Moishe Postone über den Zusammenhang von Weltmarkt, Kapitalismus und Antisemitismus
Moishe Postone: Weder die einseitige Unterstützung der PalästinenserInnen noch die Verteidigung der israelischen Armee hat etwas mit einem Lernen aus der Vergangenheit zu tun. Eine Frage, die in diesem Zusammenhang aber schon in den siebzigern gestellt werden konnte, ist, warum plötzlich der Kampf der palästinensischen Nationalbewegung die große Bedeutung gewann, die er für die Linke hatte. Der palästinensische Kampf war für einen Großteil der Linken viel bedeutsamer als der Kampf irgendeiner anderen nationalen Bewegung. Und warum wurde zugleich Zionismus nicht einfach als etwas behandelt, das selbstverständlich als nationalistische Bewegung kritisiert werden konnte, sondern auf eine Art und Weise, die fast antisemitisch war? Der Zionismus wurde dargestellt, als sei er Teil einer weltweiten Verschwörung und als seien Juden deshalb überall anzugreifen.
Es ist sehr unangenehm für nordamerikanische Juden nach Europa zu kommen, und zu bemerken, dass fast jede Synagoge seit den siebziger Jahren von der Polizei bewacht werden muss. Diese Bedrohung wird einfach als Teil eines „Befreiungskampfes“ hingenommen, ohne dass die Leute wirklich hinterfragen, was die Vorgehensweisen von „Befreiung“ sind. Der African National Congress zum Beispiel ist niemals auf eine solche Art und Weise vorgegangen, sondern lehnte Angriffe auf Zivilpersonen aufgrund seiner politischen Prinzipien ab. Die Linke aber scheint jede Fähigkeit verloren zu haben, zwischen den verschiedenen Taktiken und Strategien zu differenzieren, die von verschiedenen nationalen Bewegungen benutzt werden. Das alles bedeutet nicht, dass eine „Lehre aus der Vergangenheit“ gezogen wurde. Im Gegenteil mir scheint es, als ob die Vergangenheit einfach weitergeht. Wenn heute Leute Sharon mit Bezug auf die Vergangenheit verteidigen, lässt sich das vielleicht auch als eine Reaktion auf 30 Jahre sehr, sehr unkritische linke Politik mit Bezug zum Nahen Osten verstehen. Es hat an sich, aber sehr wenig mit einem Lernen aus der Vergangenheit zu tun.
Ich benutze diesen Ausdruck nie. Leider wird er gewöhnlich benutzt, um zu sagen, dass eine einfache Lehre gezogen und gelernt wird. Das ist etwas anderes als zu versuchen, die Vergangenheit zu verstehen. Zum Beispiel gab es bis 1945 etwas, das faschistischer Antiimperialismus genannt wurde. Das zu wissen, hätte der Linken in den siebzigern und achtzigern immens geholfen, als sie sowohl progressive als auch faschistische antiimperialistische Bewegungen unterstützte, weil sie einfach unterstellte, dass alles, was sich antiimperialistisch nennt, fortschrittlich sei. Dass das auch viel mit der Politik der Sowjetunion zu tun hatte, sei an dieser Stelle nur angemerkt.
Moishe Postone: Die Bezeichnung „antikapitalistischer Charakter“ habe ich nie benutzt, sondern gesagt, das sei eine fetischisierte Form des Antikapitalismus. Das ist etwas anderes, denn „antikapitalistischer Charakter“ legt nahe, dass der Nationalsozialismus absichtlich und bewusst gegen den Kapitalismus war – was er nicht war. Der Ausdruck, eine „fetischisierte Form des Antikapitalismus“ versucht die besonderen Züge der nationalsozialistischen Revolte in Bezug darauf zu erklären, was den Unterschied ausmacht, zwischen dem, was das Kapital ist und was es zu sein scheint.
Beide sind innerlich miteinander verwoben. Es ist bedeutsam, dass es in Ländern, die vor dem 19. Jahrhundert liberal-bourgeois waren, zwar anti-jüdische Vorurteile gab, aber nicht die Vorstellung, dass die Juden die Welt kontrollieren. Das gibt es nicht in England, das gibt es nicht in Holland, und das gibt es auch nicht in den USA. Das ist so sehr bedeutsam, weil es zeigt, dass es sich hier nicht nur um die abstrakte Frage handelt, ob Kapitalismus Antisemitismus hervorbringt. Antisemitismus ist vielmehr eine Möglichkeit, abhängig vom strukturellen Ort einer Gesellschaft innerhalb der Weltordnung die Macht des Kapitals auf globaler Ebene zu verstehen. Es geht nicht nur um Geld und auch nicht nur um Kapital auf der nationalen Ebene. Antisemitismus hat als Gegenstand internationale Macht. Die Briten und Amerikaner dachten nicht, dass die Juden die Welt kontrollieren. Nicht, weil sie bessere Menschen sind, sondern weil sie sich, bezogen auf den Weltmarkt, an einem anderen Ort befanden. Gesellschaften, in denen die Kapitalakkumulation später einsetzt und deshalb die Vermittlung durch Nationalstaaten stattfindet, Frankreich, Deutschland und Russland, sind Gesellschaften, in denen Antisemitismus sehr stark auftaucht. Es ist also eine historische Frage, die nur betrachtet werden kann, wenn die globalen Positionen der verschiedenen Gesellschaften gesehen werden und nicht als eine rein logische Übung, die nichts mit der historischen Position zu tun hat.
Ich habe Schwierigkeiten auf diesen Einwand zu antworten, weil ich glaube, dass wir die Marxschen Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie vielleicht auf fundamental andere Art verstehen. Mir scheint, dass Ihr die Kategorien so lest, dass sie einem Basis-Überbau-Modell folgen, bei dem die Ökonomie die Basis ist. Die Kategorien der politischen Ökonomie erscheinen dann als ökonomische Kategorien, von denen angenommen wird, sie lägen ökonomischen Gesetzen zugrunde. Ich benutze dagegen die Kategorien als strukturierte Formen, die sowohl Praxen als auch das Bewusstsein strukturieren. Sie sind für mich also, wie Marx sagt, „Daseinsformen“ einer speziellen sozialen Ordnung. Der von Euch aufgemachte, sehr traditionalistische Dualismus von Ökonomie und Denken ist es, den Marx, Lukacs und Adorno, bei all ihren Unterschieden, zu überwinden versuchen.
Zweitens würde ich eher Ebenen der Analyse unterscheiden, als „ökonomistisch“ (sic) und „historisch“ auf derselben Ebene gegeneinander zu setzen. Die Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland sind natürlich ein sehr komplexes Problem. Ein Unterschied ist die Stärke der republikanischen Tradition in Frankreich. Trotzdem war der Antisemitismus der französischen Rechten genauso virulent wie jener der deutschen Rechten.
Ich glaube, das war der Schritt, der eine Erklärung der Weltmacht versuchte, die außerhalb der Kontrolle der Nationalstaaten zu liegen schien. Das ist eine ganz andere Ebene, die bei der Rede von „Reduktion und Verschiebung“ ausgelassen wird. Was ausgelassen wird, ist die Ebene des Weltmarktes. Wo es kein Verständnis des Weltmarktes gibt, beginnen sofort die Verschwörungstheorien. Und die prominenteste Verschwörungstheorie, um den Weltmarkt zu erklären, war Antisemitismus. Und er ist es heute, wie wir sehen, wieder geworden. Die Rede Mahatirs vor der Organisation der Islamischen Konferenz war klassischer Antisemitismus. [2] Sie muss vor dem Hintergrund des dramatischen sozialen und ökonomischen Niedergangs des größten Teils der arabischen Welt während der postfordistischen Umstrukturierung verstanden werden. Wenn so etwas versucht wird, durch Hinweis auf die PalästinenserInnen zu erklären, ist das ein ernstzunehmender Fehler. Denn das bedeutet, dass die gesamte Ideologie nicht ernst genommen, sondern in einer extrem rationalisierenden Weise dargestellt wird. Außerdem führt eine solche Position dazu, dass die Geschichtsideologie der Arabischen Liga für bare Münze genommen wird.
Es gibt ein Problem mit diesen Analogien. Diese Übergriffe ähneln viel mehr früheren Formen von Antisemitismus im Mittelalter: Angriffe auf Menschen, die Kaufleute sind und Geld haben. Weder in Westafrika noch in Indonesien gab es die Idee, dass die InderInnen oder die ChinesInnen die Welt beherrschen. Ich glaube nicht, dass die meisten Leute wirklich verstehen, dass das der zentrale Kern des modernen Antisemitismus ist. Dafür ist Mahathirs Rede ein perfektes Beispiel. Eine Rede darüber, wie eine winzige Minderheit die Welt beherrscht. Diese Minderheit sei sehr schlau, nur so könne sie das. Sie habe Kommunismus, Sozialismus und Menschenrechte erfunden, damit sie unangreifbar ist. Und dann sind da all die muslimischen Staatschefs vom Atlantik bis zum Pazifik, die aufstehen und ihm mit Standing Ovations applaudieren. Während die EuropäerInnen offenkundig nicht einmal glauben, dass dies etwas sei, dass der Beschäftigung wert wäre. Man muss Sharon nicht leiden können, man muss überhaupt nichts an der israelischen Politik mögen, um zu sehen, dass es sich hier um eine extrem gefährliche Ideologie handelt.
Ich habe nie von etwas gesprochen, das sich auf InderInnen in Westafrika oder ChinesInnen in Indonesien übertragen ließe. Mir ging es immer um die Vorstellung von Weltherrschaft. Auch wenn die Situation damals eine andere war und deshalb vielleicht dieser Aspekt nicht so stark betont wurde, habe ich den Antisemitismus nie einfach als pogromhaft dargestellt. Und ich finde auch nicht, dass die Betonung des Weltmarkts eine Position ist, die sich von der Analyse des fetischisierten Antikapitalismus abhebt, weil ich schon damals schrieb, dass diese Ideologie in den Staaten stark wird, in denen eine kapitalistische Modernisierung durch den Staat durchgeführt wird. Es gibt eine Korrelation. In den älteren bürgerlichen Ländern existiert die antisemitische Ideologie nur als Randerscheinung. Dort geht man mit dem Abstrakten anders um.
Das ist eine extrem komplizierte Frage. Ein Teil der Antwort, den ich beschrieben habe, ist die unaufgearbeitete Vergangenheit. Ein anderer Teil ist aber, dass sehr viel von dem, was aus meiner Perspektive in Europa vor sich geht, der Versuch ist, eine gegenhegemoniale Macht darzustellen und das hinter dem Rücken jenes Teils der europäischen Linken, der glaubt lediglich Widerstand gegen den Hegemon USA zu leisten, ohne auch nur zu fragen, ob er vielleicht dazu dient, die Formierung eines europäischen Superstaates anzuspornen, der mit den USA konkurrieren wird. Es geht um eine stattliche, eine Großmacht gegenüber den USA. Teilweise wird diese Strategie sehenden Auges vollzogen. Teilweise wird sie von der Linken aber dadurch getragen, dass, soweit ich es gelesen habe, der Weltmarkt eine amerikanische oder eine amerikanisch-israelische Angelegenheit ist. So habe ich sehr wenig über den Druck gelesen, den Frankreich und Deutschland 2000 auf Saddam Hussein ausgeübt haben, damit für das irakische Öl nicht Dollar als Weltwährung gelten, sondern der Euro. Mit so einer Forderung haben Deutschland und Frankreich natürlich einen im alten Sinn imperialistischen Konflikt mit den USA angekündigt. Für Europa geht es nicht einfach um Neoliberalismus, sondern um die Schaffung eines Superstaates, der ein Rivale der USA wäre.
Diese aufkommende Rivalität ist sehr selten Gegenstand einer kritischen Analyse. Stattdessen wird nur von den USA geredet, was mit dieser beschissenen Regierung in den USA sehr leicht ist. Und dabei hat man die Vorstellung, die EuropäerInnen bedeuteten Frieden, Sicherheit, Vernunft, wofür es überhaupt keine wahrnehmbaren Gründe gibt. Das heißt, es gibt auch in diesem Zusammenhang eine Verschiebung. Aus mehreren solchen spezifischen Gründen wird jetzt Israel zusammen mit den USA als Einheit gewertet. Was es so schwierig macht, ist, dass ein Teil der Kritik an Amerika ganz berechtigt ist. Aber es gibt einen Überhang, ein Surplus, das ideologisch ist.
Das muss zwar nicht so sein, ist aber oft so. Ich finde das komisch, weil hier in den USA die Postcolonial Studies ihren Höhepunkt bereits erreicht haben und gerade von jungen WissenschaftlerInnen durch die Beschäftigung mit dem Kapital auf der globalen Ebene infrage gestellt werden. Ich entnehme der Frage, dass sie in Deutschland im Kommen sind, während sie gerade anachronistisch wurden. Die Postco-lonial Studies sind eine Kritik – und zum großen Teil berechtigte Kritik -, deren Form aber immer die ehemaligen Kolonisierten außer Acht lässt. Wenn man jemanden wie Edward Said liest, lernt man sehr viel über europäische Vorstellungen über den arabisch-muslimischen Raum, aber man lernt nichts darüber, was wirklich die Lage in diesem Raum gewesen ist. In diesem Sinn kann dieser Ansatz zwar einerseits in Ländern wie den USA, Frankreich, England usw. zu einer sehr guten Selbstkritik führen, andererseits hat er aber leider zur Abwesenheit systematischer Kritik an den „real existierenden“ Dritte Welt Ländern geführt, auch derjenigen, die nicht an den USA ausgerichtet waren. Stattdessen ist für sie die ganze Misere nur eine, die von außen hereingetragen wurde. Gerade jetzt, wo der globale Wahhabismus [3] so stark aufkommt, muss diese Art des postkolonialen Denkens relativiert werden. Wenn man jetzt auf diesen Zug aufspringt, finde ich das unglücklich.
[1] Auch als bloß fetischisierte Form des Antikapitalismus setzt das antisemitische Denken einen doppelten Schritt voraus. Einerseits ist der Antikapitalismus fetischisiert, weil nur ein Teil des Kapitalismus in den Blick gerät, die Seite des Wertes, des Geldes und Kapitals, während die kapitalistische Produktion ausgeblendet wird. Andererseits kommt zu dieser Reduktion des Kapitalismus eine Übertragung hinzu. Die sozialen Dynamiken und Effekte, die unter dem Fetisch der Macht des Geldes und des Kapitals wahrgenommen werden, werden auf eine teilweise als konspirativ vorgestellte „jüdische Macht“, die in einer ominösen Weise existiere, übertragen. Erst in dieser Form kann aus der Vernichtung von Menschen die – wie Moishe Postone es genannt hat – „Vernichtung von Wert“ werden. Vgl. Dokumentation aus „Antisemitismus und Nationalsozialismus“.
[2] Der inzwischen abgetretene malaysische Premierminister Mohamad Mahathir hatte als neuer Vorsitzender der Organisation der Islamischen Konferenz bei deren Gipfeltreffen im Oktober gesagt: „Die Europäer töteten sechs von zwölf Millionen Juden, aber heute regieren die Juden die Welt mit Hilfe ihrer Bevollmächtigten.“ Außerdem führte er aus: „Diese kleine Gemeinschaft [der Jüdinnen und Juden – d. Red. ] ist eine Weltmacht geworden. Wir können sie nicht allein mit Muskelkraft bekämpfen, wir müssen auch unser Gehirn benutzen.“ Die Rede Mahathirs wurde von den Delegierten der islamischen Staaten mit Beifall bedacht.
[3] Eine sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert verbreitende Glaubens- und Pflichtenlehre. In Saudi-Arabien ist der Wahhabismus Gründungs- und Staatsdoktrin. Er beinhaltet die Verpflichtung auf die strikte Anwendung der altarabischen Strafgesetze und den Djihad. Ziel ist die Rückkehr zu einem Islam in der ursprünglichen, sich nur auf den Koran berufenden Gestalt.
Phase 2 Leipzig, Nummer: 10/2003, 31. Dezember 2003
