Heft 5/2000
September
2000

Modell Wien

Avantgarde der Vernichtung

In den historischen Forschungen zum Nationalsozialismus und der Shoah ist in den letzten Jahren immer wieder auf die große Bedeutung hingewiesen worden, die Wien für die Politik der Nazis besaß. In den Monaten nach dem sogenannten „Anschluß“ im März 1938 wurde diese Stadt in mehrerlei Hinsicht zu einem Experimentierfeld für die diversen deutschen Planungsstäbe.

Daß Wien als Experimentierfeld für die Umsetzung nationalsozialistischer Politik fungierte, trifft insbesondere auch auf die nationalsozialistische „Judenpolitik“ zu, so daß in diesem Zusammenhang häufig von einem „Modell Wien“ die Rede ist.

Bereits Anfang der neunziger Jahre analysierten Götz Aly und Susanne Heim unter Verwendung dieses Begriffes den Versuch, die vergleichsweise hoffnungslos darniederliegende Wirtschaft binnen kürzester Zeit grundlegend umzugestalten und an die wirtschaftliche Entwicklung des Reiches anzupassen. Die dabei in Gang gesetzte Politik beruhte vor allem auf der Verbindung zweier Faktoren. Einerseits sollten in einem enormen Rationalisierungsschub unrentable Betriebe geschlossen werden, um so den verbleibenden Unternehmen bessere Rahmenbedingungen zu verschaffen. Andererseits dienten diese Maßnahmen der gewünschten zügigen „Entjudung“ der Wirtschaft: Indem die überwiegende Mehrzahl der sich in jüdischem Besitz befindlichen Betriebe den Rationalisierungen zum Opfer fielen und die restlichen „arisiert“ wurden, konnten die Kosten dieser Politik beinahe vollends auf die Juden und Jüdinnen überwälzt werden, die gleichzeitig ihrer Einkommensquellen beraubt wurden. Die Umsetzung dieses Programmes ging schnell und plangemäß vonstatten. „Die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte in Wien sank innerhalb weniger Monate auf die Hälfte. Im Handwerk wurden 83 Prozent der jüdischen Betriebe stillgelegt, in der Industrie 26 Prozent, im Wirtschaftssektor Verkehr 82 Prozent. Von insgesamt 86 Banken blieben acht übrig.“ [1] Diese aus Sicht der NationalsozialistInnen äußerst erfolgreiche Politik wurde zum Vorbild für wirtschaftliche Rationalisierungen und „Arisierungen“ in den von Deutschland besetzten Gebieten Europas (z.B. in den Niederlanden). Auch die zur Vertreibung der pauperisierten jüdischen Bevölkerung neu eingerichtete Institution sollte alsbald Modellcharakter erhalten.

Unter der Leitung von Adolf Eichmann wurde im Palais Rothschild in der Prinz-Eugen-Straße (dem heutigen Standort der Arbeiterkammer) die Zentralstelle für jüdische Auswanderung eingerichtet. Zwischen März 1938 und Juli 1939 gelang es den „Eichmann-Männern“ über 100 000 Juden und Jüdinnen aus der „Ostmark“ zu vertreiben. Die Opfer erhielten die für die Ausreise nötigen Papiere und Devisen erst, nachdem sie ihr gesamtes Vermögen an den deutschen Staat abgetreten hatten. Mit einem Teil des Geldes der reicheren Juden und Jüdinnen wurde die Ausreise der ärmeren finanziert. Im Vergleich zu den deutschen Erfahrungen mit der Politik der forcierten Auswanderung waren die Ergebnisse aus der Sicht der Nationalsozialisten hierzulande so beeindruckend, daß nach dem Wiener Vorbild in Prag und Berlin ebenfalls Zentralstellen für jüdische Auswanderung eingerichtet wurden.

Wenngleich die Arbeit von Aly/Heim für die historische Forschung von großer Bedeutung war, wurden die darin gezogenen weitreichenden Schlußfolgerungen scharf kritisiert. Die Annahme es gäbe eine „Ökonomie der Endlösung“, innerhalb derer auch Auschwitz und der millionenfache Mord letztlich noch auf utilitaristische Ziele zurückgeführt werden könnten, wurde zurecht als ein untauglicher und unhaltbarer Versuch der Rationalisierung der Shoah zurückgewiesen.

Abb. A
Wer wen „angeschlossen“ hat

In der Debatte um die Thesen von Aly/Heim plädierte Dan Diner dafür, einen historiographischen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Nur aus der Perspektive der sogenannten „Judenräte“ sei es möglich, die nationalsozialistische Vernichtungspolitik als Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Bruch zu begreifen: Kontinuität, insofern sie an die Jahrhunderte alten Methoden der Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden und Jüdinnen anschloß; Bruch, insofern die Shoah historisch beispiellos war und ist. Die Perspektive der „Judenräte“ offenbare jene „historische Krise“, die der Holocaust markiert. „Es handelt sich hierbei um die Krise von universellen handlungsanleitenden Denkformen, die auf Utilitarismus, Nützlichkeitserwägungen und Selbsterhaltungsabsicht des Feindes spekulieren. In ihrem antizipatorischen Handeln gegenüber den Nazis reagierten die Judenräte auf ein von ihnen angenommenes traditionell Böses (...)“, [2]. und sie mußten mit diesem Handeln scheitern, weil das deutsche Vernichtungsprogramm immer bereits zumindest einen Schritt weiter war, als es für die Repräsentanten der jüdischen Gemeinden vorstellbar gewesen war.

Instanzen der Ohnmacht

Doron Rabinovici nimmt in seiner unlängst erschienenen Studie über die jüdische Gemeinde Wiens in den Jahren zwischen 1938 und 1945 die von Diner geforderte Perspektive der „Judenräte“ ein und verdeutlicht in seiner Arbeit erneut, welch enorme Bedeutung Wien für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik hatte. [3]

Die Wiener Juden und Jüdinnen befanden sich ab März 1938 in einer Situation, die selbst innerhalb des „Deutschen Reiches“ beispiellos war. Sie wurden dabei „(...) nicht Opfer einer von außen kommenden Politik. Jene Ausschreitungen und Raubzüge, die bisher in Deutschland unvorstellbar gewesen waren und nunmehr das ganz besondere Ambiente des nazistischen Wiens ausmachten, setzten nicht erst nach dem Einmarsch der deutschen Truppen, sondern bereits in der Nacht davor ein.“(57) Der ungezügelte antisemitische Terror veranlaßte selbst die neuen Machthaber, mäßigend auf die aufgepeitschte Bevölkerung einzuwirken. Zwei Tage nach dem Einmarsch deutscher Truppen wurden die wilden Ausschreitungen und unkoordinierten Enteignungen untersagt. Zweifellos waren die nationalsozialistischen Behörden nicht weniger antisemitisch eingestellt als das nunmehr zur Tat schreitende Volk, doch war ihnen der regellose Aufruhr ein Dorn im Auge. Nicht zuletzt aufgrund der negativen Erfahrungen mit gewalttätigen Ausschreitungen im Deutschland nach der „Machtergreifung“ 1933 wollten sie der „Entfernung“ der Juden und Jüdinnen aus der „Volksgemeinschaft“ zumindest nach außen hin einen rechtsstaatlichen Anschein verpassen. [4]

Unmittelbar nach dem „Anschluß“ begann die „Säuberung“ der „ostmärkischen“ Gesellschaft: Allein im Jahr 1938 wurden knapp hundert antijüdische Gesetze, Erlässe etc. in Kraft gesetzt. Die Juden und Jüdinnen wurden unter anderem aus etlichen Berufen ausgeschlossen, beinahe jeder Erwerbsmöglichkeit beraubt und dadurch das Überleben tausender Menschen von karitativen Einrichtungen abhängig gemacht, freilich ohne daß die Betroffenen auf Unterstützung durch „nichtjüdische“ Organisationen hoffen konnten. Doch auch von der Israelitischen Kultusgemeinde, die über eine Vielzahl von Sozialeinrichtungen verfügte, war zunächst keine Hilfe zu erwarten. Sie hatte ab dem 18. März ihre Tätigkeiten einzustellen und durfte erst am 2. Mai 1938 ihre Arbeit wieder aufnehmen — als ohnmächtige Instanz der nationalsozialistischen Herrschaft, die zwar bis auf weiteres den Namen beibehielt, mit der Vertretung einer autonom handelnden jüdischen Gemeinde allerdings kaum noch etwas gemein hatte.

Abb. B
Wer wen „angeschlossen“ hat

Die besondere Lage der österreichischen Juden und Jüdinnen verdeutlicht Rabinovici unter anderem anhand des sogenannten Novemberpogroms. Während die Ereignisse in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 für die jüdischen Gemeinden im „Altreich“ eine einschneidende Wende bedeuteten, unterschieden sie sich in Österreich nur quantitativ von den Geschehnissen der vorangegangenen Monate. Bereits im Oktober wurden in Wiener Synagogen die Fenster zerschlagen, wurden Gebetshäuser zerstört und wurde der große Tempel im 2. Bezirk angezündet. „Auf den Punkt gebracht, ließe sich sagen: Während im März 1938 der“Anschluß„Österreichs an das Deutsche Reich erfolgte, wurde mit dem Novemberpogrom 1938 der Anschluß des“Altreichs„an die“ostmärkische Judenpolitik„vollzogen. Die vorhergehenden Ausschreitungen in Wien mögen erklären, warum das Novemberpogrom dort brutaler als in vielen anderen Städten ablief. (...) Der antisemitische Mob hatte die Gewalttaten schon eingeübt.“(124)

Rabinovici beschreibt die verschiedenen Etappen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik: von den verzweifelten Fluchtversuchen der Juden und Jüdinnen über die ersten Deportationen bis hin zur massenhaften Verschleppung in die Vernichtungslager. Dabei stützt er sich im Gegensatz zum überwiegenden Teil der Holocaustforschung nicht auf die Sichtweise der deutsch-österreichischen Täter, sondern auf die überlieferten Berichte der Opfer. Sein Hauptaugenmerk richtet er auf die Handlungen und Handlungsmöglichkeiten der Kultusgemeinde und arbeitet genau heraus, daß deren MitarbeiterInnen in einem Dilemma gefangen waren, aus dem es keinen Ausweg gab.

Hannah Arendt bemerkte anläßlich des Eichmann-Prozesses 1961, die deutsche Vernichtungspolitik gegenüber den Juden und Jüdinnen wäre zwar auch ohne die Kooperation der „Judenräte“ gleich schrecklich gewesen, doch wären die Deutschen ohne die Zusammenarbeit mit den jüdischen Gemeinden wohl kaum in der Lage gewesen, so viele Menschen zu ermorden. [5] Rabinovici wird dagegen nicht müde festzustellen, daß sich für die Kultusgemeinde die Frage, ob sie mit den Nationalsozialisten kooperieren oder jegliche Zusammenarbeit verweigern solle, gar nicht stellte. Schon allein um die jüdische Selbsthilfe für die vielen Verelendeten organisieren zu können, mußte sie von den deutschen Behörden als Verwaltungsinstanz zugelassen werden. So waren im Dezember 1939 von den 55.000 in Wien verbliebenen Juden und Jüdinnen 50.000 auf Essensausgaben und andere Unterstützungen angewiesen, ohne die sie schlicht und einfach verhungert wären.

Die Nazis hatten durchaus ein Interesse daran, die Gemeinde als Ausführungsorgan der Behörden bestehen zu lassen. Aus Sicht der jüdischen Funktionäre hingegen war die Zusammenarbeit mit den Verfolgern die einzige Möglichkeit, um zumindest den Versuch zu unternehmen, das Leid der Opfer ein wenig zu lindern sowie Fürsorge und Flucht zu organisieren. Damit war die Kultusgemeinde jedoch in jenem objektiven Widerspruch gefangen, der zum Charakteristikum aller „Judenräte“ im deutschen Herrschaftsgebiet wurde: Einerseits unternahm sie enorme Anstrengungen in dem Versuch, den Juden und Jüdinnen unter sich rapide verschlechternden Bedingungen ein Weiterleben zu ermöglichen. Andererseits wurde sie dadurch zu einem ausführenden Organ der nationalsozialistischen Vertreibungs- und Vernichtungspolitik — freilich ohne auf die Gestaltung dieser Politik Einfluß nehmen zu können. Die Wiener Kultusgemeinde wurde zum Vorläufer und Prototyp der „Judenräte“ im von Deutschland besetzten Teil Europas. „Die jüdische Verwaltung versuchte, Zeit zu gewinnen; sie wollte wenige opfern, um viele zu retten. Jede Entscheidung für das Leben war eine für den Tod. Um das Ghetto zu bewahren, gaben sie es der Vernichtung preis. Alle ihre Strategien, Menschen zu retten, waren zum Scheitern verurteilt.“ (423/424) Pauschale Vorwürfe gegen die Funktionäre der „Judenräte“ gehen somit an der historischen Realität vorbei. „Die jüdische Gemeindeleitung Wiens unterlag denselben Zwängen wie alle Juden, sie verfügte über keine eigene Macht, sondern war zur bloßen Instanz geschwunden, zu einer Instanz der Ohnmacht.“ (426)

[1Aly, Götz/Heim, Susanne: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt/Main 1993, S.38

[2Diner, Dan: Die Wahl der Perspektive. Bedarf es einer besonderen Historik des Nationalsozialismus?, in: Schneider, Wolfgang (Hrsg.): „Vernichtungspolitik“. Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland, Hamburg 1991, S.65-75, hier S.73f

[3Vgl.: Rabinovici, Doron: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt/Main 2000; Alle in Klammern gestellten Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch.

[4Vgl. dazu Hinweise bei Bankier, David: Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat. Die „Endlösung“ und die Deutschen. Eine Berichtigung.

[5Vgl.: Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 19984, S.218f.

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