Liebe Leserin, lieber Leser!
Der Schwerpunkt dieses Heftes ist der Genozid an den Armenierinnen in der Türkei: „Aghet“. Staatlich gelenkte Pogrome gab es seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, im Zuge des Ersten Weltkriegs wurden zwischen einer und zwei Millionen ArmenierInnen ermordet. Die Türkei beginnt erst jetzt langsam, sich mit diesen Massakern auseinanderzusetzen, verstärkt durch den Wunsch, Mitglied in der Europäischen Union zu werden. Doch gerade offizielle Kreise bleiben vorerst dabei, das Geschehene totzuschweigen oder zu verleugnen, wie sich an der Anklage gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk wegen „Beleidigung des Türkentums“ zeigt. Pamuk wird dafür angeklagt, dass er gegenüber einer Schweizer Zeitung sagte: „Man hat hier 30.000 Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen. Also mache ich es.“ Ihm drohen bis zu drei Jahre Haft, der Prozess wird im Februar fortgesetzt.
Aber nicht nur in der Türkei, auch in der Schweiz und in Österreich weiß man nicht recht umzugehen mit dem Genozid. In der Schweiz steht es im Gegensatz zu Österreich oder Deutschland unter Strafe, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ im allgemeinen — und darunter fällt der Mord an den ArmenierInnen — zu leugnen. Außerdem gab es gerade in der Schweiz eine große armenische Gemeinde und viele intellektuelle TürkInnen, die Informationen zu Verbrechen an ArmenierInnen sammeln und veröffentlichen konnten, wie Rupen Boyadjian herausarbeitet.
Die Organisation LICRA (Ligue Internationale Contre le Racisme et l’Antisémitisme) veröffentlichte im September 2005 einen Brief an den Präsidenten des Europäischen Parlaments, in dem sie den Umgang mit dem Genozid an den ArmenierInnen in direktem Zusammenhang mit dem Erinnern an die Shoa sieht. „Deshalb glauben wir, dass die Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei verfrüht sind, solange das Land diese Sache (den Genozid, Anm. K.R.) leugnet. (...) Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments dürfen nicht vergessen, dass sie die Hüter der Werte der EU sind, besonders des Geschichtsbewusstseins.“
Die Fotos für den Schwerpunkt stammen von der Seite http://www.armenian-genocide.org/photo_wegner.html. Armin Wegner war beauftragt, in seiner Rolle als Leutnant der deutschen Armee den Genozid an ArmenierInnen zu dokumentieren. Verbotenerweise bewahrte er die Fotos auf und machte sie so einer größeren Öffentlichkeit zugänglich.
Außerhalb des Schwerpunkts führte Thomas Schmidinger ein Interview mit der Sudanesin Kamilla Ibrahim Kuku Kura, die gemeinsam mit anderen Frauen eine Initiative zur Stärkung der in den Armenvierteln der Hauptstadt Khartoum lebenden Menschen startete. Gemeinsam mit Mary Kreutzer sprach Thomas Schmidinger mit Mufid al-Jazairi, Mitglied des Zentralkomitees der Irakischen Kommunistischen Partei und ehemaligem Kulturminister in der ersten Übergangsregierung nach dem Sturz Saddam Husseins, über die neue irakische Verfassung, die Wahlen und den Rückzug der US-Truppen, der seiner Meinung nach erst Sinn macht, wenn es einen funktionierenden irakischen Staat gibt.
Agniezka Oleszak schreibt über Frauenräume in der Zionistischen Weltorganisation 1897-1920. Wiewohl den Frauen aktives und passives Wahlrecht zugestanden wurde — zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht selbstverständlich —, blieben sie doch „das andere“, das im Wesentlichen für die Reproduktion zuständig war. Die Gründung der International Women Zionist Organisation (W.I.Z.O.) sollte ein Gegenmodell darstellen, ein Ort, an dem Frauen autonom und selbstbestimmt handeln können. Das Einnehmen von Räumen ist auch das Thema von Heide Hammers Artikel. Sie gibt einen Überblick über die Geschichte von Hausbesetzungen und HausbesetzerInnen, gerade auch im Hinblick auf den Verkauf des EKH in Wien. Und sie zeigt, dass zwar nicht alle Häuser besetzt bleiben, die Idee aber in der Ablehnung des Überfließenden und Überflüssigen weiterlebt.
Zum Schluss des Heftes gibt es wieder eine ganze Reihe von Rezensionen, unter anderem über Neuerscheinungen zu Antisemitismus, Antiamerikanismus und völkische Tendenzen in der Minderheitenpolitik in Europa.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Replik von Sebastian Winter auf Andreas Pehams Artikel zum Christentum und die Widerrede von Andreas Peham. Die Texte sind einerseits spannende Lektüre für intime KennerInnen der Materie, andererseits sollen sie daran erinnern, dass die Context XXI kein Berieselungsorgan ist, sondern im Dialog mit ihren LeserInnen stehen will und sich deshalb immer über Erwiderungen freut!

koordinierende Redakteurin
