Kritik des Stalinismus — Kritik der Stalinismuskritik
1.
„Stalinismus“ war lange Zeit ein Schlagwort im Kalten Krieg der bürgerlichen Ideologen mit dem autoritären Staatssozialismus, welches dem Antikommunismus einen moralischen Anstrich verlieh. In den postnazistischen Gesellschaften Österreich und Deutschland war der Hass auf den Stalinismus auch eine Form des Anti-Antifaschismus. An Stalin hasste man nicht seinen Verrat an der Revolution, sondern seine Rolle im Großen Vaterländischen Krieg, also seinen Beitrag zur Niederringung des Nationalsozialismus. Um von den über 20 Millionen von Deutschen und Österreichern dahingemetzelten Sowjetbürgern nicht reden zu müssen, sprach man vom totalitären System des Stalinismus, das mit seinen Arbeitslagern, die zwar gut zur Faschismus-Vorstellung der traditionellen Linken passen, aber mit dem Irrationalismus der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie nichts gemein haben, dem NS eng verwandt sei. „Stalinismus“, dieses Schlagwort ermöglichte es, vom Totalitarismus zu schwadronieren, ohne über die Totalität des Kapitals reden zu müssen. Wer aber über Totalitarismus redet, muss von der Totalität der Warengesellschaft sprechen, in die auch der Realsozialismus als Staatskapitalismus einerseits und als Bestandteil der warenproduzierenden Weltgesellschaft andererseits eingebettet war. Die bürgerliche Totalitarismustheorie, über deren Horizont auch George Orwell mit seinen Vorstellungen von einem „demokratischen Sozialismus“ nur selten hinauszublicken vermochte, müsste, nach einer Bemerkung von Jürgen Elsässer aus einer Zeit, in der er noch nicht den Einsager für die Israel- und USA-Hasser in der Friedens- und Antiglobalisierungsbewegung gegeben hat, vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Sozialistische und kommunistische Bestrebungen tendieren gerade dann zur totalen Herrschaft, wenn sie bürgerliche Vergesellschaftungsformen wie Staat, Nation und Wert adaptieren, also wenn geglaubt wird, man könne diese Vergesellschaftungsformen für die eigenen emanzipativen Zwecke dienstbar machen, wie es etwa im Gerede von der „sozialistischen Warenproduktion“ und der „planmäßigen Anwendung des Wertgesetzes“ zum Ausdruck kam. Wie Elsässer vor zehn Jahren richtig bemerkte, tendiert die bürgerliche Gesellschaft nicht zum Totalitarismus, wenn sie kommunistische Elemente in sich aufnimmt, sondern die sozialistisch-kommunistische Gesellschaft tendiert zum Totalitarismus, wenn sie bürgerliche Elemente in sich aufnimmt. Mit der Übernahme des wertverwertungsimmanenten Produktivitätsideals hat der Sozialismus sich die Vorstellung vom Schaffenden einerseits und dieses Schaffen torpedierenden zersetzenden Kräften andererseits zu eigen gemacht — und damit den Antisemitismus geradezu abonniert. Dieser Antisemitismus resultiert aber nicht aus der kommunistischen Kritik im Marxschen Sinne, sondern gerade aus der Ignoranz gegenüber dieser Kritik. Die Linken tendieren nicht deswegen zum Antisemitismus, und sie begegnen Israel nicht deswegen mit Hass, Misstrauen oder Indifferenz, weil sie zu radikal wären, sondern weil sie zu wenig radikal sind.
2.
In der Stalinismuskritik des Filmes Animal Farm, der in den 1950er Jahren zur gleichen Zeit entstand, als in Moskau die Ärzteprozesse stattfanden, bei denen sechs Juden und drei weitere Angeklagte unter anderem als „Agenten des Zionismus“ unter Anklage standen, findet der Antisemitismus keinerlei Beachtung. Animal Farm von John Halas und Joy Batchelor ignoriert in seiner Stalinismuskritik aber nicht nur den Stellenwert des Antisemitismus in den realsozialistischen Gesellschaften. Der Film bleibt über weite Strecken selbst einer Denkart verhaftet, die nie und nimmer etwas zu einer Emanzipation wird beitragen können. Es wird nicht einfach Herrschaft kritisiert, sondern die Herrschaft der dekadenten, in Luxus schwelgenden, trinkenden Führungselite wird im Namen des ehrlich arbeitenden, sich in Abstinenz übenden Volkes kritisiert. Unterschwellig richtet sich die Kritik gegen den Luxus selbst, der doch das ganze Ziel einer ernsthaften kommunistischen Bestrebung sein müsste. Man stößt sich, ähnlich wie in den heutigen Bewegungen der Sozialneider, nicht daran, dass nicht alle gleichermaßen am Luxus partizipieren können, sondern daran, dass es nicht allen gleich schlecht geht. Bei solch einer Denkfigur, welche die stalinistische Vergötterung der schaffenden Arbeit in die Kritik am Stalinismus übernimmt, ist es kein Wunder, dass das antisemitische Stereotyp zumindest in dezenter Ausprägung auch bei Animal Farm nicht fehlt. Man denke nur an die Figur des Bempel, ein auf das Geld fixierter, sich nicht um die Allgemeinheit scherender Händler, der mit schlafwandlerischer Sicherheit mit einer Physiognomie ausgestattet wurde, wie sie Antisemiten für Juden reserviert haben.
3.
Der Stalinismus hat den Wunsch nach Befreiung von Staat und Kapital zu einer sonderbaren Vorstellung werden lassen. Das aber ist kein Grund, von der Kritik zu lassen. Auch der Film Animal Farm endet ja durchaus optimistisch, obwohl offen bleibt, ob das erneute Auflehnen der Unterdrückten gegen die im Schwein Napoleon verkörperte stalinistische Herrschaft am Ende des Films nun auf die tatsächliche Emanzipation zielt oder auf eine liberale, sozialstaatliche Demokratie. Das kann man sich aussuchen, was wohl einiges zum Erfolg dieses Films beigetragen hat. Den im Hintergrund agierenden Produzenten des Films ging es allerdings keineswegs um eine Verteidigung des Gedankens der radikalen Kritik an Staat und Kapital gegen den Stalinismus, sondern um ein Propagandainstrument im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion, der in der fünfziger Jahren auch ein Kampf gegen linksliberale Intellektuelle in den USA war. Nach George Orwells Tod bemühte sich die CIA bei der Witwe um die Filmrechte für Animal Farm. Sonia Orwell trat die Rechte unter der Bedingung an den amerikanischen Geheimdienst ab, einmal Clark Gable treffen zu dürfen. Die CIA beauftragte den sowohl Propaganda- als auch kunstfilmerprobten Produzenten Louis de Rochemont, und der engagierte, nicht zuletzt aus Misstrauen gegenüber den sich im Visier des Kommunistenfressers McCarthy befindenden amerikanischen Filmschaffenden, das britische Paar John Halas und Joy Batchelor. Bis heute ist nicht endgültig geklärt, ob das gegenüber der literarischen Vorlage geänderte Ende im Film dem Wunsch von Halas und Batchelor nach einem optimistischen Ausblick oder der Einflussnahme der CIA geschuldet ist. Bemerkenswert und ganz im Sinne der CIA ist jedenfalls, dass beim Filmende die Menschen, die das kapitalistische System repräsentieren, nicht mehr vorkommen. Orwell schließt mit einer Kritik an den stalinistischen Schweinen, die von den kapitalistischen Menschen nicht mehr zu unterscheiden sind. Diese Ununterscheidbarkeit wird im Film lediglich in einer kurzen Sequenz thematisiert, und der Aufstand findet dann nur mehr gegen den Stalinismus statt. Das gefiel den US-amerikanischen Regierungsstellen so gut, dass sie den Film mittels der United States Information Agency auf der ganzen Welt verbreiten ließen.
4.
Der Stalinismusbegriff dient heute Trotzkisten, Leninisten und verwandten Sozialdemokraten zur Abgrenzung. Lenin und Trotzki auf der einen und Stalin auf der anderen Seite sollen das jeweils ganz Andere gewesen sein. Selbstverständlich gibt es diese Unterschiede, auch und gerade, was den Antisemitismus angeht. Lenins Theorie, insbesondere seine Imperialismustheorie, weist zwar strukturelle Ähnlichkeiten zum antisemitischen Weltbild auf, aber — und das sollte man heutzutage durchaus hervorstreichen — keine inhaltlichen. Stalin hingegen hat nicht nur in seinen Kampagnen gegen Kosmopolitismus und Zionismus den Antisemitismus als politisches Herrschaftsmittel eingesetzt, sondern war dem antisemitischen Wahn dermaßen verfallen, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach kurz vor seinem Tode die Deportation aller sowjetischen Juden und Jüdinnen nach Sibirien plante. Doch bei allen offensichtlichen Unterschieden — für seine Kritik autoritärer Herrschaft hätte Orwell, der in seiner Buchvorlage die Russische Revolution bis 1924 durchgängig idealisiert, nicht der Erfahrungen aus dem Spanischen Bürgerkrieg und der stalinistischen Sowjetunion bedurft. Ein Hinweis auf die bolschewistische Niederschlagung des Kronstädter Aufstands als ein Beispiel von vielen für den Terror gegen die linke Opposition hätte vollauf gereicht. 1921 hatten bekanntlich in Kronstadt, unweit des revolutionären Zentrums Petrograd, Arbeiter und Soldaten einen wie auch immer widersprüchlichen, in seiner Zielrichtung aber eindeutig emanzipativen Aufstand gegen die bolschewistische Herrschaft angezettelt. Sie forderten Dinge wie Rede- und Pressefreiheit für „Anarchisten und linkssozialistische Parteien“, einen „neuen sozialistischen Entwurf gegen die Staatsbürokratie“ und „Alle Macht den Räten — nicht den Parteien“. Lenin und Trotzki antworteten auf den Aufstand von etwa 4000 Matrosen mit Denunziationen und einer Streitmacht von 50.000 Mann, die allen linksradikalen Kritikern der Bolschewiki vor Augen führen sollte, wer im neuen Russland das Sagen hat.
5.
Kritik des Stalinismus wirft immer die Gewaltfrage auf. Stalinismuskritik bürgerlicher Provenienz zielt stets nicht nur auf die Gewaltexzesse der nachholenden Akkumulation in der Sowjetunion, sondern auf die Delegitimation von revolutionärer Gewalt überhaupt — und, vor allem in Österreich und Deutschland, auf die Delegitimation des antifaschistischen Befreiungskampfes der Roten Armee. Stalin sagte 1931: „In höchstens zehn Jahren müssen wir jene Distanz durchlaufen, um die wir hinter den fortgeschrittenen Ländern des Kapitalismus zurück sind. Entweder bringen wir das zuwege, oder wir werden zermalmt.“ Die Sowjetunion hat das, gerade durch die Anwendung des stalinistischen Terrors, zuwege gebracht. Stalin hatte in diesem Punkt recht: Hätten Führung und Bevölkerung das nicht geschafft, wären sie von der deutschen Wehrmacht vernichtet worden. Gerhard Scheit streicht das Dilemma einer jeden Stalinismuskritik vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus heraus, wenn er in Die Meister der Krise schreibt: „Was immer über die alternativen Möglichkeiten zu Stalins Politik diskutiert werden mag — isoliert darf sie nicht betrachtet werden. Ohne Akkumulation und Industrialisierung hätte Nazideutschland Rußland zermalmt. Indessen sollte die ‚Stalinorgel‘ den deutschen Wehrmachtssoldaten einen Begriff davon geben, was diese Industrialisierung zu leisten imstande war.“
6.
Eine Kritik an Staat und Kapital zum Zwecke der allgemeinen Emanzipation müsste sich heute vor allem gegen den Stalinismus in der Theorie richten. Die Leninschen Dogmen haben in der Form des vom Stalinismus zur Legitimationsideologie erhobenen Marxismus-Leninismus, der sehr viel mehr ein Engelsismus als ein Marxismus war, nicht nur Einfluss auf die ML-Linke gehabt. Zwar ist der Marxismus-Leninismus schon zu Zeiten seiner Kanonisierung von Linkskommunisten angegriffen und später in der Kritischen Theorie in Grund und Boden kritisiert worden. Man denke etwa nur an die Schriften von Räte- und Linkskommunisten wie Paul Mattick und Willi Huhn oder an Theodor W. Adornos Ausführungen zur Erkenntnistheorie. Dennoch scheint der ML heute in der Linken allgegenwärtig zu sein, sei es in Form der barbarischen Parole vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, mit der man sich besonders gerne mit den islamistischen Nazis von Hamas und Hisbollah verbrüdert; [1] sei es in einer Imperialismusvorstellung, die von einer Globalisierung und Modifizierung der Wertverwertung kaum reden möchte, aber antikommunistischen und antisemitischen Massenmördern wie Saddam Hussein, mit denen im Vergleich Orwells Diktatoren wie Humanisten erscheinen, fest die Treue halten; sei es in Parteiaufbaukonzepten und Avantgardevorstellungen, deren Kritik man heute am liebsten Humoristen und Satirikern überlassen würde; oder sei es in erkenntnistheoretischen Überlegungen zu einer „Widerspiegelungstheorie“, die schon in ihrer Leninschen Fassung von der Marxsehen Kritik der politischen Ökonomie gänzlich unberührt geblieben ist und in ihrer stalinistischen, ebenso autoritären wie positivistischen Fassung zum Gegenentwurf zur materialistischen Ideologiekritik, zur Kritik des real-abstrakten Fetischismus der kapitalen und staatlichen Vergesellschaftungsweise geworden ist.
7.
Statt einer Aufnahme der Fetischkritik, die bei Marx zugleich eine Kritik der strukturellen Verfasstheit der Warengesellschaft und des Bewusstseins der Individuen, die in dieser Gesellschaft leben, ist, und in der gezeigt wird, wie gesellschaftliches Bewusstsein und gesellschaftliches Sein miteinander korrespondieren, sich gegenseitig hervorbringen und bedingen, findet sich bei Lenin mit der Widerspiegelungstheorie, die dann im ML zur kanonisierten Erkenntnistheorie avancierte und neben der Lehre von der Naturdialektik zum zentralen Bestandteil des auf Herrschaftslegitimation abzielenden Sowjetmarxismus wurde, ein theoretischer Entwurf, der nicht nur hinter die Marxsche Fetischkritik, sondern noch hinter die Hegelsche Logik und Kant zurückfällt, und als vorkantische Ontologie hinreichend gekennzeichnet ist. Die gesamte Ideologie-, Bewusstseins- und Erkenntniskritik von Marx schrumpft bei ihm, wie später sowohl Georg Lukács und die Kritische Theorie als auch Gramsci kritisiert haben, auf eine der Optik entlehnte, mechanistische, eine starre Trennung voraussetzende Metapher zusammen. In Lenins Materialismus und Empiriokritizismus heißt es ebenso lapidar wie blöde: „Das gesellschaftliche Bewußtsein widerspiegelt das gesellschaftliche Sein — darin besteht die Lehre von Marx.“ Während für die Widerspiegelungstheorie das Bewusstsein einfach nur, wie es bei Lenin heißt, „das Abbild des Seins, bestenfalls sein annähernd getreues Abbild (ist)“, hat Marx in der Wert- und Fetischkritik sehr viel umfassender versucht zu thematisieren, warum das Bewusstsein der Subjekte in der wertförmig konstituierten Warengesellschaft falsch ist, warum es notwendig falsch ist und warum es daher zugleich richtig ist, warum das Bewusstsein nicht einfach ein Abbild der Wirklichkeit, sondern immer ein verkehrtes und damit als Praxis auch verkehrendes Bewusstsein ist, ein für die Warensubjekte selbst richtiges Bewusstsein von einer scheinbar natürlichen, naturgegebenen Gesellschaft, das vor dem Hintergrund der Wertformanalyse und dem Marxschen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes Wesen ist, als falsches Bewusstsein von einer falschen Gesellschaft dechiffriert werden kann.
Während in der Marxschen Waren- und Wertformanalyse die Subjekte nur scheinbar abwesend sind, existiert bereits in Lenins Widerspiegelungs- oder Abbildtheorie eine Tendenz zum Objektivismus. Zum vollendeten Dogma wird diese Tendenz, Erkenntnis auf eine bloße Verdoppelung der Realität im Bewusstsein herunterzubringen, bei Stalin, bei dem das Subjekt aus der Theorie endgültig verschwindet und Bewusstsein — egal ob in der fetischisierten kapitalistischen Warenproduktion oder im Sozialismus — immer nur ein mehr oder weniger gelungenes Nachvollziehen des ohnehin vonstatten gehenden objektiven historisch-gesellschaftlichen Prozesses ist. Ging es Marx noch darum, dass sich die Menschen von den in der kapitalistischen Gesellschaft als objektive und überhistorische Gegebenheiten erscheinenden (wenn auch in der Praxis real existierenden) ökonomischen Zwängen befreien, postuliert Stalin die Gegebenheit der ökonomischen und gesellschaftlichen Gesetze in Parallelität zur Naturwissenschaft als übergesellschaftlich, unabhängig von allem menschlichem Handeln und Bewusstsein. Während man die Leninsche Theorie noch als verfälschende Vereinfachung oder Verflachung der Marxschen Ideologie- und Erkenntniskritik bezeichnen könnte, mutiert die Widerspiegelungstheorie bei Stalin zum genauen Gegenteil der Marxschen Fetischkritik und ist — um im Jargon der MLer zu bleiben — ein getreues Abbild, eine Widerspiegelung des stalinistischen Antihumanismus in der Theorie.
8.
Eine frühe Kritik an Lenins Materialismus und Empiriokritizismus lieferte der Linkskommunist Anton Pannekoek. Dennoch wäre es falsch zu behaupten, der westeuropäische Linksradikalismus, wie er von Pannekoek, Herman Gorter, der Gruppe Internationaler Kommunisten und anderen repräsentiert wurde, hätte sich gerade bei der Rezeption der Marxschen Wert- und Fetischkritik vom Leninismus grundlegend unterschieden. Die Differenzen zwischen Linkskommunisten und Bolschewisten lagen vornehmlich auf einer anderen, vor allem praktisch-politischen Ebene. Ausnahmen stellten diesbezüglich lediglich Karl Korsch oder auch Georg Lukács, der aber nur mit Einschränkungen in die linkskommunistische Tradition eingereiht werden kann, dar. Auch Rosa Luxemburg stand zwar in zahlreichen Fragen in Opposition zu Lenin und dem Leninismus, und ihre Krisentheorie gibt heute sehr viel mehr her als die Leninsche Imperialismustheorie, aber auch bei ihr findet sich nur eine sehr traditionalistische Interpretation der Marxschen Wertkritik.
Bei Trotzki findet sich ebenso wie bei Lenin keine Fetischkritik. Anlässlich der Verurteilung der Kronstädter Revolte meinte Trotzki zwar, die Arbeiteropposition sei „mit gefährlichen Parolen hervorgetreten. Sie hat aus den demokratischen Prinzipien einen Fetisch gemacht.“ Drei Jahre später führte Stalin, nicht zuletzt gegen Trotzki und seine Anhänger gewendet, aus, „daß die Opposition mit ihrer zügellosen Agitation für die Demokratie, die sie oft zu etwas Absolutem macht und zum Fetisch erhebt, die kleinbürgerliche Elementargewalt entfesselt.“ In beiden Fällen wird der Fetisch-Begriff natürlich nicht im Sinne der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, sondern im alltagssprachlichen Sinne von Überschätzung und Überbewertung gebraucht. Das gilt auch für Stalins famose Behauptung, nach der die Kommunistische Partei der Sowjetunion frei sei „von einer fetischistischen Einstellung zu ihren Führern“. Sowohl Trotzki als auch Stalin ziehen den Fetischbegriff zur Legitimation der Parteidiktatur heran. Gerade in bezug auf Stalin kann man Ulrich Erckenbrecht zustimmen, der einmal meinte: „Zu dem Prinzip des Führerfetischismus paßt, daß die Führer selbst wenig vom Fetischismus begreifen.“
Auch wenn von einer Fetischkritik im Marxschen Sinne bei Trotzki keine Rede sein kann, findet sich in Verratene Revolution eine kurze, durchaus auf eine Rezeption der Marxschen Fetischkritik verweisende Notiz. Es handelt sich dabei aber nur um einen kurzen Ausflug in die Wertkritik, der zudem ähnlich wie die meisten Äußerungen Lenins zur Marxschen Fetischismusanalyse recht oberflächlich bleibt. Und so ist denn auch der Trotzkismus bis heute eine der am deutlichsten auf den Klassenkampf fixierten und eine Huldigung der Arbeit postulierenden Richtungen in der Arbeiterbewegung geblieben.
Der Trotzkismus trifft sich darin mit der klassischen sozialdemokratischen Theoriebildung etwa eines Franz Mehring, dem neben Karl Kautsky wohl wichtigsten Vertreter der deutschen marxistischen Orthodoxie, der sich später den revolutionären Spartakisten annäherte. Seine Absage an alle „philosophischen Hirnwebereien“ gilt als symptomatisch für einen Marxismus, der die erkenntnis- und bewusstseinskritischen Implikationen der Marxschen Fetisch- und Wertkritik nie reflektiert hat und daher in den Bewusstseinsformen der Subjekte in der Warengesellschaft nur ein aus der ökonomischen Basis abgeleitetes Phänomen sah, das kaum einer eigenen Untersuchung wert sei.
Sowohl der Leninismus als auch die Sozialdemokratie waren gezwungen, die Fetischismuskritik und damit auch die Ideologiekritik im Marxschen Werk zu ignorieren. Dem Leninismus wäre die Legitimationsideologie für sein repressives, mit der Waren- und Geldlogik keineswegs konsequent brechendes Herrschaftssystem abhanden gekommen. Der Sozialdemokratie hätte bei einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Marxschen Wert- und Fetischkritik bewusst werden müssen, dass ihre Politik wie auch ihre Zielvorstellungen mit der Gesellschaftskritik von Marx, auf den man sich im sozialdemokratischen Milieu damals noch beziehen musste, nicht viel gemein haben. Statt Ideologiekritik zu praktizieren haben daher Leninisten wie Sozialdemokraten, der dogmatische Marxismus wie der Revisionismus, die Orthodoxie wie die vermeintliche Häresie die eigene Theorie zur Ideologie erhoben. Die ausschließlich negative Konnotation des Ideologiebegriffs ist damit verlorengegangen und viele Linke wollen noch heute im „ideologischen Kampf“ „ihre Ideologie“ gegen die bürgerliche durchsetzen. Die bürgerliche Ideologie wird dabei nicht mehr wie noch bei Marx in der Kritik der politischen Ökonomie als notwendig falsches Bewusstsein verstanden, sondern nur mehr als Schein, als Betrug, als bewusst eingesetztes Herrschaftsmittel, als Manipulationsinstrument „der Herrschenden“ gegen „die Beherrschten“.
Marx hat mit seiner Wertanalyse, mit seiner Kritik des Fetischismus und der Verdinglichung eindrücklich nachgewiesen, dass die Integration der Arbeit in das Kapitalverhältnis bereits im Begriff des Kapitals angelegt ist. Zugleich hat er, wenn auch mit einigen Brüchen, an seiner schon vor der Kritik der politischen Ökonomie entwickelten Theorie der proletarischen Revolution weitgehend festgehalten. Grundlage dieses festen Glaubens war unter anderem eine wie auch immer widersprüchliche Konstruktion oder auch Übernahme einer Ontologie der Arbeit. Gerade diese Arbeitsontologie, die bei Marx selbst noch durch eine Kritik der Arbeit und eine Kritik eines überhistorischen Arbeitsbegriffs konterkariert wird, wurde vom traditionellen Marxismus, von Engels über Hilferding, von Lenin bis Mehring, von der Sozialdemokratie bis zum Stalinismus übernommen, wohingegen die Wertformanalyse und die Fetischkritik weitgehend ignoriert wurden. Diese Ignoranz, diese Depotenzierung der Marxschen Theorie, die Beraubung dieser Theorie um ihren kritischen Stachel, der sich nicht gegen die Kapitalistenklasse, sondern gegen Klassen überhaupt, nicht gegen das Kapital im Namen der Arbeit, sondern gegen Kapital und Arbeit als Ausdruck des Wertverhältnisses, nicht gegen bestimmte Erscheinungsformen der kapitalistischen Konkurrenz wie die bei Lenin im Zentrum der Kritik stehenden Monopole, sondern gegen die warenförmige Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft richtete, dieser historische Angriff auf die Marxsche Kritik des Kapitals ist selbst ein Hinweis auf die Richtigkeit der Marxschen Kritik. Soll die bürgerliche Gesellschaft aus dem Wert- und Kapitalbegriff heraus begriffen werden, so muss auch die Entwicklung der Kritik dieser Gesellschaft mit dem Wert- und Kapitalbegriff in Zusammenhang gebracht werden. Es wäre eine materialistische Erklärung der Fehlentwicklungen des Materialismus notwendig, die zeigen müsste, dass diese Fehlentwicklungen aus dem Gegenstand der Kritik des Materialismus selbst resultieren und daher auch keine Fehlentwicklungen im Sinne von relativ zufälligen Irrtümern sind. Das, was die Arbeiterbewegung in den meisten ihrer Ausprägungen nach Marx zu bieten hatte, war kein einfaches Missverständnis der Marxschen Kritik, auch wenn dieses Missverständnis vielleicht die Voraussetzung dafür war, sondern die Ratifizierung dessen, was im Begriff des Kapitals bereits angelegt war, von der arbeitsmetaphysischen Seele in Marx Brust, wie Stefan Breuer bemerkt, „jedoch stets wieder zugunsten einer Ontologie der Arbeit zurückgenommen wurde: daß der Kapitalismus zwar das Proletariat produzierte, aber eben auch sein Proletariat, das noch dort, wo es sich scheinbar gegen das Wertverhältnis wandte, nur zu dessen Universalisierung beitrug.“
9.
Was bedeutet es heute, wenn die Deutschen von einer Emanzipation von Staat und Kapital nichts wissen wollen, aber Karl Marx laut ZDF-Umfrage für einen ihrer „Besten“ halten? Eine Kritik, die Marx ernst nimmt und also die Befreiung vom Staat statt durch den Staat, die Abschaffung von Arbeit, Geld und Kapital, von Warentausch und repressiver Gleichheit fordert und sich mit Marx gegen jede ressentimentgeladene Kritik richtet, die sich stets, wie es in den Theorien über den Mehrwert heißt, nur gegen das Kapital in „seiner wunderlichsten und zugleich der populärsten Vorstellung nächsten Gestalt“ wendet, hat bei den Deutschen keine Chance. Ein Marxismus aber, der mit den Parolen „Die Arbeit hoch!“, „Geld gerecht verteilen!“ und „Staat statt Markt!“ hinreichend charakterisiert ist, verschafft Marx einen Platz unter den deutschen Top Ten gleich neben Martin Luther und Konrad Adenauer. Während bei den deutschen Otto Normalvergasern solch ein sozialdemokratisch-christlicher Reformmarxismus samt seiner antisemitischen und faschistischen Implikationen hoch im Kurs steht, setzt die Linke zunehmend wieder auf dessen radikalisierte Variante: den Leninismus samt eines als konsequente „Interessenpolitik“ ausgegebenen Klassenkampfs. Damit wird man über einen staatsfetischistischen Juristensozialismus ebensowenig hinauskommen wie über die diversen Ausprägungen eines wert-, geld- und preisidealistischen Mathematikersozialismus, der nie auf die Abschaffung einer Ökonomie zielt, die auf der Wertförmigkeit der Arbeitsprodukte beruht. Der Kommunismus wäre aber nicht eine revolutionierte Berechnungs- und Verteilungspraxis, sondern der Bruch mit der Wertlogik. Es geht ihm nicht um eine Diktatur von Menschen über Menschen, sondern um eine Diktatur des Willens und der Wünsche der Menschen über die sachlich-materiellen Bedingungen ihres Daseins. Materialistischer Kritik geht es darum, gesellschaftliche Zustände zu schaffen, die es den Menschen erstmals ermöglichen, ihr Leben selbstbewusst, das heißt, jenseits der Verwertungs- und Herrschaftsimperative von Staat und Kapital zu planen.
Es geht also um die Abschaffung der Warengesellschaft. Wer aber von der Abschaffung der Warengesellschaft redet, muss die Möglichkeit ihrer barbarischen Aufhebung thematisieren. Diesbezüglich kann es nicht mehr um eine Kritik des Stalinismus à la George Orwell gehen. Notwendig ist eine Kritik der heutigen Linken, die sich anschickt, in einem mal ideellen, mal aber auch ganz praktischen Bündnis mit Islamisten und mit den Regierungen der Old-Europe-Staaten unter Führung Deutschlands zur Vorhut eben solch einer barbarischen Aufhebung zu werden. [2] Kritik an Staat und Kapital hätte sich heute nicht in erster Linie über die Gefahren autoritärer Führerpersönlichkeiten bewusst zu sein (auch wenn man die diversen Möchtegernlenins, -trotzkis und -stalins nicht unterschätzen sollte), sondern über die Gefahr eines Antikapitalismus, der von Marx fast gar nichts, von der deutschen Ideologie aber fast alles sich zu eigen gemacht hat. Der Stalinismus hat den Staatssozialismus für alle Zeiten diskreditiert, nicht aber eine Kritik an Staat und Kapital, die auf den Kommunismus im einzig emanzipativen Sinne zielt, also der Herstellung der Möglichkeit individuellen Glücks als absoluter Gegensatz zum völkischen Identitätswahn. Schaut man sich die realexistierende Linke heute an, so hat man das Gefühl, dass sie von der Kritik der politischen Ökonomie gar nichts, vom Stalinismus und vom nationalen Sozialismus aber jede Menge gelernt hat. Und so übt sie auch keine Kritik, sondern hegt ihre Ressentiments, die durch einen Film wie Animal Farm eher bedient als destruiert werden. Diese Ressentiments richten sich gegen alles, was auch die Antisemiten hassen, gegen Zivilisation und Individualität, gegen Intellektualität, Abstraktheit, Künstlichkeit und Liberalität, gegen Ausschweifung und Freizügigkeit.
Kritik an Staat und Kapital ist heute so notwendig wie eh und je. Nach den Erfahrungen der letzten hundert Jahre, und nach den Erfahrungen mit der Linken nach dem antisemitischen Massaker vom 11. September erst recht, hat diese Kritik aber bestimmten Mindestanforderungen zu genügen. Diese Mindestanforderungen hat Clemens Nachtmann in dem Sammelband Transformation des Postnazismus auf den Punkt gebracht: „Eine jede Staatskritik wird daran zu messen sein, ob sie mit dem Staat Israel, jener prekären Nothilfemaßnahme gegen die antisemitische Raserei, sich bedingungslos solidarisch erklärt, was die Solidarität mit dessen bewaffneter Selbstverteidigung selbstverständlich einschließt. Und jede Kritik am Kapital ist daran zu messen, ob sie, als ihr theoretisches Zentrum, dessen negative Selbstaufhebung in manifester Barbarei als eine wiederholbare Konstellation auf den Begriff zu bringen vermag und zum Angelpunkt der Agitation macht.“
[1] Die Formulierung „islamistische Nazis“ führt immer wieder zu empörten Reaktionen und langwierigen Debatten, ähnlich wie die Hinweise auf die nationalsozialistischen Einflüsse auf den Baathismus und Formulierungen wie „Moslem-“ oder „Islamfaschisten“. Wie aber nennt man Gruppierungen, die vermeintliche und tatsächliche Abweichler, Kommunisten, emanzipierte Frauen, Liberale, Homosexuelle und Juden bassen, die Israel zerstören und das Jüdische Prinzip“, alle Juden und ihre als „Gesinnungsjuden“ identifizierten vermeintlichen oder tatsächlichen Unterstützer vernichten wollen, die einem Kult des Todes huldigen, enge Kontakte und freundschaftliche Beziehungen zu Nazi-Deutschland unterhalten haben und zu den heutigen Rechtsradikalen unterhalten, „Mein Kampf und die „Protokolle der Weisen von Zion“ als Lektüre schätzen, Alfred Rosenberg und Fichte verehren und gerne auch mal mit dem Hitlergruß aufmarschieren. Niemand leugnet die offenkundigen Unterschiede zwischen dem deutschen Nationalsozialismus an der Macht und der islamistischen sowie panarabisch-nationalistischen Mobilmachung. Ansonsten würde man ja auch einfach von Nazis und von Faschismus, nicht von „islamistischen Nazis“ und „Faschismus unter trikontinentalen Bedingungen“ sprechen. Einwände gegen diese Terminologie, die darauf hin weisen, dass doch weder die Taliban noch Hamas, Al Quaida oder Hizbollah über einen industrialisierten und hoch gerüsteten Nationalstaat verfügen, sprechen das Offensichtliche aus und verkennen doch zugleich die aktuellen Gefahren im sich globalisierenden Postnazismus, der eine Verallgemeinerung des deutschen Krisenlösungsmodells und der deutschen Ideologie impliziert, und in dem sich zum schlanken Staat der Elendsverwaltung die Selbstmordrackets mit ihrem Outsourcing der Vernichtung und der Individualisierung des Faschismus gesellen.
[2] Ein aktuelles Beispiel für solche gar nicht merkwürdigen Allianzen war die Konferenz am Deutschen Orientinstitut in Beirut Mitte Februar, die gemeinsam von der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung und der libanesischen Hishollah-Vorfeldorganisation Consultative Center for Studies and Documentation mit Unterstützung der österreichischen Botschaft in Beirut organisiert wurde. Auf der Konferenz sprach auch der Islamist Tariq Ramadan, der noch vor wenigen Monaten einer der Starredner heim Europäischen Sozialforum in Paris war.
Literatur:
- Heinz Ahosch: Trotzki-Chronik. München 1973
- Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie. Bd. 2, Frankfurt a.M. 1992
- Stefan Breuer: Die Krise der Revolutionstheorie. Frankfurt a. M. 1977
- Jürgen Elsässer: Ehrbarer Antisemitismus? In: Wolfgang Schneider/Boris Gröndahl (Hg.): Was tun? Über Bedingungen und Möglichkeiten linker Politik und Gesellschaftskritik. Hamburg 1994
- Ulrich Erckenbrecht: Das Geheimnis des Fetischismus. Frankfurt a. M. - Köln 1976
- Bodo v. Greiff: Über materialistische Erkenntnistheorie und Emigration. In: Leviathan, Nr. 3, 1986
- Stephan Grigat: „Bestien in Menschengestalt“. Antisemitismus und Antizionismus in der österreichischen Linken. In: Weg und Ziel, Nr. 2, 1998
- Michail Heller/Alexander Nekrich: Geschichte der Sowjetunion. 2 Bd., Frankfurt a. M. 1985
- Wladimir I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. Werke, Bd. 14, Berlin 1968
- Marx-Engels-Werke, Berlin 1988ff.
- Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke. Berlin 1990
- Franz Mehring: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Berlin 1960
- Clemens Nachtmann: Krisenbewältigung ohne Ende. In: Stephan Grigat (Hg.): Transformation des Postnazismus. Der deutsch-österreichische Weg zum demokratischen Faschismus. Freiburg 2003
- Oskar Negt: Marxismus als Legitimationswissenschaft. In: Ab- ram Deborin/Nikolai Bucharin: Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus. Frankfurt a. M. 1969
- Anton Pannekoek u. a.: Marxistischer Antileninismus. Freiburg 1991
- Gerhard Scheit: Die Meister der Krise. Über den Zusammenhang von Vernichtung und Volkswohlstand. Freiburg 2001
- Gerhard Scheit: Suicide Bombing. Über die neuen Formen des Antisemitismus — und ihren Zusammenhang mit den alten. In: Context XXI, Nr. 8/2002-1/2003
- Josef W. Stalin: Werke. Berlin 1952 ff.
- Leo Trotzki: Verratene Revolution. Essen 1996
- Laurence Zuckerman: How the Central Intelligence Agency Played Dirty Tricks With Our Culture. www.commondreams.org/headlines/031800-02.htm
