FORVM, No. 219
März
1972

Lenin auf albanisch

Reisebericht

I. Partei als Avantgarde

Die albanische Verfassung stellt die Partei über den Staat. Die Partei hat die führende Rolle, die Verpflichtung, auf allen Gebieten — Ideologie, Politik, Wirtschaft, Technik — als treibende Kraft zu wirken. Zugleich wird der sowjetische Revisionismus, im Rahmen der heftigen Kampagne gegen die „neuen Zaren“, als Trennung der Partei von den Massen definiert: die Tätigkeit der Partei vollziehe sich losgelöst von den Massen und über deren Köpfe hinweg. Infolge der Kluft zwischen Geführten und Führenden verwandeln sich diese in bürgerliche Bürokraten. Im politischen Leben Albaniens wird versucht, jenen dialektischen Widerspruch anders zu lösen: einerseits hat die Partei die Gesamtleitung; anderseits soll sie sich unter dem Volk bewegen „wie der Fisch im Wasser“. Den Albanern zufolge liegt hier der fundamentale Unterschied zwischen ihrer Treue zum Leninismus und dem Abgehen hievon in anderen Ländern Osteuropas.

Wenn es keine führende Kraft gibt — erklären die Albaner —, kann der Kampf des Volkes nicht organisiert werden, gibt es kein Programm, keine langfristige Strategie, keine taktische Aktionseinheit. Wenn aber die führende Kraft sich über die Geführten erhebt, die Kontrolle von oben die von unten überwiegt, zurückweist oder beseitigt, ändert die führende Kraft selbst ihr Wesen: sie hört auf revolutionär zu sein, etabliert sich im Genuß der Macht und materieller Vorteile — kurz sie wird zur Triebkraft der Rückkehr zum Kapitalismus.

Enver Hodscha formulierte auf dem 6. Parteitag der Albanischen Partei der Arbeit (APA) einen Satz, den Kenner von Hegel und Marx besser verstehen als andere: „Was die Arbeiterklasse aus einer Klasse an sich in eine Klasse für sich verwandelt, ist die Partei.“ Das Proletariat gelangt nur dann zum klaren Bewußtsein seiner Ziele und der dorthin führenden Wege, wenn es seine eigene politische Organisation besitzt. In Betrieben und Wohnvierteln zerstreute revolutionäre Gruppen können nie über Agitation und ökonomische Forderungen hinausgelangen, die zwar notwendig sind, aber nicht ausreichend, um die Macht zu erobern und zu behaupten. Nur die Klasse für sich — die Klasse, die über eine Partei als Avantgarde verfügt — kann Geschichte machen.

Gemäß dieser Auffassung werden die Bande zwischen Partei und Klasse nicht ein für allemal geknüpft, auf Grund einer mystischen Übereinkunft. Die Partei hat das Recht, die Klasse zu repräsentieren, nicht als ewiges Privileg erworben. Nur die reale Geschichte einer Organisation, die Kette ihrer Kämpfe, Initiativen, Bündnisse, Methoden gibt Aufschluß, was sie in einem gegebenen Augenblick ihrer Geschichte ist und wie sie es wurde. Lenin erläuterte, wie die alten sozialdemokratischen Parteien degenerierten, insbesondere, weil die Macht in die Hände jener sozialen Schicht gelangt war, die er „Arbeiteraristokratie“ nannte. So wurden die Parteien der II. Internationale, wie er sagte, zu „bürgerlichen Arbeiterparteien“ —- Vertretungen der Bourgeoise des Proletariats.

Eine herrschende Bürokratie, die über den Massen steht, kann sich leicht auf die marxistisch-leninistische Theorie berufen. In der Praxis aber fallen ihre Interessen, Bedürfnisse, Wünsche, Glückvorstellungen mit jenen der Herrschenden von früher zusammen. Wenn man sagt: die bürgerliche Ideologie setze sich in dieser Gesellschaftsschicht fest — so heißt dies nicht, daß die marxistische Lehre aufgegeben werde. Aber sie hat jeden realen Inhalt verloren und findet nicht mehr Ausdruck in den Handlungen der Menschen, namentlich der Führenden.

Die Inhaber der Staatsmacht und Nutznießer privilegierter Positionen — oft, aber nicht immer dieselben Personen —: Betriebsdirektoren, hohe Funktionäre aller Art bilden eine eigene Kaste. Allmählich eignet sich diese Kaste offiziell das ausschließliche Verfügungsrecht über die Produktionsmittel und die Produktionserträge an. Dies sei Rückkehr zum Kapitalismus: eine Bewegung, die die Partei von den Massen losreißt, die politische Bürokratie verbindet mit der wirtschaftlichen, intellektuellen und Verwaltungsbürokratie und endet in der stillschweigenden Einsetzung einer neuen Bourgeoisie.

II. Bürokratie als neue Bourgeoisie

Für die Albaner geht es um die Frage, wie die Partei Repräsentantin der Arbeiterklasse bleiben, wie sie ihr inneres Leben und ihre Beziehungen zu den Massen ständig „revolutionieren“ kann, um sich gegen Sklerose zu schützen. Ihre erste Antwort lautet: „Nicht vergessen, daß der Klassenkampf ebenso innerhalb wie außerhalb der Partei vor sich geht“. Sie erklären: „In Albanien gibt es keine Clique wie die von Liu Schao-tschi, als Fraktion organisiert und mit eigenem Hauptquartier ausgestattet, sondern wir wollen eine revolutionäre Transformation jeder Organisation, jedes aktiven Kommunisten“.

Die zweite Antwort der Albaner lautet: „Revisionismus beginnt mit dem Abgehen von den leninistischen Grundsätzen in der Partei; daher kommt alles darauf an, daß wir in uns selbst jenen Teil unseres Denkens und Handelns ausrotten, der zur Isolierung von den Massen führt. Wir kämpfen gegen die Mentalität des Privateigentums oder — wenn man will — jenes persönlichen und Familienegoismus, der für die Bourgeoisie kennzeichnend ist. Die Kommunisten brauchen die nötige technische oder ökonomische Ausbildung für ihre führende Rolle. Doch ihre eigentliche Aufgabe bezieht sich nicht auf Sachen. Sie besteht darin, Menschen zu mobilisieren und zu bilden. Wenn sie diese Aufgabe nicht erfüllen, verschwindet der militante Geist aus allen Institutionen, aus der gesamten sozialen Realität. Administrative Weisungen ersetzen den Willen, zu siegen. Daher dürfen kommunistische Fachleute in Staats- und Wirtschaftsapparat nie wie Technokraten denken. Ihre Rolle besteht darin, „unermüdlich dafür zu sorgen, daß die Arbeiter ihre Aufgaben ideologisch und politisch verstehen; es geht darum, die Arbeiter vollständig zu organisieren und zu mobilisieren“.

Folglich gilt den Albanern die Zelle, die Grundorganisation, als wichtigstes Kettenglied. Nur sie kann den Massen die Direktiven der Partei vermitteln. Und nur sie macht es möglich, daß die Bedürfnisse der Massen sich artikulieren und zum Gesetz der Partei werden. Man darf sich nicht nur um die Planziffern kümmern. Man muß den Kampf führen gegen jeden bürokratischen Akt, jede Indifferenz, passiven Gehorsam, Rückzug ins Privatleben, dem Sozialismus fremde Handlungsweise: autoritäres Verhalten oben, Servilität und Mangel an kritischem Geist unten, Egoismus auf allen Ebenen.

Um einer solchen Aufgabe gewachsen zu sein, will die albanische Partei über eine stets wachsende Zahl von Mitgliedern aus der Arbeiterschaft verfügen. Im Albanien König Zogus war die Industrie nur schwach entwickelt, das Proletariat spielte seine führende Rolle vor allem mittels seiner Ideologie. Heute stellen die Arbeiter einen bedeutenden Teil der Bevölkerung. Man will dafür sorgen, daß sie auf allen Stufen — von der Basis bis zur Spitze — vertreten sind; man bezeichnet es als Fehler der Revisionisten, vor allem Intellektuelle, Techniker, Beamte für die Partei zu werben. In jedem Betrieb, auf jedem Qualifikationsnieveau muß eine entsprechende Proportion von Arbeitern der Partei angehören. Derzeit sind 36,41 Prozent der Parteimitglieder Betriebsarbeiter.

Will man, daß die politische Macht der Partei jene der Arbeiterklasse sei, dann genügt es nicht, daß die Partei die Klasse im Sinn des Parlamentarismus vertritt: ein Abgeordneter wird für vier oder fünf Jahre gewählt und kann während dieser Zeit seine Klasse nach Belieben verraten. Die Partei muß Repräsentation der Klasse sein, im Sinn materieller und moralischer Verbundenheit, gemeinsamer Interessen und Aspirationen. Die Albanische Partei der Arbeit hat ihre Grundorganisationen unter Arbeiterkontrolle gestellt: die Zellen vollzienen die Aufnahme neuer Mitglieder, die Wahl der Funktionäre, den Ausschluß inaktiver oder unwürdiger Mitglieder nach Beratung mit der Masse einfacher Menschen, in deren Mitte sie arbeiten; die Erkundung der Meinung der „Parteilosen“ wird immer mehr als eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Aufgabe der Parteimitglieder betrachtet. Alle möglichen Mittel werden zu diesem Zweck verwendet: Wandzeitungen, Diskussionen in den Betrieben, Einladung von Arbeitern, die dies wünschen, zu Zellensitzungen. So spiegelt die Grundorganisation in ihrer Zusammensetzung, Arbeit und Auswahl ihrer Funktionäre das konkrete Leben der Menschen am Arbeitsplatz und am Wohnort wider.

Bei Aufnahme neuer Mitglieder geht es nicht nur um deren persönliche Verdienste als Revolutionäre. Es geht auch darum, jene Arbeiter zu werben, die dort, wo sie sind, den Standpunkt eines bestimmten Teils ihrer Klasse ausdrücken; es soll überall, in jedem Betrieb und in jeder Werkstatt, der Strom von den Parteilosen zu den Parteimitgliedern fließen.

Es versteht sich von selbst, daß der Strom nicht nur in einer Richtung fließen soll: es geht ebenso um die führende Rolle der. Grundorganisation der Partei gegenüber der Arbeiterklasse, wie um die Kontrolle der Arbeiterklasse über die Partei. Politische Diskussionen in der Zelle über Weisungen des Zentralkomitees oder der Bezirksleitung haben das Ziel, diese Weisungen zu verstehen und unter den Massen anzuwenden; die Arbeiter sollen in ihrer Gesamtheit über jedes Ereignis des Parteilebens Bescheid wissen.

Wäre es Hauptaufgabe der Partei, mit Sachen umzugehen, mit ihrem Apparat den Staatsapparat zu verdoppeln und zu überwachen, dann würde sie die physische Präsenz in den Betrieben nicht brauchen. Ihre Organisation soll aber im wesentlichen unter den Menschen wirken, in Wirklichkeit, nicht nur auf dem Papier, die Partei der Arbeiterklasse sein, Instrument ihrer Diktatur im marxistischen Sinn, das heißt Instrument ihrer politischen Macht.

In der Grundorganisation der Partei besteht daher der Widerspruch zwischen Führenden und Geführten: der Widerspruch zwischen Führung der Klasse durch die Partei und Kontrolle der Partei durch die Klasse. Jede Grundorganisation hat daher eine doppelte Verpflichtung: sie drückt die Interessen der Arbeiter in ihrem Wirkungsbereich aus; und sie verkörpert die politischen Perspektiven, die das Zentralkomitee im nationalen Maßstab formuliert, sobald ihm die Bedürfnisse und Wünsche aller Betriebe im ganzen Land bekannt sind. Es wäre absurd, zu leugnen, daß es zwischen dem von der Basis aufsteigenden und dem von der Spitze absteigenden Strom nicht zu Konflikten kommen kann.

In einem solchen Fall gibt es zwei Typen von falschen Lösungen: Wird der Wille der Basis mechanisch geopfert, dann hat die Zelle nur noch die Aufgabe, dem Zentrum zu gehorchen. Das Zentrum wird von den Massen getrennt. Die Bürokratie ergreift die Macht. Nimmt jedoch die Organisation sich nur der partiellen Perspektiven von Werkstatt oder Betrieb an, verliert die Arbeiterklasse als Ganzes jede Möglichkeit, zu kollektivem Bewußtsein zu gelangen, die Partei zerfällt in eine Vielzahl von Einzeltruppen. Der Betriebsstandpunkt verdrängt den Standpunkt des Proletariats. Die Wirtschaft triumphiert über das politische Denken.

Dieser Widerspruch ist — um den marxistischen Terminus zu verwenden — kein „antagonistischer“ Widerspruch. Er kann durch politische Diskussion und Arbeiterinitiative gelöst werden. Er kann freilich auch zum brutalen Konflikt zwischen einem autoritären Zentrum und einer passiven oder revoltierenden Klasse ausarten. Alles hängt ab von den Methoden, von der „Massenlinie“, von dem, was die Albaner „schöpferische Anwendung der leninschen Normen“ nennen.

Da die Grundorganisation im Mittelpunkt der Diskussion steht, sie allein dieses schwierige Verhältnis in der Praxis ausleben muß, liegt es an ihr, das Problem zu lösen. „Die Freiheit der einfachen Mitglieder“, erklärte Enver Hodscha, „muß gegen jede bürokratische Deformation geschützt werden.“ Er wandte sich gegen die „Neigung der einen, es an Geschicklichkeit und Mut fehlen zu lassen und auf fertige Lösungen von oben zu warten“, und gegen die „Neigung der anderen, der führenden Parteikader, sich in alles einzumischen und alles sebst entscheiden zu wollen ... Weisungen, Instruktionen, Beschlüsse des Zentrums sollen nicht lang und detailliert sein, erstens um der Klarheit willen und zweitens, weil es der Grundorganisation obliegt, zu entscheiden, wie die Beschlüsse in die Praxis umzusetzen sind. Die Partei der Arbeit hütet sich vor allen Manifestationen von Intellektualismus und Bürokratismus. Alle Arbeits- und Organisationsformen sollen dazu beitragen, die Grundorganisationen und die Mitglieder in Bewegung zu setzen, ihre Initiative zu fördern, die induviduelle und kollektive Verantwortlichkeit jeder Zelle und jedes Kommunisten zu stärken“. (Enver Hodscha, Referat auf dem 6. Parteitag).

III. „Schöpferischer Leninismus“

Der Verfasser dieser Zeilen hat umso mehr Verständnis für die albanische Theorie von der Initiative der Mitglieder, als er sechundzwanzig Jahre lang der Kommunistischen Partei Frankreichs angehörte, wo es nichts diesem schöpferischen Leninismus Vergleichbares gibt.

Jede Vorstellung, eine Revolution könnte ohne schöpferische Partei zustandekommen, wird in Albanien als Utopie oder als Verrat bezeichnet. Gewiß, Enver Hodscha erinnert daran, daß in manchen Ländern die Politik der revisionistischen Organisationen ehrliche Revolutionäre bewogen hat, nur noch spontanen Bewegungen zu vertrauen. Aber Ehrlichkeit sei eine Charaktereigenschaft; sie verbürge keineswegs die Wirksamkeit einer Aktion.

Es wäre unmöglich, eine Politik der Initiative und Verantwortlichekit der Basis mit Kadern durchzuführen, die eine bürokratische Auffassung von ihrer Macht haben. Gegen diese Gefahr werden Vorkehrungen getroffen. Vor allem gibt es in der Partei noch im Staatsapparat eine Möglichkeit, aus der Arbeiterklasse Profit, Mehrwert herauszuschlagen, auch nicht in Form von Prämien oder Leistungsentgelt. Zwischen einem Hilfsarbeiter und dem obersten Funktionär des Staates herrscht ein Einkommensverhältnis von 1 zu 3. Kein Albaner kann mehr als dreimal soviel verdienen wie ein anderer.

„Autoritärer Befehlsgeist“, das heißt die Neigung, sich mit Machtmitteln durchzusetzen, passive Disziplin, blinde Unterwerfung zu fordern, ist radikal verpönt. In dieser Hinsicht war es interessant, einer Diskussion zwischen einem Gebietsverantwortlichen — was bei uns dem Bezirkssekretär entspricht — und einem Zellensekretär beizuwohnen. Jener hat nicht die Aufgabe, diesem sein Vorgehen vorzuschreiben, sondern ihm eine Generallinie, eine allgemeine revolutionäre Orientierung zu geben und ihm auch Möglichkeit und Mittel einer Analyse zu bieten, also ihn zur Eigeninitiative anzuregen. Gewiß, ich bin nicht Zeuge eines Konflikts gewesen. Aber auf der Grundlage klarer Prinzipien und einer permanenten Diskussion sind häufige und ausführliche interne Debatten möglich, ohne sich in Konflikte zu verwandeln.

Die Verschmelzung der Partei mit den Massen, um sie zur Aktion und zur Kritik zu mobilisieren, ist kennzeichnend: die regierende Partei will sozusagen ihre eigene Opposition sein. Sie kämpft gegen die „Indifferenz“, gegen die Neigung mancher Bürger — zufrieden mit dem Anstieg des Lebensniveaus und Lebensstils —, passiv alles den Führenden zu überlassen.

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