen kann.

Die neuen Dynastien

Das ist nicht mit Geld aufzuwiegen, daß man dort Arbeit kriegt, wo man wohnt, und dort eine Wohnung, wo man arbeitet. Und anständige Arbeit, wo man sich so in aller Ruhe einschaffen kann. Da braucht man sich dann bis zur Rente keine Gedanken mehr zu machen, von wegen anderem Arbeitsplatz. Damals mit den LPGs, da sind viele weggegangen. Die sind auch wieder zurückgekommen. Die ham nichts verloren, genau den gleichen Stundenlohn wie vorher, eher noch mehr. Das hat mich damals nicht weglocken können. Ich bin die Arbeit hier so gewöhnt, daß ich gar nicht mehr ohne sie sein könnte. Der Motor selbst interessiert mich nicht. Aber die Arbeit am Material. Mein ein und alles. Die ganze Frontpartie vom 190er, die ist von mir. Der Konstrukteur war unten, hat sichs angeschaut. Prima. Das war das. Das ist schon ein schönes Gefühl, wenn die Stücke auf einen halten, wenn die sich auf einen verlassen.

Der größte Teil der „Emigranten“ liest, gerade angekommen, die Anzeigen am Bahnhof. Die erstbeste — gehe es nun um ein Untermietzimmer, eine Lehrstelle oder um einen Arbeitsplatz — setzt ihn dann auf seine weitere Laufbahn. Die Glücklicheren treten schon unter den gleichen Bedingungen an wie die Ortsansässigen: Sie werden von der kleinen Kolonie bereits früher emigrierter Familienmitglieder, Freunde, Bekannten empfangen, die ihnen beim Einleben helfen und sie gleich in die entsprechende bestmögliche Stellung protegieren.

Wir finden in der Fabrik, über die Werkstätten und Abteilungen verteilt, ganze Familiendynastien, die fest zusammenhalten. Kolonien, die sich durch Heiraten, freundschaftliche Abmachungen, wechselseitige Hilfsaktionen zu Kasten, Genossenschaften, Arbeitervereinigungen, Lobbys, Klubs verbinden.

Das Einrichten eines Zuhause, das Beschaffen einer Wohnung, die Heirat und das Großziehen von Kindern sind alles Dinge, die durch kollektive Norm streng geregelt und umgrenzt werden — sie geraten in scharfen Gegensatz zu den „egoistischen", mit dem Verlust von Zeit und Ansehen verbundenen individuellen Anstrengungen, aufzusteigen und sich so von dem Zwang zu befreien, tagaus, tagein malochen zu müssen.

Das „Schicksal Familie“, das Gesetz, eingemeißelt in die Grundmauern des Elternhauses, siegt auch und über die Nachfahren, sobald sie sich selbst in die gesetzmäßig vorgeschriebene Form der Familie einpassen, mit nichts als dem, was sie am Leib haben, heiraten und in ihren gemieteten, im Bau befindlichen oder erst in Aussicht genommenen Wohnungen Nachfahren gebären. Nur wer eine gute Partie macht, bleibt verschont.

Saubere Arbeit, schnelle Arbeit

Als wir noch junge Stifte waren, da ham wir noch alles mögliche gelernt. Aber die Jungen von heute, die können nicht einmal mit einer Schere umgehen. Das ist meine Meinung. Klar, brauchen die auch gar nicht. Heute reicht ihm ein Hammer. Damit kann er 90 Prozent seiner Arbeit erledigen. Heute wird ja bloß noch nach Schablonen gearbeitet. Rein in die Schablone, und auch schon angeschweißt ... nicht so wie früher, wo man eine Tür aus 25 Teilen geschweißt hat. Die mußte man dann natürlich auch einzeln zurechtschneiden. Das gibt’s heut nicht mehr.

Es kann für die Arbeiter eine Befriedigung sein, die Entwicklung der Technik zu studieren. Die Arbeit erfordert immer weniger physische Anstrengung, wird immer sauberer. Fürs erste haben diese neuen Vorteile allerdings wenig Anziehungskraft, sind doch für Störungen dieser wertvollen neuen Maschinen nur wenige hochqualifizierte Ingenieure und Facharbeiter verantwortlich. An sie muß sich das Bedienungspersonal in jedem einzelnen Fall wenden. Die Verantwortung der „Knopfdrücker“ ist sehr groß.

Von denen, die diese halbautomatisierten Maschinen bedienen, den „Wachmännern“, verlangt die Technik selbst eine beinahe soldatische Wachsamkeit und Disziplin. Wer sich daran gewöhnt hat, fährt sich fest, sein Gesichtskreis wird enger. Er bemüht sich nicht, Neues zu lernen, ihn interessieren nicht die Zusammenhänge seiner Arbeit, vielmehr konzentriert er alle seine Anstrengungen darauf, die ihn drückende, irrationale und schicksalhafte Last zu erleichtern und vor dem Alp der Müdigkeit zu fliehen.

Wo gibt’s denn da Freiheit?

Die wollten, daß ich weiter diene. Als Polizist oder im Parlament. Aber damals war ich jung, hab in der Firma schon mehr Geld bekommen, war unverheiratet.

Sie sind also wegen der größeren Freiheit hier nicht weggegangen?

Freiheit? Wo gibt’s denn da Freiheit? Neben der Maschine, das ist genau wie wenn man beim Militär auf Posten steht. Oder können Sie mir sagen, wo da der Unterschied ist?

So eine Arbeit kann auch ein Zwischenschritt sein. Der Betreffende lernt, verschafft sich neue fachliche Qualifikationen und wird daraufhin in lenkende, überwachende Funktionen befördert. Die treibende Kraft ist der brennende Wunsch‚ sich von seiner gegebenen Arbeit zu befreien. Wenn die Anstrengungen nicht von Erfolg gekrönt werden, wechselt so jemand lieber den Arbeitsplatz, als auf seinem schwierigen Posten zu bleiben.

Keiner der jungen Arbeiter, mit denen wir zusammengetroffen sind, will sich ganz auf die Lebensform des Handarbeiters einlassen. Sie empfinden die Arbeiterlaufbahn als eng und perspektivlos und tagträumen häufig, nach Ausbruchspfaden suchend. Viele wollen weiterlernen. Nicht im gelernten Fach, wo sie zum Techniker oder Ingenieur aufsteigen könnten, sondern sie wollen grundlegend umsatteln.
Mancher hofft auch, in der Armee ein ganz neues Fach zu lernen (z. B. Radiotechnik), womit er nachher ganz neu anfangen will.

Bei den jungen Facharbeitern gibt es eine hohe Fluktuationsrate. 30 bis 40 Prozent verlassen die Ikarus-Fabrik, sobald sie ausgelernt haben. Ein wichtiger Punkt ist, daß sie über den niedrigen Status nur schwer hinauskommen können. Auch bei fachlicher Höherqualifikation wird der Weg nach oben nicht geöffnet. Viele beklagen, daß sie das Gelernte wieder verlernen. Viele nehmen, weil sie dadurch ihre Chance erhöhen, ihre Arbeit wechseln zu können, an den fachlichen Weiterbildungskursen teil. Dieses Lernen, das meist doch nicht zur Beherrschung derTechnik der nächsthöheren Stufe führt, wird von der Betriebsleitung gefördert, man gewährt Lohnerhöhungen, Freistellungen.

Die technische Modernisierung hat bisher zur Senkung der Überstundenzahl geführt; viele sind jetzt gezwungen, in Schichten zu arbeiten (meist in zwei Schichten). Die Monotonie der Arbeit hat sich erhöht, gesteigerte Aufmerksamkeit ist nötig, die Arbeit ist insgesamt beschwerlicher geworden. Weniger Überstunden führen zur Suche nach Nebenverdiensten; da setzt die Schichtarbeit, die größere Müdigkeit, wiederum Grenzen. Die „moderne" Müdigkeit steigert das Bedürfnis nach passiver Ruhe, nach Zeitvertreib, sprich Fernsehen.

Offensichtlich sind die Klagen berechtigt, daß bei der Modernisierung alles eingespart wurde, was man zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen hätte ausgeben müssen. Die Bandproduktion hat den Arbeitsablauf in uniforme, von jedem ausführbare Teilarbeiten zergliedert, und dadurch notwendigerweise das Selbstvertrauen des Arbeiters, sein Gefühl, daß es ohne ihn nicht gehe, beträchtlich reduziert. Dieser Verlust scheint durch die sauberere, leichtere Arbeit nicht ausgeglichen.

Die Uniformierung der Arbeit in der Welt der Fabrik während des letzten Jahrzehnts wurde von einer Uniformierung im Konsumbereich begleitet. Einziger Unterschied ist, daß es im Konsumbereich langsamer geht. Es sind dies zwei einander verstärkende Prozesse, die den Arbeiter zu neuer Anpassung zwingen und nach und nach auch seine Lebensweise umkrempeln.

Arbeit mit ultramodernen Maschinen sowie ein auf die Produkte und Dienstleistungen moderner Industrie gerichtetes Bedürfnis sind ja eigentlich gut vereinbar mit der Bastelei im Haus, mit Gartenbau. Allerdings nur so lange, als es Hobby und nicht Zwang ist. In dem Teilbereich, den wir untersucht haben, ist dies nicht der Fall. Wir machten die Erfahrung, daß für gewisse Schichten der Ikarus-Arbeiter die Fabrikarbeit beinahe zur „Nebenbeschäftigung" wird, was natürlich eine Modernisierung nicht begünstigt. Diese Schichten entwickeln, als Gefangene einer primitiven Naturalwirtschaft, auch in geringerem Maß moderne Konsumbedürfnisse.

Die jungen Arbeiter, die sich in eine moderne industrielle und großstädtische Ordnung als Produzenten und Konsumenten einfügen können und wollen, sind wegen der Langsamkeit und Widersprüchlichkeit dieses Prozesses der Anziehungskraft traditioneller Formen ausgesetzt: Familienleben, Schaffung eines Zuhause. Es wird immer noch eine konservative und anachronistische Lebensform reproduziert, die in fünf bis zehn Jahren ein nur noch stärkeres Hemmnis für die Entwicklung sein wird.

Wir wollen keinesfalls traditionelle Lebensweise als ein absolut Gutes und technische Modernisierung als ein absolut Schlechtes einander gegenüberstellen. Wir hielten allerdings eine organischere Abstimmung beider für wünschenswert. Das Streben nach Unabhängigkeit der eigenen Lebensform empfinden wir — gegenüber Uniformierung und Kontrolle in der Modernisierung — als positiv. Wirtschaftlich ist sie allerdings verschwenderisch, schwerfällig und letzten Endes ein Hemmschuh der Entwicklung.

Eine Lösung erwarten wir von einer sozialpolitisch orientierten Entwicklungspolitik, einer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, die es lokalen Initiativen leichter macht, sich durchzusetzen.

[1Vorbild für dieses „Eintauchen ins Volk” ist Miklos Haraszti, der Dichter, der Anfang der 70er Jahre in die Fabrik arbeiten ging. Er schrieb darüber ein berühmt gewordenes Buch („Stücklohn", Rotbuch Verlag, Berlin 1975). Wir brachten ein Interview mit ihm im NF Mai/Juni 1979 („In Ungarn ist es noch Gold“).

[2Vorbild für dieses „Eintauchen ins Volk” ist Miklos Haraszti, der Dichter, der Anfang der 70er Jahre in die Fabrik arbeiten ging. Er schrieb darüber ein berühmt gewordenes Buch („Stücklohn", Rotbuch Verlag, Berlin 1975). Wir brachten ein Interview mit ihm im NF Mai/Juni 1979 („In Ungarn ist es noch Gold“).

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