FORVM, No. 452-454
Juli
1991

Mona Lisa

Versuch über Faschismus

Je näher man sie ansieht, desto ferner blickt sie zurück.

Karl Kraus

1. Annäherungen: Die Zweideutigkeit des Faschismus

Je näher man ihn anschaut, desto ferner blickt er zurück: Das berühmte Aperçu von Karl Kraus, mit dem er den vagen Blick der Mona Lisa charakterisiert, könnte man ebensogut auf den Faschismus anwenden.

Was die Mona Lisa angeht, so kann der Beobachter die von ihr fixierte Stelle vielleicht deshalb nicht erkennen, weil sie so außerhalb des durch den Blick des Betrachters gesetzten Rahmens liegt, daß der letztere tatsächlich darauf verzichten müßte, die erstere anzuschauen, um sich an die Stelle zu begeben, die ihrerseits von ihr angeschaut wird.

Mit dem Faschismus ist es nicht viel anders. Um ihn zu begreifen, muß man sich ihn aus der Nähe ansehen. Das heißt, man muß ihn sorgfältig studieren, ihn in seiner Besonderheit würdigen und darf ihn nicht mit anderen „-ismen“ in einen Topf werfen. Ebensowenig darf man vor seiner absurden Monstrosität zurückschrecken, seinen befremdlichen Auswüchsen, seinen archaischen Erscheinungsformen, deren Talmicharakter nicht wenig peinlich berührt. Schließlich — und das ist im Grunde nicht weniger unangenehm — muß man sich auch dann für ihn interessieren, wenn nichts, augenscheinlich, auf Faschismus hindeutet.

Will man ihn aber wirklich begreifen, dann muß man ihn ebensosehr mit gehörigem Abstand betrachten, und das heißt vor allem, ohne daß man sich in das abstruse System seiner „Philosophie“ hineinziehen läßt. Man muß von seiner zugleich lächerlichen und schockierenden Schauseite abstrahieren und ihn rigoros in den Zusammenhang der bürgerlichen Ideologien zurückstellen, den er mit seiner hemmungslosen Brutalität zu sprengen scheint, und ihn in das abstrakte System des Kapitalismus wieder eingliedern, auch wenn er in seinem absurden — und im Grunde nicht weniger abstrakten — Konkretismus ein zugleich alternatives und konkurrierendes, nämlich mythologisches und archaisches System zu konstituieren scheint.

An welchem theoretischen Punkt überschneiden sich nun die beiden Perspektiven? Befindet dieser Punkt sich, ähnlich wie bei der Mona Lisa, außerhalb des Blickkontakts von Faschismus und Bürger und bleibt damit ein wirkliches Paradox, das jeder analytischen Anstrengung widersteht?

Wenn man aber von einem intimen Zusammenhang zwischen Faschismus, Kapitalismus und Bürgertum ausgeht — wie er ja auch nirgends bestritten und zum Beispiel von Agnoli mit großer Selbstverständlichkeit behauptet wird [1] —, dann fragt es sich allerdings, wie es überhaupt zu jenem „Blickverlust“ kommen kann, der jedes ernsthafte Begreifen hintertreibt. Handelt es sich um eine Art geographischen oder physikalischen Bruchs, der freilich, anders als im Fall der Mona Lisa, wo es sich um eine unvorhergesehene Entfernung handelt, nur der Effekt einer allzu großen Nähe, einer allzu engen Verwandtschaft sein könnte, dergestalt, daß es zu Konvergenzproblemen käme wie häufig dann, wenn man etwas von nahem sieht. Oder — um die Frage noch komplizierter zu machen bzw. auf das erwähnte Paradox zurückzukommen — ist es einfach so, daß immer dann, wenn man sich bemüht, den Faschismus unter einem abstrakten Gesichtspunkt zu betrachten, das heißt unter dem Gesichtspunkt seiner natürlichen Verwandtschaft mit Kapitalismus und Bourgeoisie, eine andere Ansicht von ihm sich dazwischenschiebt, die daher rührt, daß der Betrachter selbst Kapitalist und Bürger ist, folglich in irgendeiner Weise Faschist sein muß, daß er zumindest, wie die Psychoanalytiker sagen, faschistische „Anteile“ hat, die durch die psychologische Person eingefärbt sind, die, in der Gestalt des vertraulichen „Ich“, der Bürger ja ebenfalls ist. Oder ist es schließlich so, wie es in den algebraischen Formeln dargestellt wird, daß in einer Gleichung: x = fk + fb; x=f(k + b), f, nämlich Faschismus, bevor es herausgenommen und zusammengeführt wird, mehrfach in so engen, um nicht zu sagen symbiotischen mathematischen Verbindungen mit jeweils Kapitalismus und Bürgertum erscheint, daß es schwierig ist zu erkennen, daß in fk und fb f (= Faschismus) jeweils identisch ist?

2. Umwege, Abwege: Das Triebmodell

Vielleicht hilft die Mona Lisa hier weiter. Schließlich geht auf sie bzw. auf das an ihr, was Karl Kraus in seinem einzigartigen Aperçu zusammengefaßt hat, die Suggestion zurück, es könne so etwas wie einen neuen Zugang zum Faschismusproblem geben, der der komplexen Widersprüchlichkeit der Sache angemessen ist. Wie kommt es bei ihr, die sich dem forschenden Blick des Betrachters doch nie anders als aus ungeschützter Nähe darbieten kann, zu jener Entfremdung, die die normale Blickentfernung unversehens in einen unüberbrückbaren Abgrund verwandelt und die bewundernde Hinwendung ebenso wie die kalte, prüfende Beurteilung in einer regelrechten Verstörung enden läßt?

In seinem Essay über „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ stellt Freud die für seine Zeit befremdliche Behauptung auf, das „merkwürdige, berückende und rätselhafte Lächeln“ — zweifellos die Ursache für Kraus’ Bemerkung —, das Leonardo „auf die Lippen seiner weiblichen Figuren gezaubert hat, ein stehendes Lächeln auf langgezogenen, geschwungenen Lippen“, [2] sei der sichtbare Ausdruck einer unbewußten Erinnerung an das Lächeln seiner Mutter. In ihm verkörpere sich ein Triebschicksal, nämlich eine alle andern Frauen als Liebesobjekte ausschließende, notwendig in Homosexualität mündende überschwengliche Liebe zur Mutter.

Wenn man die heutige intellektuelle und moralische Situation bedenkt, die sich sowohl durch eine überbordende Fülle und entsprechende Beliebigkeit von Interpretationen als auch, zumindest in der öffentlichen Meinung, durch eine schier grenzenlose sexuelle Freizügigkeit auszeichnet, was bleibt von Freuds Entdeckung dann übrig? Übrig bleibt — oder vielmehr übrig bliebe, wenn nicht genau dieser „Rest“ durch den „Reichtum“ von Ansichten und Praktiken liquidiert würde — der konflikthafte Charakter der homosexuellen Liebe selbst. Denn diese Liebe, jedenfalls so, wie Freud sie faßte — und vermutlich hatte er weniger die besondere Empirie des „Schwulseins“ als den immanenten Widerspruch der Liebe selbst im Blick —, diese Liebe ist nicht nur durch ein allgemeines Problem der gesellschaftlichen Akzeptanz charakterisiert, vielmehr kennzeichnet das Akzeptanzproblem auch die homosexuelle Liebe selbst, da die ambivalenten, sprich aggressiven libidinösen Strebungen hier stärker beteiligt oder weniger verdrängt sind als bei der heterosexuellen Liebe, dergestalt, daß der Homosexuelle tatsächlich Schwierigkeiten hat, seinen Partner zu „akzeptieren“, und bei viel „Liebe“ wenig „Glück“ zustande kommt, das heißt keine friedfertige Perspektive sich eröffnet, die eine dauerhafte Liebesbeziehung möglich macht, in der die wenig sozialen Partialtriebe unterdrückt werden können.

Was hat nun diese Interpretation der Mona Lisa als unbewußte Darstellung der Homosexualität Leonardos — alles in allem also der Ausflug in das Gebiet der prägenitalen Triebe — mit dem Faschismus zu tun? Muß sich der bürgerliche Intellektuelle, wenn er den Faschismus zu begreifen versucht, darauf gefaßt machen, daß er bei ihm auf etwas ebenso natürlich Unlösbares wie Unvermeidliches, etwas ebenso Inakzeptables wie mit Vehemenz Verfochtenes, etwas ebenso Verdrängtes wie unerbittlich Realisiertes, etwas ebenso Eigenes wie uneinholbar Fremdes stößt, wie die Ambivalenz — in der Theorie Freuds — für den gesamten Bereich der Sexualität es nun einmal darstellt? Und ist dieser seit dem Bestehen der Freudschen Triebtheorie gewohnte und geradezu mit Routine erwartete Schock wirklich alles, worauf er sich gefaßt machen muß? Davon abgesehen: Kann der Gewinn eines solchen Vergleichs — und dieser Gewinn wäre in etwa in die These zu fassen, daß es ebenso unmöglich ist, den Bürger begrifflich vom Faschismus zu sortieren und ihm eine von diesem unabhängige, isolierte Existenz zuzuweisen, wie es unmöglich ist, eine definitiv nicht ambivalente Sexualität zu konstituieren —, die Beleidigung aufwiegen, die mit ihm den Homosexuellen zugefügt wird? Könnte seine Zweideutigkeit nicht umgekehrt ein Beweis dafür sein, daß der offenen, „unneurotischen“ Form der Überlegung zum Trotz an ihm, dem Vergleich selbst, und der mit ihm unvermeidlich einhergehenden Substantiierung des Faschismus zum wie immer zerstörerischen Antrieb oder originalen Triebmoment etwas faul ist?

Die Sache ist schwierig, zumal es immer wieder den Versuch gibt, den Faschismus irgendwo außerhalb des von Kapitalismus und Bourgeoisie konstituierten Zusammenhangs, am besten im vertrauten Nirgendwo proletarischen Eroberungs- und Selbstfindungsstrebens anzusiedeln und die Anerkennung seiner als ein bürgerliches Schicksal immer noch aussteht, wie etwa die fortdauernde Idealisierung bürgerlicher Lebensvorstellungen selbst bei „fortschrittlichsten“ Gruppen beweist. Im übrigen dürfte der Vergleich eigentlich nur denjenigen erschüttern, der sich von Sexualität und sexueller Entwicklung eine illusionäre, harmonistische, insgesamt kindische Vorstellung macht — so als wäre sie nicht eine „eigenständige Interessensinstanz“, gar eine „Form von Unglück“, [3] so als könnte die sexuelle Neigung das „geneigte“ Individuum nicht mit der Wucht eines Schicksalsschlags treffen, die je spezifische „Objektwahl“ es nicht als die bösartigste, es selbst notfalls mit hinwegraffende Fremdbestimmung heimsuchen — und der zur Homosexualität also genau das auf überbrückende Toleranz zu gesichert Fremdem scheinheilig gegründete Verhältnis hat wie, bloß mit anderem Vorzeichen, zum Faschismus.

Bleiben wir, um uns über die Tragweite dieser Einwände klarzuwerden, noch für einen Augenblick im Binnenbereich bürgerlicher Argumentation, und formulieren wir versuchsweise noch einmal den expliziten Schluß: daß der Faschismus den regressiven, ambivalenten und im ganzen feindseligen Charakter der Beziehung von Bourgeoisie und Kapitalismus repräsentiert — was ja zugleich unerhört kühn und verdächtig nichtssagend klingt —, daß er im Gegensatz etwa zu ihrem im Begriff des anthropologisch stabilen, „klassischen Menschenbilds“ zusammengefaßten aufgeklärten, humanen, liberalen Charakter den entmischten Charakter dieser Beziehung repräsentiert, ihre Involutionsneigung, [4] ihre dynamische Tendenz, also das insgesamt, was sie zu einer gefährlichen, falschen, auf Mord und Totschlag zielenden, wahrhaft katastrophalen Beziehung macht. Sind wir darum schlauer? Haben wir nicht lediglich das politisch Böse psychologisch als Ambivalenz identifiziert und damit im Grunde bloß tautologisch geurteilt? Haben wir — was ja die einzige akzeptable Rechtfertigung für den triebtheoretischen Exkurs wäre — wenigstens das uns zum Vorbild nehmen und zunutze mache können, was die fortdauernde theoretische Faszination der Freudschen Konstruktion begründet und sie zu einer auch praktisch befriedigenden Erklärung macht: daß sie, unter der Kategorie des Triebs, von nicht hinterfragbaren Interessen handelt? Oder haben wir kurzerhand das Politische zu einem triebhaften Unternehmen erklärt und damit unhinterfragt übernommen, ja unwillkürlich nachgemacht, was die Nazis mit der von ihnen demonstrierten Form „triebhafter Politik“ vorgemacht haben und was in der Vernichtung der Juden geendet hat?

Wenn eine solche Übertragung aber ein zutiefst illegitimes, ja unwillkürlich und bis in seine mörderischen Dimensionen hinein affirmatives Verfahren ist: Kann es eine legitime Übertragung überhaupt geben? Woher nähme das Politische zum Beispiel seine — in Analogie zum Triebmodell, nicht im Übergriff auf dasselbe — irreduzible Substanz? „Schwulsein“ etwa ist auf der psychologischen Ebene eine befriedigende Erklärung, ein zureichender Grund. Indem er dem rätselhaften Lächeln der Mona Lisa die Homosexualität ihres Schöpfers unterlegte, hat Freud dieses Lächeln erklärt. Anders verhält es sich mit dem Begriff auf der politischen Ebene, und zwar ganz gleich, ob man strikt psychologisch vom homosexuellen Kitt der Männerbünde oder mit eher politischem Anspruch — einer Art „politischem Triebanspruch“ — von Ambivalenz und Partialtrieben spricht. Zwar verliert er nicht seinen auf substantielle Erklärung zielenden Anspruch, aber seine Realität.

Und in diesem Schicksal ist die Psychologie keineswegs allein. Hier sieht sie sich, am gegenüberliegenden Ende der Skala der Entmischungen, ausgerechnet der Politologie gegenüber, die zum Faschismus keineswegs den „direkteren Draht“ hat, ihn vielmehr in einer alle Inhaltsfragen kurzerhand abschneidenden Weise „zur besonders tyrannischen Herrschaft, Auschwitz zum besonders grausigen Pogrom“ stilisiert. [5] Könnte es sich wirklich jemand zutrauen, die Wüsten zu durchqueren, die die fragwürdigen Oasen psychologischer und politologischer Begriffsbildung trennen, und, indem er das durch Entstellung plausibel Gewordene erneut vermittelte, nicht zu einer unfreiwilligen Bestätigung der faschistischen Klitterungen, sondern zu einem synthetischen, das heißt irgend realitätshaltigen, wo nicht realen Begriff vom Faschismus zu gelangen?

3. Das Ende des Fadens: Der abstrakte Charakter des Kapitals

Wenn etwas die herkömmlichen, vertretbaren Beziehungen zwischen Kapitalismus und Bourgeoisie zu sprengen scheint — sofern es nicht bereits der Faschismus selbst ist, der diese Beziehung sprengt —, so sind es die Gaskammern, ist es Auschwitz, die Vernichtung der Juden. Immer wieder ist die Versuchung groß, darin einen förmlichen Beweis für die unmittelbar politische Geltung der psychoanalytischen Theorie zu erblicken, so als wären in Auschwitz Partialtriebe am Werk gewesen, das Inkommensurable, Archaische, das genuin Feindselige der menschlichen Unnatur schlechthin, wie es sich, Claude Lanzmann zufolge, noch heute in antisemitischen Ritualen wie der Schändung des jüdischen Friedhofs von Carpentras manifestiert. Um uns vor dem Wiederholungszwang zu retten, der auch unsere Auseinandersetzung mit dem Faschismus immer wieder in einen Zirkel treibt, sollten wir versuchen, das oben aufgestellte Paradox auf dieses Ereignis zu beziehen, das zum finsteren Symbol des Zwanzigsten Jahrhunderts geworden ist; denn es kann keine ernsthafte Theorie des Faschismus geben, die vor der monströsen Tatsache der Vernichtung der Juden zurück weicht oder diese sogar verdrängt, aber umgekehrt kann es auch keine ernsthafte Theorie des Antisemitismus geben, die sich davon nicht zugunsten einer konkreten Theorie des Kapitalismus distanziert, freilich nicht im Sinn Le Pens, für den die Vernichtung der Juden nur ein — wie alle militärischen „Einzelheiten“ — unangenehm konkretes Detail der Militärgeschichte der „Völker“ ist, sondern im Sinn der natürlichen Abstraktheit des Kapitals, zu dem gerade wegen ihres finsteren Konkretismus die Vernichtung der Juden sich als ein abstraktes Detail verhält.

Damit haben wir vielleicht das Ende des Fadens erwischt, der nicht zu einer mystifizierenden Ausgrenzung, sondern zu einem synthetischen Begriff des Faschismus führen könnte; denn der konkrete Charakter des Kapitalismus ist natürlicherweise abstrakt. „Mehrwert“, zum Beispiel, „Investitionsgüter“ oder „starke DM“ sind konkrete Begriffe des Kapitalismus, konkret, das heißt aussagekräftig, wohldefiniert, wenn auch gelegentlich allzu affirmativ, im Prinzip aber der Ebene seiner Erscheinungsform oder seines Funktionierens angemessen. Gleichzeitig sind es natürlich ganz und gar abstrakte Begriffe, da der Kapitalismus in seinen wesentlichen, „vitalen“ Zusammenhängen ja ein abstraktes Phänomen ist. Verglichen mit diesen Zusammenhängen, die den wahren Konkretismus des Kapitals repräsentieren, sind die Gaskammern, in denen die Juden zu Millionen ermordet wurden, dagegen von einer unübersteigbaren Abstraktheit. Man kann es sich nicht vorstellen! — und nicht nur deshalb, weil von den Gaskammern schlechterdings keine Vorstellungsbrücke zum „humanistischen Menschenbild“, das heißt zu einem wie immer illusionistisch angenommenen normalen bürgerlichen Verhalten führt, sondern vor allem, weil man die konkrete Wirklichkeit der Gaskammern nicht denken kann, ohne den natürlicherweise abstrakten Charakter des Kapitalismus zu entstellen und, indem man die Konkretheit der Vernichtungslager hervorhebt, sein abstraktes Funktionieren in den Hintergrund zu rücken.

Dennoch liegt es, gerade wenn man guten Willens ist, natürlich außerordentlich nahe, sich den Konkretismus des Kapitals mit Hilfe oder in der Weise der Gaskammern vorzustellen; denn Mehrwert kann man sich nicht vorstellen; aber was die ersteren betrifft, so kann man sie sich nicht nur vorstellen, man muß sie sich auch vorstellen, das ist eine elementare Forderung an alle, die eine natürliche Neigung haben zu sagen, „aber ich kann es mir nicht vorstellen!“ Wie soll man dieser Versuchung widerstehen, die sich ja nicht als eine billige Ausflucht, sondern als ein regelrecht emanzipatorischer Akt präsentiert — ein tatkräftig „gegen Verdrängung“ gerichteter Akt, eine möglicherweise wichtige Etappe auf dem Weg zu einem höheren oder tieferen Verständnis des Kapitalismus? Wie soll man begreifen, daß diese wichtige Etappe in Wirklichkeit vielleicht eine Sackgasse und noch dazu bestens geeignet ist, die wirkliche Beschaffenheit des Kapitals vergessen zu machen, das sich in abstrakten Erscheinungen wie „IG Farben“ und „Deutsche Bank“ und in den korrekten Verfahren des IWF konkretisiert, authentischer in der liberalen Ideologie des Keynesianismus zu Wort kommt als im barbarischen Funktionieren der Gaskammern? Wie soll man sich zu der erkenntnistheoretischen Einsicht durchringen, daß das Begreifen der Gaskammern das Begreifen des Kapitalismus verhindert, wo es doch offensichtlich — nämlich in der Posthistorie des Dritten Reichs — gerade die Verdrängung der Gaskammern gewesen ist, was das Begreifen des Kapitalismus verhindert hat, und wo Verdrängung und Ignoranz noch heute an der Tagesordnung sind?

4. Die Wirklichkeit des Kapitalismus: eine Kontamination verschiedener Abstraktionsgrade

Je näher man ihn anschaut, desto ferner blickt er zurück. Was die Beziehung von Kapitalismus und Bourgeoisie dauerhaft verdunkelt, ist nicht einfach, wie die Begriffe suggerieren und wie man es zu sehen gewohnt ist, der eklatante Widerspruch zwischen Ökonomie und Politik, oder, aufgefächert, der Widerspruch zwischen der humanitären Emphase des Bürgertums und seinen barbarischen Taten oder zwischen der zarten Seele des Bürgers und seiner aggressiven Strategie, zwischen seiner Philosophie und seiner Politik oder seiner Politik und seiner Ökonomie oder seiner Ökonomie und seiner Ideologie oder seiner Ideologie und seiner Wirtschaftspolitik oder seiner Wirtschaftspolitik und seiner Kultur usw., sondern ein Widerspruch, der durch die Kontamination verschiedener Abstraktionsgrade entsteht. Auf einer Ebene angeordnet, strukturell nebeneinander-, nicht systematisch in Beziehung zueinandergesetzt, kann nur eine tiefgreifende Kontingenz die Folge sein, eine perfekte Absurdität, eine Schizophrenie, mit der verglichen das „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“ des Bürgers der ersten Akkumulation nur ein vorübergehendes Mißverständnis ist. Aber diese Kontingenz ist gleichwohl akzidentiell, nicht essentiell, und dies im Gegensatz speziell zur deutschen Schicksalsphilosophie, derzufolge sie gerade keine Alltagswirklichkeit, sondern einen existentiellen Konflikt repräsentiert. So kann man beispielsweise den Zusammenhang zwischen der westlichen Entwicklungshilfe und der zunehmenden Verarmung der Dritten Welt durchaus aufklären — folglich kann es sich doch nicht um eine essentielle, philosophisch abgründige Kontingenz handeln! Zwar ist die Phänomenologie widersprüchlich, aber die Widersprüche sind aufklärbar. Beispielsweise gibt man den Ländern der Dritten Welt; und die Dritte Welt? Je mehr man ihr gibt, desto ärmer wird sie! Der Konkretismus des „Gebens“ verschleiert den latenten Charakter des „Nehmens‘“, das ja das eigentliche Charakteristikum der freizügigen Spende ist. Der Konkretismus der Armut wiederum erzeugt den Verdacht, es sei vielleicht gar nichts gegeben worden, während es in Wirklichkeit doch gerade die kapitalistische Gabe ist, was die „natürliche“ Armut der Dritten Welt in systematischen Pauperismus überführt.

„Ja, die Wirtschaft“, seufzt der Bürger heute wie ehedem, wenn man ihm vorhält, daß das Giftgas, mit dem die unzivilisierten Iraker ihre Kriegsgegner traktieren, von Deutschland geliefert wurde. „Massenvernichtungsmittel in der Fuchtel von islamischen Hasardeuren“, schimpft Wolfgang Bruckmann, „wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitskreis Frieden, Abrüstung und Internationales der Grünen-Bundestagsfraktion“ in schlecht verhohlenem Rassismus und macht durch die in Klammern nachgeschickte Bemerkung deutlich, daß er gar nicht daran denkt, durch das Akzidens, nämlich die Herkunft der „Massenvernichtungsmittel“, das Existential, die Bedrohung, sich aus der Hand schlagen zu lassen: „aus der Hand des Nordens, ich weiß, aber tilgt das die Bedrohung?“ [6] Würde er es wagen, seine Verstandeskräfte synthetisch zu gebrauchen, könnte er gar nicht vermeiden zu begreifen, daß es sich bei den „islamischen Hasardeuren“ nur um eine der zahllosen akzidentiellen Bedrohungen handelt, wie sie vom europäischen Kapital ausgehen, genauer um eine bloß als solche maskierte Kontingenz, da nämlich die „Unzivilisiertheit“ der Iraker eine zwar möglicherweise unvermeidliche, aber jedenfalls notwendig falsche Veranschaulichung des deutschen Kapitals darstellt.

„Ich weiß, aber tilgt das die Bedrohung?“

So fragen kann allerdings nur, wer sich das „Wissen“, daß in einem sehr unmittelbaren Sinn er, als „Norden“, die zu tilgende Bedrohung darstellt, als Einsicht effektiv vom Leib hält.

5. Noch ein Umweg: Rosa Luxemburgs „dritte Personen“ oder: Die natürlichen Ränder des Kapitalismus und die künstliche Marginalisierung der Juden

Wenn es nicht um das allgemeine Verhältnis von Kapitalismus und Bürgertum, sondern speziell um den Faschismus geht, so fällt es doppelt schwer zu glauben, daß es sich bei der für ihn spezifischen Barbarei ebenfalls, wie im Verhältnis von Erster und Dritter Welt, bloß um das Resultat einer Kontamination verschiedener Abstraktionsgrade handeln soll. Gleichwohl: Ist der Konkretismus der im Bundeshaushalt für Entwicklungshilfe ausgewiesenen Millionen oder, rührender noch, der Konkretismus des für „Misereor“ in den Klingelbeutel gesteckten Zehnmarkscheins oder der in Solidarität mit „Mr. Zehnprozent“ geleistete Obolus wirklich etwas qualitativ anderes als die in der sinistren KZ-Ökonomie vorgeführte „Realwirtschaft“, von der die Schuhteststrecke in Sachsenhausen, der Bauhaus und Mittelalter einfühlsam verbindende Anbau am Gestapogefängnis in Theresienstadt, die entsetzlichen Bilder von gestapelten Haaren, Knochen, Kleidern aus den Vernichtungslagern beredtestes, dabei auch untereinander noch jeweils verschiedene Abstraktionsgrade markierendes Zeugnis ablegen? Ist die Rückseite der karitativen Einmischung nicht die „Schuldenkrise der 3. Welt und deren Verslumung, Deindustrialisierung und Barbarisierung“? [7] Wer kann auf Anhieb entscheiden, was richtiger ist, d.h. der nun mal durch tausend Abstraktionsgrade hindurch vermittelten Realität mehr entspricht: Auschwitz theoretisch vom alltäglichen Schicksal der Dritten Welt weg- oder dieses vielmehr auf Auschwitz zuzurücken? Zumal eine „Vernichtung ‚unnützer‘ Bevölkerungsteile ... sich gegenwärtig in den Elendsgürteln der 3. Welt als grausame Realität vollstreckt“ [8] Kommt nicht hier wie da die grelle Anschaulichkeit der von Rosa Luxemburg beschriebenen kapitalistischen Übergriffe an der „nichtkapitalistischen Peripherie“ auf die von ihr beiläufig so genannten „dritten Personen“ zum Zuge? [9] — auch wenn die Marginalisierung der Juden im Herzen Mitteleuropas alles andere als ein „Naturtatbestand“, nämlich ein unerhört künstlicher Vorgang ist, aber das war die Marginalisierung der Indianer Nordamerikas oder der indischen Tuchweber auch. Ist die exotische Brutalität, wie sie etwa für Saddam Husseins Giftgasdrohungen, sowjetische Atomexperimente, [10] Übergriffe auf Amazonas-Indianer charakteristisch ist, nicht gleichzeitig ein Kennzeichen für ursprüngliche wie für spätkapitalistisch vermittelte Akkumulation, das heißt überall da am Werk, wo nicht Hochkapitalismus allein als angeblich vollklimatisierter, hygienischer, durch Gewerkschaft, Betriebsrat abgesegneter postfaschistischer „Sozialpakt“, [11] sondern die Konfrontation mit zurückgebliebenen oder bereits ruinierten Produktivkräften regiert? Nicht nur haftet jeder dieser Konfrontationen ein in Musealem keineswegs aufgehendes Moment von Dysfunktion, farbiger Brutalität — perversen Forschergeists etwa, zügelloser Verwaltungssucht oder, auf der anderen Seite, urtümlicher Potlatchgesinnung, herostratischer Zerstörungs- und Selbstzerstörungswut — an, vielmehr findet ungeachtet der festgeschriebenen Kräfteverhältnisse jedesmal ein regelrechtes Tauziehen statt, das darüber entscheidet, was die Oberhand behält und die Darstellungsform diktiert: ethnologisch einschlägige Archaik oder kapitalistische Rationalität. Die Auseinandersetzungen in den islamischen Ländern sind dafür ein erhellendes Beispiel. Der Grund für das Ausgeglichene des Konflikts aber ist, wie gesagt, nicht die Gleichheit von Kräfteverhältnissen, die so nirgends anzutreffen ist, sondern die latente Identität der Konfliktpartner. Nicht verwaltete Khomeiny revolutionären Antiamerikanismus, das reine Begehren des Volkes, sondern die spezifischen Anschlußprobleme der islamischen Schwellenländer, sonst nichts.

6. Die Juden als „dritte Personen“ im Sinn Rosa Luxemburgs: eine aufklärerische Metapher

Bekanntlich hat Rosa Luxemburg, damit zu endloser Debatte Anlaß gebend, in ihrer „Zusammenbruchstheorie“ behauptet, der Kapitalismus käme ohne die Vernutzung „dritter Personen“ in keinem seiner Stadien aus, diese Vernutzung, so krass und extravagant sie in jedem einzelnen Fall sich auch darstellt, wäre ein Bestandteil normalen kapitalistischen Funktionierens, keine Ausnahme, kein Einbruch, kein seltsames Einsprengsel in einem ansonsten gerade unter Ausschluß „dritter Personen“ funktionierenden, selbstgenügsamen System.

Würden die Juden als dritte Personen im Sinn Rosa Luxemburgs definiert, dann wäre die Integration des Massenmords in den Zusammenhang der alltäglichen kapitalistischen Dysfunktion perfekt. Alle Anstrengung müßte sich von nun an darauf richten, die „alltägliche kapitalistische Dysfunktion“ in der Perspektive jener Barbarei zu betrachten, als die Auschwitz für gewöhnlich bezeichnet wird. Das ist etwas gänzlich anderes, als im behaglichen Milieu eines parlamentarisch-pluralistisch regulierten Kapitalismus mit zwanghafter Beiläufigkeit die Erinnerung an Auschwitz heraufzubeschwören. Beispielsweise verlangt es, auf die gewohnte Schizophrenie, den „aufwandsersparenden“ Ebenenwechsel zu verzichten, der es gestattet, wenn es gerade paßt, die Segnungen von Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie zu rühmen bzw phasen- oder vielmehr anfallsweise Anspruch auf Mitbeteiligung an diesen Segnungen zu erheben. Fragt sich nur, ob eine solche Verwendung des Begriffs der „dritten Personen“ überhaupt legitim ist.

Fragt sich das wirklich? So unmittelbar plausibel diese Bedenken sich auf den ersten Blick präsentieren mögen, als so fragwürdig erweisen sie sich auf den zweiten. Nicht nur ist die Künstlichkeit der Marginalisierung ein zur Differenzierung wenig geeigneter Maßstab, so wenig geeignet, umgekehrt, wie die Natürlichkeit der Gesellschaftszusammenhänge, die der Kapitalisierung zum Opfer fallen. Was darüber hinaus die Bezeichnung der Juden als „dritte Personen“ im Sinn Rosa Luxemburgs auszuschließen scheint, ja absurd erscheinen läßt, ist vielmehr ein echtes Naziargument: Sind nicht die Juden die Inkarnation des Kapitalismus? Folglich stellt, wer die Juden als „dritte“ das heißt als dem Kapitalismus zum Opfer fallende Personen bezeichnet, erst einmal nicht die natürliche, sondern lediglich die nationalsozialistische Sicht der kapitalistischen Verhältnisse auf den Kopf. Indem er die exemplarische, das heißt von den Nazis als solche gewollte und noch als verschwiegene Tat zum Garanten der nationalrevolutionären reinen Absichten erhobene Vernichtung in die kapitalistische Tradition menschenverachtender Ausbeutung einordnet, riskiert er zwar die Verwechslung mit jenem „coolen“ ökonomistischen Ansatz, der Auschwitz im Wortsinn als Fabrik begreift und darin im übrigen auch nichts anderes als eine Adaptation der Naziperspektive ist. Aber er hat in einer Weise, die einem „echten Deutschen“ wohl einen Schauder über den Rücken jagen kann, mit jeglicher Mythologisierung Schluß gemacht. Tatsächlich befindet sich jedes Argument, das auf der Singularität von Auschwitz besteht, in der Kalamität einer unfreiwilligen Übereinstimmung mit den Nazis, sind sie es doch, die — zynisch auf das Selbstverständnis der Juden verweisend — dieselben nicht nur von allen andern unterschieden, sondern sie auch über alle Klassen- und ethnischen Schranken hinweg in ihrer Singularität gleichmachten. Dabei geht es keineswegs darum, etwa in Umkehr der philosemitischen Trauer über den ermordeten deutsch-jüdischen Geist das Schicksal deutscher jüdischer Kapitalisten als weniger beklagenswert zu bezeichnen als das der Hunderttausenden polnischer und russischer Kleinbürger, sondern darum, das heterogene, aber durchaus profitable Sammelsurium deutlich zu machen, das durch die monolithische antisemitische Ideologie gedeckt wurde: den Gelegenheitsprofit beispielsweise, den die Enteignung und Umverteilung jüdischen Eigentums noch in der Bewährungsphase der Naziregierung dem deutschen Volk brachte, oder die Entlastung, die die Vernutzung von KZ-Häftlingen, Kriegsgefangenen für die gestreßte Kriegsindustrie bedeutete, wobei diese Entlastung nicht mit dem Nutzen verglichen werden darf, den die „artgerechte“ Verwendung des bundesdeutschen Facharbeiters erbringt, stellt eine auf Facharbeiter vital angewiesene Friedensökonomie doch eine ganz andere Situation dar, als ein in den Zusammenbruch steuernder Krieg. Insofern dieses Sammelsurium aber nicht profitabel war — und das heißt einfach kostspielig im Sinn des bürokratischen Aufwands oder profitabel nur in jener absolut schiefen Naziperspektive selbst, die noch das Zahngold der Juden als „geschenkt“ betrachtete —, da handelt es sich keineswegs um den Beweis einer substantiell anderen Qualität, dieser Widerspruch führt vielmehr direkt in die komplexe Widersprüchlichkeit normaler kapitalistischer Rationalität mit ihrer ungeheuren — propagandistisch, bürokratisch oder gar nicht motivierten — Vergeudung zurück.

7. Gesellschaftliche Konflikte als ethnologische Masken des Kapitals

Mögen sich die Attacken gegen die Indianer im brasilianischen Urwald mit dem Argument kapitalistischer Rationalität, mag die Massenvernichtung der sowjetischen Juden sich dagegen mit dem Argument nationalrevolutionären Antikapitalismus schmücken: Keineswegs wird in Auschwitz in einem quasirevolutionären Akt der Kapitalismus selbst, in Brasilien dagegen in Gestalt der Amazonasindianer bloß vorkapitalistische „Natur“ umgebracht. Ebensowenig macht in Auschwitz — in einem hochsymbolischen Akt der „Selbstreflexion“, würdig, von allen europäischen Denkern nachvollzogen zu werden — der Kapitalismus sich selbst, am Amazonas aber nur den von jeher mit einem schlichteren Schicksal bedachten außereuropäischen anderen den Garaus. Desgleichen steht die manifeste Unsinnigkeit einer auf die Arbeitskraft von Sklaven, im weiteren auf die Körperteile von Ermordeten gegründeten „Realwirtschaft“ keineswegs außer aller Relation zu kapitalistischer Rationalität. Dieser spezifische Irrationalismus ist vielmehr ein durchgehendes Kennzeichen des Kapitalismus, kann er doch, durch und durch abstrakt, wie er nun einmal ist, zu gar keiner anderen Veranschaulichung kommen als zu einer geborgten. Immer wenn er politisch und ökonomisch unter Druck gerät — und das geschieht im Prinzip überall, wo er sich nicht wie in den Schalterhallen der Banken oder den Hörsälen der Betriebswirtschaft als reines Zahlenspiel, Ineinandergreifen ökonomischer Faktoren präsentiert —, bleibt ihm (sofern er nicht die genannten Zentren der reinen Lehre in Generalstabsstellen einer abstrakten Diktatur umfunktionieren will) gar nichts anders übrig, als dem Druck durch fremde, heterogene, vergleichsweise (im Vergleich nämlich zu Bank und Hörsaal) rückständige, durch und durch geborgte, aber immer anschauliche Interessen zur Darstellung und zu einem möglichen Ausgleich zu verhelfen.

Ist wie in den dreißiger Jahren der Schauplatz des Dramas nicht der Amazonas, Thailand oder der Golf von Aden, sondern Europa — was auf eine extreme ökonomische Situation deutet, die nicht an den Rändern beseitigt werden kann, sondern im Zentrum angegangen werden muß —, so stehen exotische Masken und Kostüme nicht zur Verfügung: die Maske „Apartheid‘, beispielsweise, oder die Maske „Glaubenskrieg“ oder die Maske „Stammesfehde“, die den ökonomischen Zusammenhang, den sie zu veranschaulichen herhalten müssen, so nachhaltig zu entstellen pflegen, daß eine an „human interests“ interessierte Menschheit darin den wahren Grund der Auseinandersetzung erkennen will — da massakrieren sie sich wie im Mittelalter, stellt der Mitteleuropäer, der die Auseinandersetzung „angeleiert“ hat, entrüstet fest —; kein Wunder, sind Glaubenskrieg und Stammesfehde doch unverkennbar wirklich und können daher mühelos auf ihnen zugrunde liegende Interessen, mit denen sie unmittelbar identisch sind, zurückbezogen werden, der Kapitalismus aber hat keine Anschaulichkeit und wird immer nur entstellt repräsentiert. Wird er aber, wie in den dreißiger Jahren, durch Pauperismus mitten im Herzen Europas, gleichzeitig durch eine in der Sowjetunion verkörperte revolutionäre Perspektive unter Druck gesetzt, dann muß er auf die ihm dort zur Verfügung stehende Kostümierung, eben auf den Antisemitismus, zurückgreifen. So absurd diese Verkleidung auch anmuten mag — zumal der Antisemitismus seit dem Mittelalter selbst schon eine vielbenützte Maske ist —, als eine in Bezug auf den Faschismus probate „Darstellung durch das Gegenteil“, der Konterrevolution durch Revolution, des Kapitalismus durch Antikapitalismus, der Klassenversöhnung durch Rassenvernichtung etc., hat er nicht nur Tradition, sondern auch den Vorzug, Sprengkräftiges zu integrieren, und stellt sicherlich — wie im Prinzip in jedem denkbaren Fall — die einzige Formel dar, die das spezifische kapitalistische Dilemma historisch und regional verbindlich zum Ausdruck und auf absurde Weise zur Lösung bringt; nicht absurder übrigens — denn offenbar wird in jedem einzelnen Fall die Grenze der Absurdität überschritten — als heutzutage etwa die Maske „Fundamentalismus“ oder „Islam“, die die Widersprüche, die das Verhältnis der islamischen Länder zueinander bestimmen, als einen zwar brüchigen, aber vermeintlich immer noch logischen, unter einem synthetisierenden ethnologischen oder religiösen Stichwort abzuhandelnden, von westlichen Gesichtspunkten nur sekundär tangierten Zusammenhang erscheinen läßt. Erinnern wir uns an die Toten im Krieg am Persischen Golf, addieren wir jene, die im Zuge der Auseinandersetzungen im Nahen Osten noch hinzukommen werden, dazu, verlieren wir die Hunderttausende durch die aktuelle Entwicklung ins Unglück gestürzter asiatischer Flüchtlinge ebensowenig aus dem Auge wie die friedensstiftende Arroganz der westlichen Drahtzieher, so können wir uns durchaus zu der Vermutung versteigen, daß die nationalsozialistische Konfliktlösungspraxis, wie sie auf immer mit dem Namen Auschwitz verbunden ist, nicht einen barbarischen Endpunkt, sondern den Beginn einer neuen Stufe der Barbarei markiert, in konkretester Weise historisch Schule gemacht hat; mit der Lieblingsvorstellung aller westlichen Demokraten, daß es sich dabei um ein bislang — und hoffentlich für immer — singulares Ereignis handele, scheint es jedenfalls vorbei.

8. Die Quadratur des Kreises: Joachim Bruhns Antisemitismustheorie — Ein kritischer Exkurs

Hier ist hoffentlich der Punkt erreicht, an dem die minimalen Abweichungen erkennbar werden, die die vorgetragenen Überlegungen von den engagierten, zugleich an konkreter Vermittlung orientierten Thesen Joachim Bruhns trennen, die ebenfalls aus einer Art Dritte-Welt-Erfahrung, der Auseinandersetzung nämlich mit dem linken Antizionismus, entstanden sind. Bislang haben diese Thesen eher den heimlichen Leitfaden meiner Überlegungen, ihr heimliches Kriterium gestellt: das strenge Überich, vor dem ein unorthodoxer Einfall sich bewähren muß, ebenso wie den Halt auf weiß Gott unsicherem Grund. Jetzt ist es an der Zeit, die unterschwellige Beziehung deutlich zu machen.

Was an den Thesen Joachim Bruhns in der doppelten Bedeutung des Begriffs reizt, ist ja nichts anderes als der Versuch, den Konkretismus von Auschwitz und die Abstraktheit des Kapitals zu vermitteln, und zwar in der zumindest auf den ersten Blick aporetischen Weise, daß Auschwitz gleichzeitig als Bruch und als Exempel deutlich wird: Ausgehend von der bereits erwähnten Bemerkung Dimitroffs, [12] die für ihn der methodologische Stein des Anstoßes schlechthin, die intellektuelle Lizenz für eine Verdrängung des Völkermords, verübt an den Juden, und einen billigen Antizionismus ist, versucht Bruhn, was doch die Quadratur des Kreises zu sein scheint, nämlich Auschwitz gleichzeitig zu begreifen und zu bestaunen, das heißt zugleich einzuordnen und herauszulösen. Der „Begriff des Faschismus“, stellt er fest, „ist erst vom Ende her, von Auschwitz, zu begreifen und nicht als einfache Steigerung des ‚Grundwiderspruchs von Kapital und Lohnarbeit‘“. [13] Und spezifischer: Die „barbarische Revolution der Nazis brach mit der dialektisch vermittelten Rationalität des Kapitalismus und konstruierte die neue Gesellschaft nicht als ... sich erweiternde Einheit von Produktion und Reproduktion, sondern als strukturell defizitäre, die sich auf der Jagd nach ihrer Existenzgarantie als kapitalistische stets weiter hinab in den Grund bohren mußte“. [14]

Wie gesagt, bloß um einen minimalen Unterschied, eine Verschiebung in der Gewichtung handelt es sich, um jene gleichwohl intrikate Suggestion, daß es einen originalen Gegensatz gebe zwischen dem „dialektisch vermittelten Rationalismus des Kapitalismus“ und seiner „strukturell defizitären“ Form und daß schlichtes Nachdenken über den „Grundwiderspruch von Kapital und Lohnarbeit“ gegenüber Auschwitz eine Art luxurierendes Verhalten und nicht, beispielsweise, gerade die einzig angemessene Reaktion auf Auschwitz sein könne.

So ausgedrückt freilich, erscheint der Gegensatz schon wieder größer, als er ist. Um ihn auf seine tatsächlichen Proportionen zurückzuführen, müßte man jene unendliche und unendlich miese Tradition eines zugleich positivistischen und metaphysischen Marxismus heranziehen, der die Philosophie der ehemaligen Ostblockländer dominiert hat und innerhalb dessen dem „Grundwiderspruch von Kapital und Lohnarbeit“ mehr die Rolle eines Glaubensartikels als die eines Problems zukommt und mehr den friedlichen Beschluß der Reflexion als ihren Anfang markiert. Aber ungeachtet dieser Einschränkung ist der Gegensatz nicht vom Tisch. Zwar ist Joachim Bruhn natürlich darin zuzustimmen, daß der Faschismus weder begrifflich noch empirisch von Auschwitz getrennt werden kann. Einmal als die bürgerliche Notlösung par excellence, Errettung — unter bitteren Notstandskonzessionen natürlich — aus ökonomischer Not und revolutionärer Gefahr akzeptiert, führt an keinesfalls symbolisch bleibenden, gleichwohl symbolbeladenen Lösungen, wie Auschwitz sie darstellt, tatsächlich kein Weg vorbei. Daß die 68er Neue Linke „Auschwitz und ... die Massenvernichtung“ dagegen „bestenfalls als bloßes Symbol für existentielle Bedrohung [behandelte]“ [15] und damit eine grenzenlose Gleichgültigkeit und faktische Brutalität an den Tag legte, eine theoretische Selbstverliebtheit, für die der wirkliche Mord erst dann akzeptabel war, wenn er als Metapher in die Theorie eingegangen und das eigentliche Skandalon damit beseitigt war, ist sicherlich ebenso zutreffend, wie zugleich für die Beziehung von Kapitalismus und Auschwitz wenig entscheidend. Zweifellos hat der Mord nicht erst für uns, sondern bereits im Bezugssystem von „Kapital und Lohnarbeit“ einen metaphorischen oder symbolischen Charakter und stellt im Fall von Auschwitz etwa so etwas wie eine szenische Abbreviatur — im historischen und räumlichen Sinne —, eine unmittelbare Vergegenständlichung des im übrigen jeder Vergegenständlichung trotzenden Kapitalismus dar. Aber das ändert ja weder etwas an der Wirklichkeit des Mords — die die von Unwirklichkeit bedrohte Symbolhandlung zu einem harten Faktum macht und der zwangsläufig schiefen Beziehung zwischen dem Gegenstand und seiner Abbreviatur eine wie immer fragwürdige Plausibilität und Verbindlichkeit verleiht —, noch ändert es etwas an der Akzidentialität des Mords. Den letzteren durch eine lückenlose Rekonstruktion seiner inneren Zwangsläufigkeit, das heißt durch die lückenlose Rekonstruktion des Bruchs mit kapitalistischer Rationalität, von seiner Akzidentialität zu befreien und damit den Opfern Genugtuung widerfahren zu lassen oder jedenfalls den Enkeln die bequeme Möglichkeit einer „Betriebsunfall“-These [16] aus der Hand zu schlagen, ist nicht nur ein in sich widersprüchliches Verfahren, sondern birgt letztlich auch die Gefahr einer Beschönigung: nämlich durch die Existentialisierung von etwas, was in seiner ganzen Schauerlichkeit erst begriffen wird, wenn es in seiner Akzidentialität begriffen wird.

Joachim Bruhn liefert für ein solches Verständnis selbst die entscheidenden Hinweise. Die „marxistischen Versuche, im nachhinein eine ‚Ökonomie der Endlösung‘ zu konstruieren und den Massenmord auf die verstehbare Logik der Profitmaximierung zuzurichten, in der es zu jedem Mittel einen Zweck gibt und in der jeder Zweck zu seinem Mittel sich verhält“, zeiht er eines falschen Realismus, genauer, weist ihnen nach, daß sie nur eine scheinhaft realistische Ebene etablieren, die dem tatsächlichen, in seiner barbarischen Wirklichkeit unbezweifelbaren Wirklichkeitsverlust des Faschismus nicht gerecht wird. Diese „marxistischen Versuche scheitern“ vielmehr an „jener vollkommenen Differenz von Handlung und System, von subjektivem Zweck und objektivem Resultat, die der Nazismus installierte. Es gab die ‚Ökonomie der Endlösung‘, aber der Zweck der Endlösung war kein Mittel der Ökonomie“. [17] Daß der an den Juden verübte Massenmord sich nicht der an der ursprünglichen Akkumulation orientierten Logik eines beliebig fortzusetzenden und zu verschärfenden Ausbeutungs- und Ausrottungskapitalismus fügt, sondern gerade in seiner Brutalität und Logik stark symbolhafte, um nicht zu sagen: selbstreflexive Züge hat; daß er nicht in bewährter, von den vielzitierten Engländern vorgemachter Ellbogenmanier dem Kapitalismus in der Welt Platz verschafft, sondern im Herzen Deutschlands ebenso wie in den zur Erweiterung „deutschen Lebensraums“ eroberten Gebieten an den Kapitalstrukturen selbst zu rütteln scheint; daß ihm mit den „zum Wesen von Vermittlung nur überhaupt stilisierten Juden“ [18] das wie immer falsch verstandene Prinzip des Kapitalismus, „Tauschbarkeit“, Zirkulation, [19] und nicht ein auf dem Wege der kapitalistischen Durchdringung aus dem Weg geräumtes Natursubjekt zum Opfer fällt — das alles hat mit der spezifisch deutschen Geschichte des Kapitalismus und ebenso mit der Dringlichkeit der Revolutionsfrage im ersten Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland zu tun. Es ändert dieser eigentümlich selbstreflexive Charakter des Massenmords aber nichts an dem akzidentiellen Charakter, den die Vernichtung der Juden für den Kapitalismus hat, wo er sich in der Tat in eine kontingente Geschichte der Ausrottung einordnet, die, wie etwa der Völkermord an den Armeniern, in jedem einzelnen Fall zugleich zwangsläufig und widersinnig, schicksalhaft und von schauerlicher Beliebigkeit und deshalb nur schwer dem Vergessen zu entreißen ist. Was ist doch die Standardbefürchtung und -erfahrung eines jeden, der sich immer wieder ehrlich, gutwillig und intelligent, wenn auch eigentümlich fruchtlos, was das Ergebnis, geradezu zerstreut, was die Methode angeht, um die Aufarbeitung „unserer jüngeren Geschichte“ bemüht? Aber wir müssen doch wenigstens wissen, oder wir können doch nicht einfach vergessen, warum wir die Juden umgebracht haben!

9. Schluß: Auschwitz, ein Beispiel für die tödliche Abstraktheit des Kapitals

Je näher man ihn anschaut, desto ferner sieht er zurück. Vielleicht ist nicht der Faschismus in unserem, von Karl Kraus gelieferten Bild die Mona Lisa — der ist vielmehr selbst schon ein archaisierendes Bild —, sondern der Kapitalismus, oder vielmehr, wenn wir trotz allem unsere Erfahrung mit dem Faschismus festhalten wollen — denn mit dem Kapitalismus machen wir zwangsläufig keine „richtigen“ Erfahrungen: Was an dem ersteren, je näher wir ihn ansehen, desto ferner zurückblickt, das ist die Abstraktheit der kapitalistischen Kategorien, die, in je verbindlicherer, durch Mord und Totschlag beglaubigterer Form sie vergegenständlicht werden, desto mehr aus dieser immer bloß zufälligen Vergegenständlichung sich zurückziehen und die Unbetroffenheit des genuin anders Orientierten behaupten. Kapitalismus ist nicht Auschwitz — sowenig, um auf die psychoanalytische Interpretation zurückzukommen, die Mona Lisa irgendeine, auf eine unendliche Reihe von weiblichen Geliebten zu beziehende Frau ist —, aber ebensowenig stellt Auschwitz einen Bruch mit dem Kapitalismus dar; so vielmehr, wie Leonardo bei der Mona Lisa teils zur Tarnung, teils aus unvermeidlichen, quasi technischen Gründen der Darstellung sich einer irreführenden Sexualsprache bedient, die die Voraussetzung dafür ist, daß angesichts ihres abschweifenden Blicks beim Beschauer Frustration entsteht, so bedient der Kapitalismus sich der teils politischen, teils mythologischen Ausdrucksweise des Faschismus. Bei allen faschistischen Diktaturen kann man verfolgen, wie die Frustration oder, genauer, der regelrechte „Kater“, den — so wie der heterosexuelle Appeal der Mona Lisa — der Faschismus zwangsläufig hervorruft, die scheinbar symbiotische Beziehung zwischen politisch Verwaltetem und politischer Verwaltung allmählich zerreißt und genau das zum Verschwinden bringt, was der Faschismus versprach: Das substantielle Erscheinen des Kapitalismus.

An dem bloß scheinhaften Charaker der Symbiose liegt es auch, daß der deutsche Kapitalismus, wenn er in einer krisenförmigen Situation zur Exemplifizierung der ihm innewohnenden Problematik und der ihm vorschwebenden Lösung zum Mittel des Antisemitismus greift, keineswegs etwa auf die Juden angewiesen ist. Des Antisemitismus bedient er sich schon aus Gründen einer Tradition, die durch die Vernichtung der europäischen Juden nur fortgeschrieben, aber keineswegs beendet worden ist, aber auf die Juden angewiesen ist er nicht. Nicht einmal das finsterste Argument gegen die Möglichkeit einer Wiederholung von Auschwitz zieht daher: daß nämlich die Juden in Deutschland faktisch vernichtet seien und allein schon deshalb nicht noch einmal umgebracht werden könnten. Daß Antisemitismus nach wie vor so etwas wie ein Code ist, an dem Ausländer-, Türkenhasser, Rechtsradikale jeglicher Couleur sich — auch sich selbst! — erkennen können, spricht nicht für den metaphysischen Hintergrund des Antisemitismus, das unleugbare Anderssein der Juden etwa, ihre unausrottbare Affinität zum schnöden Kapital oder die nicht wiedergutzumachende Schwere ihres Verbrechens, verübt an Jesus Christus, sondern für die sukzessive Angleichung der Darstellung an das Darzustellende, die zunehmende Abstraktheit des Anschaulichen, sein sukzessives Abstraktwerden, so daß sich — in einer sozusagen utopischen Konfiguration, darin tatsächlich dem vagen Blick der Mona Lisa vergleichbar — wenigstens ein einziges Mal die Abstraktheit des Kapitals als abstrakte zu veranschaulichen scheint. Freilich, kaum hat man der Versuchung nachgegeben, für das Faszinosum noch einmal ein kongeniales Bild zu finden, schon stellt man, sofern man nicht letztendlich doch auf ästhetisierende Illusion und Selbstbetrug aus ist, fest, daß unsere Mona Lisa nur um so ferner zurückblickt: Ja, je näher man den Antisemitismus, selbst in seiner strukturalistisch verheißungsvollsten Form, als einen Antisemitismus ohne Juden, ins Auge faßt, um so stärker empfindet man, daß der Kapitalismus sich von diesen intellektuellen Tricks zur klammheimlichen suggestiven Einflußnahme nicht beeinflussen lassen wird. Tatsächlich ist er erfahrungslos und „leidenschaftslos“ in einer Weise, die es nicht erlaubt, aus der stattgehabten Massenvernichtung eines ganzen Volkes etwa den Schluß der Nichtwiederholbarkeit, eines irgend vorauszusetzenden Lernens, einer irgend zu vermutenden traumatischen Erfahrung zu ziehen. Letzteres sind vielmehr, wie wir in der Schule lernten, samt und sonders unzulässige Personalisierungen, Anthropomorphismen. Und daran ändert auch nichts, daß wir uns gelegentlich als Manager oder Drahtzieher des Kapitals empfinden und meinen, wenn wir aus Erfahrung klug würden, dann würde das Kapital es auch.

10.

Als Kinder pflegten wir, wenn uns, religionsunterrichts- oder mediengesteuert, die Angst vor dem eigenen Deutschland packte, zu sagen: Noch einmal passieren wird der Faschismus nicht, jedenfalls nicht in Deutschland; denn hier kann man ihn erkennen! Ein wenig älter geworden, erhitzten wir uns die Köpfe über der Frage, wie der künftige Faschismus, an dem wir nicht zweifelten, sich denn präsentieren werde. Ich vertrat die Ansicht, Ausländerhaß werde es jedenfalls nicht sein, da man ihn, der Ähnlichkeit zum Antisemitismus wegen, zu leicht daran erkennen könne. Erkennbarkeit, sichtliche Übereinstimmung aber mit dem Nationalsozialismus, hielt ich für ein gewichtiges Gegenargument in den Überlegungen künftiger faschistischer Strategen: Solange Rechtsradikale sich als Neonazis gebärdeten, schien Rechtsradikalismus mir per definitionem auf die Existenz einer nostalgischen Sekte beschränkt und die bürgerliche Demokratie daher wenig bedroht. Heute, wo das sprunghafte Anwachsen bzw. die unvermittelte Enthüllung des nach wie vor vorhandenen Potentials mich des Irrtums zu überführen droht, scheint mir umgekehrt auch immer deutlicher zu sein: nicht nur, daß der Kapitalismus, wenn es hart auf hart geht, die gewohnten Requisiten, als da sind Ausländerhaß, Antisemitismus, „Rassenwahn“ braucht, sondern daß er sie ebensosehr nicht braucht, zwar nicht in toto auf sie verzichten kann, wohl aber in keiner Weise zu plausibler, realitätshaltiger Verwendung verpflichtet ist, sondern beliebig mit ihnen umgehen kann als zugleich den Essentials kleinbürgerlicher Existenzangst und den leeren Hülsen, die nur darauf warten, daß er sich in ihnen vergegenständlicht und sie, die abgelegten Kalauer des Volksempfindens, unter dem Druck einer vehementen Krise erneut zum Leben erweckt. Und da spielt es dann keine Rolle, wer wen erkennt und ob Tabus, die heiligsten Grundsätze einer mit Schaden, über Leichenbergen, klug gewordenen Gesellschaft verletzt werden oder nicht.

Mit dieser Interpretation möchte ich dazu beitragen, den „spontanen Antisemitismus der bürgerlichen Gesellschaft“ in seine Schranken zu weisen, jenen ressentimentgeladenen Infantilismus, „dessen Grundannahme heute darin besteht, die Vernichtung müsse sich doch irgendwie gelohnt ..., müsse einen Sinn gehabt haben“. [20] Dagegen scheint es so zu sein, daß sie keinen anderen Sinn gehabt hat als all die periodischen Kapriolen des Kapitals, bei denen stets unausgemacht bleibt, was erschütternder ist: das individualisierte Leid, das sie erzeugen, oder die absolute Gleichgültigkeit des individualisierten Leids, die sie zugleich in jeder Phase ihres ebenso schicksalhaften wie gleichmütigunbekümmerten Verlaufs bezeugen. Wenn es für diese „Relativierung“ [21] von Auschwitz, nicht zwar zum bloßen „Symbol menschlich-allzumenschlicher Grausamkeit“, [22] aber zu einer mit ihm keineswegs nach Grad und Art an eine etwa natürliche Grenze gekommenen, konstitutionell „schiefen“ Vergegenständlichung des Kapitalismus einen Beweis gibt, dann den von Joachim Bruhn — wenn auch mit einer anderen Intention herangezogenen — israelisch-palästinensischen Konflikt. Auch wenn dieser Konflikt, dem Prinzip der Überdeterminierung getreu, erneut antisemitische, durch die Ausrottung der Juden erst recht angefachte Rachegefühle anzieht, kann die eigentliche Wahrheit der kapitalistischen Geschichte dadurch nicht zum Verschwinden gebracht werden: daß der neugegründete Staat Israel der, wie man will, Nucleus oder Satellit einer neuen, unbelasteten, den Ölkrisen des Kapitals und dem Elend der Schwellenländer unbegrenzt Darstellungsmaterial liefernden Konstellation ist, und niemand irgend etwas aus Auschwitz gelernt hat.

[1Vgl. Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik, Freiburg 1990, darin besonders prägnant auf S. 98 die Anmerkung 42: „L. Basso weist mit Recht darauf hin, daß in einem präzisen Sinn nicht die Neofaschisten, sondern die Parteien der Mitte die Nachfolge des Faschismus angetreten haben“ — EVA-Ausgabe Frankfurt 1968, S. 40, zweite Anmerkung

[2Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, in: Gesammelte Werke Bd. VII, Frankfurt a.M. 1969, S. 127-211, darin S. 179

[3Roland Topor in einem nicht besonders geschickt übersetzten Interview anläßlich der deutschen Erstaufführung seines Films „Marquis de Sade“ in „tip“, Heft 18/90. Es kommt mir nicht ungelegen, daß er in einem praktisch zur gleichen Zeit und zur selben Gelegenheit dem „Tagesspiegel“ gegebenen Interview Sexualität ausdrücklich as eine Art von Glück bezeichnet, liefert er damit doch ein schönes Beispiel für den Zerfall der Standpunkte, die Verselbständigung der Perspektiven, von denen ich handle. „Wissen Sie“, sagt Topor in der „Tagesspiegel“-Übersetzung, „Sex wird als eine Sache betrachtet, die Unheil bringt. Wir wollten Sex auch als etwas Lustiges und Schönes zeigen.“ („Der Tagesspiegel“ vom 29.8.1990)

[4Ich entnehme den Begriff Johannes Agnolis Transformation der Demokratie, a.a.O., S. 44. Vgl. dazu auch die „Kommemorativabhandlung zur Transformation der Demokratie“, a.a.O., S. 163-221

[5Vgl. Joachim Bruhn, Antizionismus — ein neuer Antisemitismus von links, in: Initiative Sozialistisches Forum, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution, Freiburg 1990, S. 106-118, darin S. 115. Bruhn umschreibt hier die stalinistische Definition von Faschismus. Sie kann — und das ist gewiß eine nicht unbeabsichtigte Pointe von Bruhns Darstellung — zugleich als politologische Definition par excellence gelten.

[6Frankfurter Rundschau vom 30.8.90

[7Robert Kurz, Deutschland einig Irrtum. Die Wiedervereinigungsfalle und die Krise des warenproduzierenden Weltsystems, in: Klaus Bittermann (Hrsg.), Gemeinsam sind wir unausstehlich. Die Wiedervereinigung und ihre Folgen, Berlin 1990, S. 133-158, darin S. 136

[8Robert Kurz, a.a.O., S. 140

[9Vgl. Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Ges. Werke Band 5, S. 297. Zum Begriff der „nichtkapitalistischen Peripherie“ vgl. Armando Córdova, Rosa Luxemburg und die Dritte Welt, in: Claudio Pozzoli (Hrsg.), Rosa Luxemburg oder die Bestimmung des Sozialismus, Frankurt a.M. 1974, S. 65-92, darin S. 91/92

[10Vgl. „Der Tagesspiegel“ vom 2.9.1990, S. 10: „Bevölkerung von Semipalatinsk als Versuchskaninchen mißbraucht — Sowjetischer Film über Atomtestzentrum in Sibirien“

[11Agnoli, Die Transformation der Demokratie ..., a.a.O., S. 198

[12Vgl. Anm. 5

[13A.a.O., S. 115

[14Ebd., S. 154

[15Ebd., S. 122

[16Ebd., S. 156

[17Ebd., S. 155

[18Ebd., S. 152

[19Ebd.

[20Ebd., S. 12

[21Ebd., S. 127

[22Ebd.

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