FORVM, No. 160-161
April
1967

Moskau — ein Reisebericht

I. Basis

Moskau hatte 1917 weniger Einwohner als Wien; heute hat es etwa ebensoviel wie ganz Österreich. In den fünfzig Jahren des Bestandes der Sowjetunion wuchs deren Hauptstadt von 11½ auf über 61½ Millionen — oder im Durchschnitt alle zwei Jahre um die Einwohnerzahl von Linz.

1917 waren 80% der Moskauer Häuser aus Holz. Da erst 1935 im großen Maße mit der Liquidierung des hölzernen Moskau begonnen wurde und von 1941 bis 1953 fast nichts gebaut wurde, vollzog sich der Neubau der Stadt in nicht mehr als 20 Jahren.

Seit Stalins Tod entstanden ganze neue Stadtviertel. Es wird weiterhin gebaut. Chruschtschew ging, sein „Speckkommunismus“ blieb: Konsumgüter und Wohnungen, nicht nur Schwerindustrie und Rüstung.

Man hört beneidenswerte Ziffern: die Stadt Leningrad (3,5 Mill. Einwohner) baut im Jahr doppelt soviel Wohnungen wie Österreich, nämlich 80.000.

1970, hört man, wird das Wohnungsproblem gelöst sein.

Stalins Wohnkasernen sind eine Mischung aus Hitlers Reichskanzlei und dem Mormonentempel in Salt Lake City.

Gesichtslose Fassaden, pompöse Balkone, zu kleine Fenster, zu viele und zu große Säulen — wie gigantische Gitterstäbe vor einem gigantischen Käfig. An den Gesimsecken wachen steinerne Arbeiter und Bauern, mit mächtigen Hämmern und Sicheln.

Zur Versüßung der Wohnhaft gibt es oben drauf Türme und Türmchen, Tempel und Tempelchen — Zuckerbäckerphantasie, die bei Nacht und Nebel mit Flutlicht angestrahlt wird und dann jenen Winkel des Herzens rührt, in dem jeder gebildete Mensch etwas für Kitsch übrig hat.

Sobald sie den stalinistischen Schrecken vergessen haben, werden die Moskauer ihren stalinistischen Kitsch so liebgewinnen wie die Wiener den bürgerlich-imperialistischen Kitsch ihrer Ringstraße.

Noch ist es nicht soweit. Die „Intourist“-Dolmetscherin zeigt die stalinistischen Wohntempel nur auf ausdrückliche Nachfrage und mit aufgeklärt heiterer Ablehnung: „Heute bauen wir nicht mehr so.“

Vielmehr schießt in Massen und mittlerer Wolkenkratzerhöhe (bis 100 Meter) mehr oder minder moderne Architektur aus dem Moskauer Boden. Unter anderem, gleich neben dem Kreml, ein Hotel namens „Rußland“ für 6000 Touristen.

Ein Rußland für Touristen. Das neue Hotel soll zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution fertig sein. Wie hätte Stalin dieses Jubiläum begangen? Mit 6000 Touristenbetten gleich neben seiner und aller anderen Zaren Zwingburg?

Einige große Moskauer Ausländerhotels stammen noch aus der Zarenzeit. Ganz Moskau wurde neu gebaut, die Hotels blieben.

Dies ermöglicht einen Effekt nach Art der „Zeitmaschine“ von H. G. Wells. Aus einer Welt um die Jahrhundertwende, ornamentiert in üppigem Jugendstil, Einbettzimmer wie heute eine Dreizimmerwohnung, antikes Mobiliar und ebensolche Badezimmer — aus diesem Charme der alten Welt tritt man unvermittelt, nach Abgabe des gewaltigen Messingschlüssels bei der Portiersfrau, die hinter antikem Lampenschirm in antikem Fauteuil zusätzliche Gemütlichkeit verbreitet, und nach Warten auf den winzigen Lift, der schon manchen großen Grundbesitzer, Kaufmann und Gardeoffizier des Zaren ebenso endlos warten ließ — aus dieser Welt der vorsintflutlichen Unwirklichkeit tritt der Tourist unvermittelt in die neue, gewaltige sowjetische Wirklichkeit.

Diese Wirklichkeit wird von „Intourist“ vorbildlich erschlossen und dargeboten, tüchtig, sachlich, mit einem Minimum an propagandistischem Zungenschlag. Welcher auch gänzlich unnötig wäre, denn diese Wirklichkeit spricht für sich.

Man kann heute mit wenig Mühe und noch weniger Risiko auch hinter die von „Intourist“ vorgeführte Wirklichkeit gelangen und mit echten Sowjetmenschen in einem echten Sowjetheim reden.

Im Besitz von Empfehlungen guter Freunde an gute Freunde hat man, um mit diesen in Kontakt zu kommen, keine größere Schwierigkeit als das Telephonbuch, welches es nicht gibt — vielleicht ein Überrest der Stalin’schen Spionenfurcht. Aber Kundige verraten die Nummer der „Auskunft“. Diese gibt tatsächlich Auskunft, sogar auf deutsch.

Das Moskauer Telephonnetz ist überlastet wie das Wiener, nur um soviel mehr, als Moskau größer ist als Wien. Beim 17. Mal kommt die Verbindung zustande.

Beim Taxistandplatz steht eine mittellange Schlange. Taxis sind auch für Einheimische billiger als in Österreich.

Der Taxifahrer war in Österreich kriegsgefangen. Er nimmt gerne einen Rubel statt der 80 Kopeken, die die Uhr anzeigt, und verabschiedet sich mit freundschaftlichem Händedruck.

Man durchschreitet ein gewaltiges Portal, von drei Stock hohen Säulen besten stalinistischen Stils bewacht, fühlt sich aber dann wie zu Hause, nämlich in einem Wiener Gemeindebau, nur düsterer und verwahrloster. Im unbeleuchteten Stiegenhaus lehnen Halbwüchsige.

In mancher Hinsicht hat es der Moskauer Mieter besser als der Wiener Gemeindemieter. Es gibt pro Stiegenhaus zwei Lifte, die poststalinistischen Wohnhäuser haben auch Müllabwurf in jedem Stockwerk. Wohnungen und Stiegenhäuser sind an das Fernheiznetz angeschlossen. Es ist überall übertrieben warm, auch in den Verkehrsmitteln.

In dieser Stadt hat es im Winter bis 40 Grad unter Null. Einst war das Überwintern für breite Schichten eine Frage auf Leben und Tod. Die Fernheizung hat den Winter besiegt.

Monument dieses Sieges ist das riesige Moskauer Freibad. Das Wasser wird auf 25 Grad erwärmt. Die von weitem sichtbare Dunsthaube über dem Becken schützt auch jene Körperpartien, die aus dem Wasser geraten. Schwimmstraßen führen aus dem Becken direkt in die Kabinenräume.

Dies ist nicht bloß eine Sport-, sondern eine Kultstätte: ein Stück verwirklichtes Paradies auf Erden, Beweis, daß dem Sowjetmenschen nichts unmöglich ist.

Dem Sowjetmenschen ist es noch nie so gut gegangen wie heute, und er hat Aussicht, daß es ihm noch besser gehen wird. Der enorme Wohnungsbau hebt die Stimmung. Bald wird die von FIAT gelieferte Autofabrik zu produzieren beginnen: 500.000 Kleinautos pro Jahr. Vorläufig gibt es in der 6½-Millionen-Stadt nur 90.000 Privatwagen.

Die Geschäfte bieten eine Warenfülle, die für unsere Begriffe kärglich, aber für sowjetische Begriffe fast märchenhaft ist, verglichen mit der Lage noch vor wenigen Jahren.

In den riesigen neuen Geschäftslokalen gibt es vorläufig mehr Käufer als Waren. In der Haupteinkaufszeit scheint es unmöglich, in ein Geschäft hinein- oder wieder herauszukommen. Meldet der Mundlunk das Eintreffen „westlicher“ Waren, d.h. Waren aus den kommunistischen Staaten Osteuropas, bilden sich in Zauberschnelle Schlangen vor den Geschäftseingängen.

Es genügt, behauptet Moskauer Witz, wenn einer vor einem Geschäftseingang stehen bleibt und Zeitung liest; nach fünf Minuten hat er eine Schlange hinter sich.

Wie und wann die Moskauer Zeit finden, ihre Kaufwut in stundenlanger Mühsal zu befriedigen, ist für den Ausländer ein großes Rätsel. Größer ist nur noch das Rätsel, womit sie ihre Einkäufe bezahlen.

Der durchschnittliche Monatsverdienst eines Sowjetbürgers beträgt, so hört man, etwa 100 Rubel; der durchschnittliche Monatsverdienst eines Österreichers, hört man, etwa 3000 Schilling. Das Verhältnis von 100 : 3000 ist also anzuwenden, wenn man die Kaufkraft eines sowjetischen Durchschnittsverdieners in Schilling ausdrücken will. (Diese Relation von 1:30 entspricht auch dem offiziellen Rubelkurs; auf der Straße bieten Halbwüchsige den Rubel um 12 Schilling an, worauf mehrere Jahre Arbeitslager stehen.)

Gemäß Kaufkraft für den sowjetischen Durchschnittsverdiener wie auch gemäß offiziellem Rubelkurs kosten:

1 Herrenanzug einf. Qual. S 9000
1 Damenkleid einf. Qual. S 1200
1 P. Damenschuhe einf. Qual. S 1200
1 P. Nylonstrümpfe S 120
1 m Wollstoff S 900
1 Gummiregenmantel S 960
1 Tafel Schokolade, einfach S 24
1 Packung Keks, einfach S 30
1 kg Orangen S 45
1 kg Äpfel S 36
1 kg Rindfleisch, mittl. Güte S 120

Ein Automobil, Marke „Moskwitsch“, ein recht einfacher Wagen, kostet 150.000 Schilling.

Auf dem Moskauer Zentralmarkt, dem offiziell zugelassenen freien Lebensmittelmarkt, kostet im Winter das Kilogramm Gurken oder Tomaten 210 Schilling. Die Erfolgsrechnung eines Privatmannes aus Georgien sieht so aus:

Gekauft: 1 Flugkarte Tiflis—Moskau und retour, mit 30 kg Freigepäck: S 2100,—. Verkauft: 30 kg Gurken oder Tomaten: S 6300,—.

Die Leute in den Straßen sind fast alle ordentlich gekleidet und prächtig genährt. Bei den Frauen herrscht das Kopftuch vor, aber eine beachtliche Minderzahl gelangt auf eine aus dem Warenangebot der Geschäfte nicht ersichtliche Weise zu beinahe hauptstädtischer Eleganz.

Wenn die sowjetische Durchschnittsfamilie damit fertig wird, daß ein Anzug drei Monatsgehälter kostet, ein Kleid oder ein Paar Schuhe eineinhalb Wochenlöhne, so vermutlich deshalb, weil mehrere Familienmitglieder verdienen und weil Grundnahrungsmittel (Brot, Kartoffel, Milch) sowie Wohnung und Verkehrsmittel sehr wenig kosten. Für eine Durchschnittswohnung (1-3 Räume) bezahlt man im Monat 90-150 Schilling, für eine Fahrt mit der U-Bahn 1 Schilling 50. Die Schulbildung der Kinder und der Gesundheitsdienst für alle sind weitere billige Budgetposten (für Schulbücher und Medikamente muß bezahlt werden, sie kosten aber wenig). Für eine Hauptmahlzeit wochentags sowie für den Urlaubsaufenthalt sorgt zumeist der Betrieb, in dem man arbeitet.

Unzweifelhaft würde der durchschnittliche Österreicher den sowjetischen Alltag deprimierend hart finden. Ebenso unzweifelhaft ist dieser Alltag für den Sowjetbürger leichter als unter Stalin. Der Sowjetbürger bezahlt immer noch für den welthistorischen Sprung aus dem tiefsten Feudalismus an die Spitze der Industrienationen in der Rekordzeit von 50 Jahren — aber er bezahlt weniger als unter Stalin, und er bekommt allmählich sogar etwas zurückbezahlt.

II. Überbau

Es läßt sich lang darüber streiten, ob dieses Land auch ohne Bolschewismus etwa die gleiche rapide Entwicklung genommen hätte, und dies mit weniger Härte, weniger Blut. War nicht die industrielle Zuwachsrate in den letzten Friedensjahren unter dem Zaren größer als je in stalinistischen Zeiten?

Im Grunde ist dieser Streit müßig wie alles Fragen „Was wäre gewesen, wenn ...“; was in der Geschichte notwendig ist, läßt sich nicht anders beweisen, als dadurch, daß es sich ereignet hat.

Unbestreitbar ist demgemäß, daß die Sowjetunion mittels ungeheuerlicher Brutalität zu ihrer heutigen Größe aufwuchs. Unbestreitbar ist desgleichen, daß von der stalinistischen Brutalität heute noch alles da ist, was nötig scheint, um ein Land ohne Freiheit zu regieren und ökonomisch vorwärts zu bringen. Unbestreitbar ist ferner, daß von der stalinistischen Brutalität alles verschwunden ist, was auf das Konto der Charakterfehler des Selbstherrschers zu setzen war und den wirtschaftlichen Aufstieg eher behindert als gefördert hat.

Wenn es heute zeitig früh an der Tür des Sowjetbürgers klopft, ist es noch immer nicht der Milchmann, aber auch nicht mehr die Polizei. Genauer also: zeitig früh klopft es an der Tür des Sowjetbürgers überhaupt nicht. Sein Alltag beginnt um acht, neun Uhr, eher später als bei uns, und die Polizei spielt in diesem Alltag keine übertriebene Rolle mehr.

Das gilt für jene Sowjetmenschen, die sich mit dem Alltag begnügen, samt staatlich genormtem Anteil am Geistesleben, welches intensiv, aber ohne Tiefgang betrieben wird.

Es gibt beneidenswert viele Theater; sie sind immer voll. Vor den Museen gibt es längere Schlangen als vor den Kaufhäusern, in den Buchhandlungen noch mehr Gedränge als in den Lebensmittelgeschäften. Bücher sind billig. Ein Viertel aller Bücher der Welt, hört man, wird in diesem Land gedruckt, welches vor der Revolution hauptsächlich von Analphabeten bewohnt war. Es erscheinen, hört man, 88 Millionen Zeitungen täglich, in 56 Sprachen. Allein in Moskau gibt es, hört man, 80 Hochschulen mit 400.000 Studenten; allein die Lomonossow-Universität auf den Lenin-Bergen hat 20.000 Studenten (darunter sechs österreichische Stipendiaten).

Wer sich freilich weder mit dem genormten Alltag noch mit dem genormten Geistesleben begnügt, für den ist nach wie vor die Polizei zuständig.

Zuständig ist die Polizei somit insbesondere für eine unruhige Minderheit unter der hauptstädtischen Intelligentsia: Literaten, Künstler, Wissenschaftler, Studenten.

Junge Leute, die auf dem Friedhof des Neuen Jungfrauenklosters, vor dem Puschkin- oder vor dem Majakowski-Denkmal oppositionelle Gedichte rezitieren, werden verhaftet und eingesperrt. Leute, die oppositionelle Manuskripte zirkulieren lassen, werden verhaftet und eingesperrt.

Sinjawski und Daniel waren nur die spektakulärsten Opfer der überlebenden stalinistiichen Reaktion. Insgesamt gehören Gefängnis und Arbeitslager weiterhin zum Schicksal der russischen Intelligenz — wie unter Stalin und allen früheren Zaren.

Der Umfang der Opposition gegen den fortdauernden Stalinismus läßt sich schwer abschätzen. Er ist vermutlich größer, als der durchschnittliche ausländische Besucher wahrzunehmen imstande ist.

Sicherlich wäre es falsch, die Opposition der Intellektuellen als antisowjetisch, antikommunistisch oder gar antisozialistisch zu klassifizieren. Sie ist antistalinistisch, das ist alles. Aber das genügt auch. Gerade auf diesen Menschen ruht die Hoffnung, daß der sowjetische Kommunismus sich in Richtung Freiheit entwickeln wird.

Die Grundlagen hiefür werden im Moskauer „Selbstverlag“ gelegt.

Gedichte werden von Hand oder mit Schreibmaschine kopiert und zirkulieren nach dem Schneeballsystem mit verblüffender Geschwindigkeit und Reichweite.

Desgleichen Niederschriften von Vorträgen und Diskussionen an der Universität, an der Akademie für Wissenschaften, am Institut für Marxismus-Leninismus. Was nach dem Willen der poststalinistischen Bürokratie nicht über den engsten akademischen Kreis hinausgelangen soll und selbst dort nicht selten böse Folgen für die Redner hat, kommt im „Selbstverlag“ relativ rasch zur Kenntnis der hauptstädtischen Intelligenz.

Die Manuskripte, die im „Selbstverlag“ abgeschrieben werden, erreichen bisweilen den Umfang eines Bandes mit 300 und mehr Seiten. Auch ganze oppositionelle Zeitschriften werden auf diese Weise herausgegeben.

Im Moskauer „Selbstverlag“ sind auch Teile der Memoiren von Swetlana, der Tochter Stalins, erschienen, insbesondere das Kapitel über ihre erste Liebe, mit 16 Jahren, zu einem jüdischen Filmregisseur, den Stalin daraufhin fünf Jahre nach Sibirien schickte. („In seinen Augen funkelte sein satanischer Haß gegen die Juden. Er stampfte mit den Füßen und schrie: „Du wirst deinen Saujuden nie mehr wiedersehen!“)

Als der Mann die fünf Jahre übersteht und Swetlana ihn heimlich wiedersieht, schickt ihn Stalin nochmals fünf Jahre nach Sibirien.

Die westlichen Intellektuellen halten die Swetlana-Story eher für Illustrierten-Stoff; im Moskauer „Selbstverlag“ meint man, daß diese Memoiren, wenn sie der Weltöffentlichkeit vorliegen, durch ihre Authentizität mithelfen könnten, die Wiederkehr des Stalin-Kultes zu verhindern.

Der Moskauer „Selbstverlag“ bucht auf sein Erfolgskonto auch den Brief an Breschnjew gegen die Rehabilitierung Stalins auf dem XXIII. Kongreß der KPdSU, unterzeichnet von 24 prominenten Wissenschaftlern und Literaten (Kapiza, Tamm, Katajew, Paustowski, Tendrjakow, Plisezkaja, u.a.).

Die großen Themen im „Selbstverlag“ sind Meinungsfreiheit („Ich glaube, daß am Marxismus etwas dran ist; aber ich will glauben dürfen, daß am Marxismus nichts dran ist“) und Demokratie, womit nicht nur das westliche parlamentarische Modell gemeint ist, sondern die direkte Demokratie nach jugoslawischem Muster (Arbeiterselbstverwaltung, Dezentralisierung). Im „Selbstverlag“ zirkulieren auch Passagen aus den Büchern von Djilas sowie Berichte über die Fälle Kolakowski, Kuron und Modzelewski in Polen. [*]

Die im „Selbstverlag“ sich formierende Opposition verzeichnet ohne Wehleidigkeit die ihr zugefügten Verluste. Ein junger Mann, 28 Jahre alt, wird zusammen mit einigen Freunden verhaftet, als er vor dem Puschkin-Denkmal (an der Gorki-Straße, im Zentrum Moskaus) ein oppositionelles Gedicht zitiert. Der Richter fragt ihn, warum er nicht studiert.

„Weil das Studium derzeit meinen Vorstellungen nicht entspricht.“

„Was machen Sie sonst?“

„Ich arbeite in einer Fabrik und studiere Kant.“

„Warum lesen Sie nichts Späteres, z.B. Marx, Engels, Lenin?“

„Ich halte vom Marxismus nicht viel. Eher interessiert mich das englische Parlamentssystem.“

Der junge Mann bekam drei Jahre Arbeitslager. Unter Stalin hätte er zehn bekommen. Das Lagerregime ist um nichts besser als unter Stalin, aber wenn der Kommandant ein Mensch und der junge Mann gesund ist, sind diese drei Jahre besser als die in solchen Fällen beliebte Nervenheilanstalt. Dort kommt er nie mehr heraus und wird früher oder später wirklich geisteskrank.

Die im „Selbstverlag“ formierten Intellektuellen bezeichnen sich eindeutig als eine „linke“ Oppositon („links sind die, die selber denken wollen, rechts ist der Idiotismus des Apparats“).

Man wird einst diesen Widerstand, der nicht gegen, sondern für die Sowjetunion kämpft, statt mit Arbeitslager, mit der gebührenden Ehrfurcht belohnen. Die Sowjetunion ist ein im Kern gesundes, imponierendes, der Freundschaft aller Gutgesinnten würdiges Land. Um wieviel würdiger wäre sie, wenn sie mit den mächtigen Restbeständen des Stalinismus ein wenig rascher Schluß machte!

III. Religion

„Intourist“ ist das größte Reisebüro der Welt, wahrscheinlich auch das tüchtigste. Das ist wichtig, weil der Ausländer in der Sowjetunion, auf sich selbst gestellt, kaum lebensfähig ist. Hotelzimmer, Mahlzeiten, Fortbewegung mit Bahn oder Flugzeug, das alles wird, berichten Leute, die’s probiert haben, ohne „Intourist“ zum fast unlösbaren Problem.

Mit „Intourist“ hingegen zum Vergnügen. Allein für deutschsprachige Gäste hört man, gibt es 90 sprachkundige Begleiter. Nimmt man an, daß ein solches unerhört tüchtiges und bemühtes, meist weibliches Wesen im Höchstfall 50 Gäste betreuen kann, erkennt man die Kapazität, auf die der sowjetische Fremdenverkehr vorläufig eingestellt ist.

Verglichen mit Stalins Zeiten ergibt dies eine astronomische, verglichen mit dem Westen eine mikroskopische Touristenzahl.

„Intourist“ wurde auch mit der bemerkenswert neuartigen Aufgabe glänzend fertig, eine geschlossene Gruppe österreichischer Katholiken zu betreuen; als „erste konfessionelle Gruppe“ begrüßte sie bei ihrer Ankunft der stellvertretende Leiter der deutschsprachigen Abteilung von „Intourist“. Das Spezialprogramm lief unter dem Titel „Studium religiöser Einrichtungen der Sowjetunion“.

In Kiew verfügt die orthodoxe Kirche über 1 Kathedrale, 11 Kirchen und 2 Klöster. „Intourist“ zeigte 1 Kathedrale, und 1 Kloster sowie, stellvertretend für eine ungenannte Zahl von Kirchen, die keine mehr sind, die großartige, goldfunkelnde Sophienkathedrale, einst Bischofssitz, heute Museum.

Die Kathedrale des heiligen Wladimir zeigte „Intourist“ pünktlich zum Gottesdienst. Ein häßlicher Bau aus dem 19. Jahrhundert, als es am häßlichsten war; schöne Kirchen, zeigte sich im weiteren Verlauf der Reise, sind fast immer vorbildlich gepflegte Museen, z.T. solche für Atheismus.

Die Kathedrale war überfüllt mit reichlich tausend Menschen, in der Mehrzahl auffallend ärmlich und ungepflegt; das zeigte auch die weitere Reise: in den Straßen bestimmen relativ gut gekleidete Menschen das allgemeine Bild, in den Kirchen konzentrieren sich die unteren und untersten Einkommensklassen. Zumindest 90% der Kirchenbesucher sind Frauen; auf den ersten Blick würde man sagen: alte Frauen. Aber man muß Kopftuch, Kleidung und ein hartes Leben in Rechnung stellen; die meisten dieser Frauen sind wahrscheinlich jünger als die Oktoberrevolution.

Nach einiger Zeit wird von Frauen in einheitlich schwarzen Kleiderschürzen quer durch das Kirchenvolk eine Gasse gebahnt; „Intourist“ führt zum Metropoliten.

Filaret, Erzbischof von Kiew und Galizien, Exarch der Ukraine, ist ein erstaunlich junger Mann; auch im weiteren Verlauf der Reise erweisen sich nicht wenige hohe Würdenträger als vierzig- bis fünfzigjährig.

Die Gründe liegen in der Stalinzeit. 1944 erhielt die orthodoxe Kirche mehr Bewegungsfreiheit, zum Dank für Unterstützung im Vaterländischen Krieg; die Kirche segnete die Fahnen, rüstete mit Kirchengeld eine Panzerdivision aus. Zur Nutzung des neu gewonnenen Freiheitsraumes gab es, nach fast dreißig Jahren Repression, viel zu wenig Priester; junge, rasch ausgebildete, der neuen Zeit angepaßte Menschen stiegen folglich rasch in die oberen Ränge der Hierarchie.

Der Erzbischof spricht über das Konzil und seinen Besuch in Wien bei Kardinal König. Sein Begleiter, der auch in Wien stets mit ihm war, trägt einen hellgrauen Straßenanzug und übersetzt ausgezeichnet, wenngleich ein bißchen „branchenfremd“: aus „Fasten“ wird „Pfingsten“, aus „Brüderlichkeit unserer beiden Kirchen“ der offizielle Terminus technicus „Freundschaft unserer beiden Länder“.

Nach dem Gottesdienst warten mehr als tausend Menschen auf die Abfahrt des Metropoliten. Seine Begleiter schaffen ihm mit Mühe Platz; während er den Segen erteilt, küssen Frauen seine Kleidung. Er besteigt eine große schwarze Staatskarosse, chauffiert vom erwähnten ständigen Begleiter.

Mit verklärten Augen und umwölkt von Auspuffgasen schieben Frauen die Limousine vom Kirchenvorplatz auf die Straße.

Später, beim Besuch der Museen für Atheismus in Kiew und Leningrad, bemerkt die Studiengruppe österreichischer Katholiken, wieviel Gewicht dort auf der Behauptung liegt, daß die Kirche die Menschen in unwürdiger Unterwürfigkeit halte.

„Höhlen und Mumifikation“

1944, als Stalin seinen Dank für die vaterländische Gesinnung der orthodoxen Kirche abstattete, wurde das Pokrow-Frauenkloster in Kiew wieder zugelassen. Bis dahin arbeiteten die Nonnen „in Zivil“ im benachbarten Krankenhaus, das vor 1917 ein Klosterspital war. Seit sie wieder „richtige“ Nonnen sind, dürfen sie im Krankenhaus nicht mehr arbeiten.

Es gibt im Pokrow-Kloster noch 200 Nonnen, davon 50 jüngere. Nachwuchs gibt es keinen. Die sowjetische Verfassung gestattet, hört man, auf Grund der Religionsfreiheit jedermann den Eintritt ins Kloster; dem Pokrow-Kloster gestattet man jedoch seit 1958 keine Neuaufnahmen.

Von der einstmals reichen Landwirtschaft ist nur noch ein Gemüsegarten übrig. Die Nonnen beschäftigen sich mit der Erzeugung von Kultgeräten und Kerzen. Die jährliche Steuerleistung beträgt 15.000 Rubel (450.000 Schilling).

Auch das altberühmte Höhlenkloster Kiew-Lavra wurde von Stalin wieder zugelassen. Während die Studiengruppe auf den Einlaß in die Katakomben wartet, gerät man ins Gespräch mit einem alten Mann.

Hier habe es einst wohl an die tausend Mönche gegeben, und jährlich ungezählte Wallfahrer, die ihren Weg auf den Knien zurücklegten. 1962 habe die Polizei die letzten 67 Mönche geholt; ein Drittel sei ins Gefängnis gekommen, ein Drittel in die Nervenheilanstalt, ein Drittel in andere Klöster.

In den Katakomben wird eine ausführliche wissenschaftliche Erklärung gegeben, auf Grund welcher geologisch-mineralogischen, klimatisch-meteorologischen, atmosphärisch-radiologischen Besonderheiten die hier eingebrachten Toten nicht verwesen.

Auf dem Gelände des Klosters gibt es zum selben Thema ein eigenes Museum „Höhlen und Mumifikation“.

Im Leningrader Museum für Atheismus sieht die Studiengruppe später ein einschlägiges Ölgemälde mächtigen Formates, im Stil des sozialistischen Realismus: aufgeklärt blickende Sowjetmenschen, die irgendwie auch amtlichen Charakter haben, denn sie tragen Uniform, sind mit Pistolen bewaffnet und einer führt Protokoll, öffnen die Heiligengräber in einer Kirche und beweisen wehklagenden Weiberln und alkoholisch typisierten Popen, daß die Heiligen (außer unter den besonderen Bedingungen der Mumifizierung in Höhlen) gerade so verwesen wie andere Tote.

Moskau ist eine gigantische Stadt; in gewaltigen Gebäuden befinden sich riesige Verwaltungszentren für alle wichtigen Angelegenheiten. Die staatliche Kirchenbehörde hat Platz in einem einstöckigen Haus auf dem Smolensky Boulevard Nr. 11.

Rechts vom Haustor ein schwarzes Schild: „Rat für religiöse Angelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR“. Links vom Haustor das gleiche kleine Schild, darunter parkt ein Kinderwagen.

Am Portiertisch sitzt ein alter Mann in einem abgetragenen Pelzmantel; auf dem Schoß hat er ein kleines Mädchen, das auf amtlichem Papier Sonnenblumen zeichnet. In der Ecke lehnt eine gerollte Tragbahre, auf dem Gang stehen Polstermöbel, mit der Sitzfläche zur Wand gekehrt und mit weißen Schonbezügen, sowie ein Klavier, gleichfalls mit Schonbezug.

Im bescheiden dimensionierten Zimmer des stellvertretenden Vorsitzenden des Rates für kirchliche Angelegenheiten, Pjotr Wlassowitsch Makartsev, sind nicht genug Sessel für die Studiengruppe, aber es werden rasch welche geholt.

An den Wänden Marx und Lenin, auf dem Schreibtisch ein Füllfederhalter in Form einer Rakete und eine Schachtel mit Büroklammern, wovon im Verlauf des dreistündigen Gesprächs sieben vom stellvertretenden Vorsitzenden zerbrochen werden. Das Telephon läutet im Gesprächszeittaum 73mal; beim 74. Male legt Makartsev den Hörer ab.

Rechts von ihm sitzt ein Mann, der an der Begrüßung und am Gespräch nicht teilnimmt.

Makartsev beginnt mit einem Hinweis auf die sowjetische Verfassung (Art. 124: „Um der Gewissensfreiheit der Bürger willen ist die Kirche in der UdSSR vom Staat und die Schule von der Kirche getrennt. Die freie Ausübung religiöser Kulte und die Freiheit der antireligiösen Propaganda wird allen Bürgern zuerkannt.“)

Es folgt ein Hinweis auf die Nationalisierung der Kirchengüter: alle Kirchen und alles „Kirchengeschirr“ — gemeint ist vermutlich Kultgerät — gehört dem Staat.

Aufgabe des Rates für kirchliche Angelegenheiten sei 1. die Einhaltung der Gesetze zu überwachen, 2. die Verbindung zwischen Staat und „religiösen Organisationen“ zu besorgen, damit diese alles bekommen, was sie brauchen: Material für Kirchengeräte und Kerzen (die Erzeugung besorgen sie selber); Papier und sonstiges Material für religiöse Bücher und Zeitschriften (den Druck besorgen sie selber).

Für all das müssen die „religiösen Organisationen“ bezahlen. Makartsev fügt mit sympathischem Humor einen halben Satz aus der Bibel hinzu, den die „Intourist“-Dolmetscherin nicht übersetzt: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist ...“ Desgleichen müssen die „religiösen Organisationen“ für die Instandhaltung der von ihnen benützten Gebäude aufkommen. Können sie dies nicht und ist das Kirchengebäude künstlerisch bedeutsam, springt der Staat ein; die Kirche muß das vorgeschossene Geld zurückbezahlen, außer wenn das Kirchengebäude in ein Museum verwandelt wird.

Irgendwelche atheistische Propaganda sei nicht Aufgabe des Rates für kirchliche Angelegenheiten; dies bleibe der Partei und den „gesellschaftlichen Organisationen“ überlassen.

Und nun möge man Fragen stellen.

Christen in der Kirche, Atheisten im Staat

Frage: Die sowjetische Verfassung garantiert Freiheit des religiösen Kultes und Freiheit der antireligiösen Propaganda. Die Christen dürfen ihre Lehre also nur in den Kirchen verbreiten, die Atheisten in voller Öffentlichkeit. Betrachen Sie das als ausreichende Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz?

Makartsev: Schauen Sie, es gibt ungefähr 20.000 Gebäude für die verschiedenen religiösen Organisationen, dort wird — ich weiß es nicht genau — zwei oder dreimal in der Woche gepredigt, oder wie Sie das nennen. Das ist mehr Propaganda als alle Artikel in unserer Presse über Atheismus oder alles im Rundfunk über Atheismus.

Frage: Gibt es religiöse Propaganda in Hörfunk und Fernsehen?

Makartsev: Das haben wir nicht.

Frage: Gibt es Tageszeitungen, die von religiösen Organisationen herausgegeben werden?

Makartsev: Das haben wir nicht.

Frage: In welchen Abständen erscheinen Zeitschriften der religiösen Organisationen?

Makartsev: Jede hat ein Journal, das monatlich erscheint.

Frage: In welchem Umfang und in welcher Auflage erscheint diese religiöse Presse?

Makartsev: Ich weiß nicht genau.

(Im weiteren Verlauf der Reise ergibt sich, daß die „Nachrichten des Moskauer Patriarchats“ im Umfang von etwa 60 Zeitschriftseiten erscheinen. Über die Auflage waren auch weiterhin nur vage Angaben erhältlich; sie dürfte bei 25.000 liegen. Die sowjetische Tagespresse hat eine Gesamtauflage, hörte man, von 88 Millionen.)

Frage: Sind religiöse Zeitschriften und Bücher frei erhältlich?

Makartsev: Ja.

Frage: Kann man religiöse Zeitschriften und Bücher in Kiosken oder Buchhandlungen kaufen?

Makartsev: Die religiösen Organisationen vertreiben ihre Literatur selbst.

Frage: Heißt das, daß diese Literatur nur in den Kirchen erhältlich ist?

Makartsev: Ja.

Frage: Kann man solche Literatur mit der Post verschicken?

Makartsev: Mit der Post kann man alles verschicken.

Frage: Die sowjetische Verfassung garantiert die Versammlungsfreiheit. Können religiöse Organisationen Versammlungen abhalten, um ihre Anschauungen zu propagieren?

Makartsev: Sie haben die Kirchen und Gebetshäuser.

Frage: Können die religiösen Organisationen außerhalb der Kirchen Versammlungen abhalten?

Makartsev: Das muß bei der lokalen Behörde angemeldet werden.

Frage: Würde diese Behörde hiefür Versammlungsräume zur Verfügung stellen?

Makartsev: Nach der Verfassung ist das möglich.

Frage: Würden Sie den sowjetischen Staat als atheistisch bezeichnen?

Makartsev: So kann man die Frage nicht stellen. Es wird keiner vorgezogen. Wir haben Gewissensfreiheit, Staatliche Institutionen machen sich strafbar, wenn sie die Rechte der Gläubigen beeinträchtigen. Es ist falsch, zu sagen, daß der Staat atheistisch ist.

Frage: Ist es richtig, zu sagen, daß der Staat weltanschaulich neutral ist?

Makartsev: Man kann in unserem Staat sein, was man will ...

(Hier greift der rechts neben Makartsev sitzende Herr zum ersten und einzigen Mal ein. Er beugt sich zu Makartsev und sagt etwas, was nicht übersetzt wird.)

Makartsev: Man kann in unserem Staat sein, was man will, aber man kann nicht sagen, daß unser Staat neutral ist zur Religion.

Frage: Warum kann man das nicht sagen?

Makartsev: Der Staat muß eine kluge Politik machen. Man muß Realist sein. Man muß das Leben betrachten, wie es ist. Wenn es noch Gläubige gibt, muß man Kompromisse schließen. Es muß Gewissensfreiheit geben. Ich bin Atheist, und ich möchte, daß es mehr Atheisten gibt. Aber es gibt noch viele Gläubige. Man muß Realist sein. Man muß ihnen Rechte geben.

Frage: Sind Sie Parteimitglied?

Makartsev: Ja.

Frage: Ist der Vorsitzende des Rates Parteimitglied?

Makartsev: Ja.

Frage: Wieviele Stellvertreter hat der Vorsitzende außer Ihnen?

Makartsev: Noch zwei.

Frage: Sind die auch Parteimitglieder?

Makartsev: Ja.

Frage: Finden Sie es schwierig, als Parteimitglied Atheist zu sein, als Beamter kein Atheist zu sein und als Leiter dieser Behörde speziell für die Kirche zu sorgen?

Makartsev (lachend): Ich finde es nicht schwierig.

1-2 Kirchen in 10 Jahren

Frage: Bedienen Sie sich in ihrem Amt der Mitwirkung gläubiger Menschen?

Makartsev: Wie meinen Sie das? Das ist ein staatliches Amt. Vertreter religiöser Organisationen haben hier keine Funktion.

Frage: Wir meinen: beschäftigen Sie gläubige Menschen als Mitarbeiter?

Makartsev: Weiß ich nicht. Aber wir haben auch Parteilose hier.

Frage: In Marienbad findet eine internationale Konferenz der Paulus-Gesellschaft statt, die dem Dialog zwischen Christen und Marxisten dienen soll. Was halten Sie davon?

Makartsev: Ich bin kein Philosoph, sondern ein Beamter. Ich bin nicht zuständig. Aber Dialog ist gut — das ist meine persönliche Meinung (fünf Minuten in diesem Sinne).

Frage: Würde die Sowjetunion Teilnehmern an einem solchen Dialog die Ausreise gestatten?

Makartsev: Darauf kann ich nicht antworten.

Frage: Was halten Sie vom Austausch von Büchern und Zeitschriften zum Zweck eines solchen Dialogs?

Makartsev: Das ist nicht mein Problem. Reden Sie mit den religiösen Organisationen und der Akademie der Wissenschaften.

Frage: Wir haben im Kiewer Höhlenkloster das Museum für wissenschaftlichen Atheismus gesehen. Wird aller Atheismus in der Sowjetunion auf so primitivem Niveau betrieben?

Makartsev: Ich habe die Ausstellung nicht gesehen. Aber es ist möglich, daß es Fehler gibt, weil die atheistische Propaganda schwierig ist.

Frage: In Moskau werden jetzt erfreulich viele Wohnungen gebaut. Gibt es in den neuen Stadtteilen Kirchen?

Makartsev: Nein. Aber es gibt in Moskau 44 Kirchen. In 10 Minuten ist man mit der Metro dort.

Frage: Ist es in der Sowjetunion möglich, neue Kirchen zu bauen?

Makartsev: Ja. Es sind mindest 20 Gläubige nötig. Diese reichen ein Gesuch bei der lokalen Behörde ein. Wenn diese nicht richtig entscheidet, kann unser Rat eingreifen.

Frage: Wieviel neue Kirchen wurden in den letzten zehn Jahren gebaut?

Makartsev: Ich weiß nicht. Eine oder zwei. Ich glaube eine in Riga und eine in Taschkent. Aber das ist selten, sonst gibt es nur Gebetshäuser.

Frage: Die Kiewer Sophienkirche war Sitz des Erzbischofs. Seit wann und warum ist sie dies nicht mehr?

Makartsev: Ich weiß nicht warum. Es ist ein schönes Museum.

Frage: Wer entscheidet, ob eine Kirche ein Museum wird?

Makartsev: Wenn dort Gottesdienst und eine religiöse Gemeinde ist, kann die Frage nicht entstehen. Früher wurde der Gemeinde manchmal auch ein anderes Gebäude zugewiesen, aber heute gibt es das nicht mehr.

Frage: Warum wurden im Jahr 1962 die Mönche aus dem Kiewer Höhlenkloster entfernt?

Makartsev: Der Staat hat dort große Renovierungen vorgenommen. Die Mönche kamen in ein anderes Gebäude.

Frage: Kommen die Mönche nach der Renovierung wieder zurück?

Makartsev: Schwer zu sagen.

Frage: Warum wurden Mönche des Höhlenklosters von der Polizei in eine Nervenheilanstalt gebracht?

Makartsev: Das habe ich nicht gehört.

Frage: Ist es Sowjetbürgern erlaubt, ins Kloster zu gehen?

Makartsev: Ja, wenn es freie Plätze gibt. Sonst vielleicht nicht in dieses Kloster, aber dann in ein anders.

Frage: Müssen Klöster Steuer zahlen?

Makartsev: Nur Versicherungssteuer.

Frage: Wie hoch ist diese Steuer?

(Das Prokrow-Kloster, hörte die Studiengruppe, bezahlt jährlich 15.000 Rubel, d.s. 450.000 Schilling.)

Makartsev: Das kommt auf das Gebäude an. Ob es aus Holz ist oder aus Stein, ob es hoch ist oder niedrig, sehr wertvoll oder weniger.

Frage: Ist diese Steuer die gleiche wie für Gebäude, die nicht kirchlichen Zwecken dienen?

Makartsev: Sie ist für alle privaten Gebäude die gleiche.

Frage: Zahlen auch die atheistischen Organisationen diese Gebäudesteuer?

Makartsev: Die atheistischen Organisationen haben keine eigenen Häuser.

Frage: Wo sind die untergebracht?

Makartsev: Z.B. bei der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher und technischer Kenntnisse.

Frage: Ist das eine staatliche Organisation?

Makartsev: Ja.

Frage: Zahlen staatliche Organisationen gleichfalls diese Gebäudesteuer?

Makartsev: Staatliche nicht.

Frage: Wer entscheidet über die Errichtung von Priesterseminaren?

Makartsev: Die Kirchen selber. Sie bekommen dann vom Staat die Gebäude zugewiesen und müssen dafür zahlen. Es gibt zwei katholische Seminare und bei den Orthodoxen drei Seminare und zwei Akademien und Fernstudium — das ist die große Mode.

Frage: Wer entscheidet über die Einsetzung von Priestern?

Makartsev: Die Kirche selber. Der Priester muß sich dann bei der lokalen Behörde registrieren lassen und bekommt einen Ausweis für den Rayon. Er kann aber von uns aus auch woanders predigen.

Frage: Zahlen Priester besondere Steuern?

Makartsev: Nur Einkommensteuer. Wie freischaffende Künstler. Das geht von 4% bis hinauf zu 80% bei Einkommen über 100.000 Rubel jährlich. Priester verdienen zwischen 100 und 500 Rubel monatlich, manchmal auch 700.

Frage: Es gibt in der Sowjetunion 6 katholische Diözesen, 2 werden von Bischöfen geleitet, die anderen 4 nicht. Warum?

Makartsev: Das liegt allein bei der Kirche. Das ist ihre Sache.

Frage: Wurden diese 4 Diözesen früher von Bischöfen geleitet?

Makartsev: Ja, es waren früher noch 3 Bischöfe.

Frage: Wo sind diese Bischöfe jetzt?

Makartsev: Genau kann ich es nicht sagen.

Frage: Sind sie im Gefängnis?

Makartsev: Nein. Sie sind jetzt Priester. Es war wegen illoyalen Verhaltens zur Sowjetmacht.

Frage: Gibt es in der Sowjetunion Religionsunterricht?

Makartsev: Religion ist Privatsache. Das ist eine Angelegenheit der Eltern.

Frage: Können die Eltern ihre Kinder in den Religionsunterricht schicken?

Makartsev: Außerhalb der Kirchen ist kein Religionsunterricht möglich.

Frage: Heißt das, daß ein privater Religionsunterricht möglich ist?

Makartsev: Privat ja.

Frage: Kann also ein Priester 10-15 Kinder unterrichten, oder auch nur fünf?

Makartsev: Nein.

Frage: Wie ist dann der Religionsunterricht möglich?

Makartsev: Individuell.

Frage: Gibt es Schulunterricht in Atheismus?

Makartsev: Atheismus ist kein eigenes Unterrichtsfach. Aber er kommt vor in Physik, Chemie, Biologie, Astronomie, Geschichte usw.

Frage: Warum darf Atheismus in der Schule Kollektiv unterrichtet werden, Religion nur privat und individuell?

Makartsev: Wenn da Gruppen organisiert werden, verletzt das schon die Gewissensfreiheit.

Frage: Aber Atheismus darf doch in solchen Gruppen unterrichtetet werden?

Makartsev (lachend): Wir sind der Meinung, daß die jetzigen Bedingungen für die Gewissensfreiheit am günstigsten sind. Jeder Erwachsene kann in die Kirche gehen und er kann seine Kinder mitnehmen. Daß diese Ordnung gut ist, zeigt doch, daß es schon 50 Jahre Sowjetmacht gibt und immer noch Gläubige da sind. Unsere Priester sagen: Die Leute, die kommen, kommen freiwillig und das ist interessanter als mit solchen, die durch Druck kommen.

Nach drei Stunden verabschiedet sich die Studiengruppe österreichischer Katholiken von ihrem geduldigen und humorvollen Gesprächspartner mit dem Ausdruck ihrer ehrlichen Überzeugung, von seiner imponierenden Offenheit sehr viel gelernt zu haben.

Experimentierfeld des Glaubens

In der Tat ist die Sowjetunion ein gewaltiges Experimentierfeld zur Prüfung christlichen Glaubens unter härtesten Versuchsbedingungen:

  1. Was wird aus dem Christentum, wenn ganze Stadtviertel, jedes im Umfang einer mitteleuropäischen „Großstadt“ (100.000 Einwohner und mehr) emporwachsen ohne eine einzige Kirche?
  2. Bei steigender Einwohnerzahl (etwa 10 Millionen Zuwachs alle zwei Jahre) gibt es immer weniger Kirchen. Neue werden kaum gebaut (1-2 in den letzten zehn Jahren), die vorhandenen werden zweckentfremdet, wenn die Gläubigen für ihre Erhaltung nicht aufkommen können. Was wird aus dem Christentum wenn es keine Kirchen mehr gibt?
  3. Was wird aus dem Christentum, wenn auf zehntausend Menschen nicht einmal ein Priester kommt? Bei einer Einwohnerzahl der Sowjetunion von fast 240 Millionen gibt es, ließ sich im Verlauf der Studienreise schätzen, vielleicht noch 20.000 Priester (orthodoxe; die der anderen Kirchen, z.B. für die vermutlich rund 7 Millionen Katholiken des Landes, fallen ziffernmäßig gar nicht ins Gewicht).
  4. Stalin bewilligte 1944 der orthodoxen Kirche acht Seminare. Heute gibt es noch drei (Zagorsk bei Moskau, Leningrad, Odessa). Sie produzieren jährlich, so hört man, 80 Priester. Von den 20.000 noch vorhandenen, zum größeren Teil alten Priestern stirbt jährlich wohl ein Vierfaches dieser Zahl. Was wird aus dem Christentum, wenn es eines Tages überhaupt keine Priester mehr gibt? Bei weiterer Verringerung der Seminar- und Seminaristenzahl und angesichts der Überalterung des Klerus, die folglich weiterhin zunimmt, könnte es bis zum 100. Jubiläum der Oktoberrevolution so weit sein. [**]
  5. Was wird aus einem Land ohne Religionsunterricht für Kinder und ohne religiöse Bildung für die Erwachsenen, bei fortdauernder antireligiöser Erziehung der Kinder und fortdauernder antireligiöser Propaganda unter den Erwachsenen?

Es ist nützlich, diese Versuchsbedingungen aus der sowjetischen Realität im Gedankenexperiment nach dem Westen zu übertragen:

Was würde aus unserer Kirche bei Wegfall aller staatlichen Krücken (z.B. auch des staatlichen Arms zur Einziehung der Kirchensteuer)?

Was würde aus unserem Christentum bei Wegfall unserer „amtlichen Gebäude“ und „hauptberuflichen Funktionäre“?

Wie lange blieben wir Christen, wenn wir alles christliche Leben statt als Konsumenten des kirchenamtlichen Verteilungsapparates selber produzieren müßten, in der Familie, in freier Gemeinschaftsbildung?

Wie lange bliebe unser Land christlich, wenn wir unsere Kinder selber christlich erziehen müßten, daheim in der Familie, statt sagen oder denken zu können: Was geht’s uns an, dafür haben wir einen staatlichen bezahlten Bediensteten, der wird es ihnen schon eintrichtern.

Wenn wir, statt die Kinder durch Spezialisten, die Erwachsenen durch unsere eigene Anstrengung zum Christentum zu führen hätten, in atheistisch durchsättigter Umgebung — blieben wir dann Christen?

Oder würden wir eigentlich dann erst Christen?

Was würde aus uns unter den Bedingungen, denen sich die Christen in der Sowjetunion gegenüber sehen, und erst recht unter den noch schlechteren, die sie in Zukunft vielleicht erwarten?

Die Christen im Westen sollten dieses Gedankenexperiment gründlich betreiben. Sie sollten dabei bedenken, was not tut: nämlich ihr eigenes Christentum, statt sich sogleich mit billiger Polemik gegen den bösen Bolschewismus zu trösten.

Die Schuld an der Stärke des Atheismus und an der korrespondierenden Schwäche des Christentums ist in der Sowjetunion durchaus geteilt. Und die eigene Schuld muß für Christen die bedenkenswertere sein.

Ein Tag im Leningrader Museum für Atheismus gehört diesbezüglich zu den nützlichsten im Leben eines Christen, der auf selbständiges Denken Wert legt.

Hier — in der einst stolzen Kasaner Kathedrale — soll der Christ sich vor Augen führen, welche und wieviel Munition er dem Atheismus liefert:

  • wenn er die Bibel für ein Lehrbuch der Astronomie, Biologie usw. hält;
  • wenn er seinen Glauben auf so äußerliche Art für einzigartig hält, daß er Zusammenhang oder Ähnlichkeit mit anderen Religionen leugnet;
  • wenn er vergangene Fehler und Irrtümer seiner Kirche nicht rechtzeitig selbst kritisiert und beseitigt;
  • wenn er seine Kirche in einer Zeit gewaltiger sozialer Bewegung massiv zugunsten der Reaktion Stellung beziehen läßt;
  • wenn er als Christ nicht selber aktiv für den Neubau einer besseren Welt Sorge trägt.

So ein sowjetisches Atheistenmuseum gibt reichlich Anlaß zu aufgeklärtem Gelächter des modernen Christen über den verstaubten, engstirnigen Vulgäratheismus, der sich hier vor massenhaftem und arglosem Publikum, einschließlich Schulkindern, als „Wissenschaft“ aufspielt.

Man möge ruhig lachen. Man möge aber allen Ernstes sich auch vor Augen führen, daß in diesem Sammelsurium von Alt-Darwinismus, bourgeoisem Antiklerikalismus und agitatorischer Geschichtsklitterung kein einziges wirkliches Argument gegen den Glauben zu finden ist obgleich es deren sehr ernsthafte gibt.

Im ganzen Museum für Atheismus kein Argument gegen Gott. Aber eine Fülle von Argumenten — noch in ihrer Zerrform beweiskräftig — gegen historische Erscheinungsformen des Christentums, die den Glauben herabwürdigen zum Gegner von Wissenschaft und Fortschritt, zum Diener von Staats- und Besitzallmacht — zum Opium des Volkes.

Die orthodoxe Kirche hat eigene Schuld und brutale Verfolgung überdauert. Fünfzig Jahre nach der größten Revolution der Neuzeit ist sie immer noch da — an den Rand gedrängt, aber da.

Gegenüber solcher Leistung desGlaubens gilt keine billige Kritik aufgeklärt westlerischen Christentums. Es gilt nur die brüderliche Frage: wie kann das Christentum dieses Landes vom Rand wieder ins Zentrum rücken?

Ein orthodoxer Gottesdienst ist ein tiefes Erlebnis. Wer, wie man’s im Westen gerne tut, Christentum und Kunstsinn auf eher problematische Weise verknüpft, kommt zusätzlich auf seine Rechnung: Ikonen, Gold, Kerzen, Öllampen, Weihrauch, schwindelnd schöner Gesang, malerisches Volk, die Stirn gegen den Boden schlagend.

Was fängt damit ein junger Mensch an, z.B. ein junger Katholik aus dem Westen, z.B. ein sowjetischer Komsomolze? Das Volk auf dem Boden, getrennt durch die Ikonenwand von den Priestern und ihrem Verkehr mit Gott; ein Wachsfaden kostet 20 Kopeken (6 Schilling); Votivzetteln, die mit Bitten beschrieben und massenhaft an heiligen Stätten deponiert werden, wird nicht selten ein ganzer Rubel (30 Schilling) beigelegt.

„Auch bei uns wird es ein Aggiornamento geben“, versichert der Rektor der Leningrader geistlichen Akademie, Bischof Mihail Mudjugin. Er ist 38 Jahre, war bis 1958 Ingenieur und wurde zunächst auf dem Weg über einen Fernkurs Priester; seine Dissertation schrieb er über den katholischen Kirchenbegriff vor dem II. Vatikanum; heute ist er Professor für ökumenische Theologie.

„Tradition ist in unserem Volk eine sehr ehrwürdige Sache“, sagt Bischof Mihail, „aber nur wenn Tradition mit geistigem Leben verbunden bleibt, ist sie anzuerkennen. Es ist sehr traurig, daß es soviel Tradition ohne geistiges Leben gibt. Man hat bei uns zuviel Angst vor einer Spaltung. Man ist nicht genug mutig, auch im Verhältnis zur Wissenschaft. Wir meinen heute, daß Wissenschaft und Glauben sich gut miteinander vertragen; nicht wir, die Atheisten haben da verschiedene Glaubensschwierigkeiten.“

Der Mann spricht nicht nur sehr gut deutsch, sondern überhaupt unsere Sprache — finden insbesondere die Jungen in der Studiengruppe. Spontan bittet einer von ihnen um den Segen für die ganze Gruppe.

Bischof Mihail betet mit den österreichischen Katholiken das Vaterunser auf lateinisch, fügt die protestantische Schlußformel hinzu, und spricht auf deutsch den Abrahamssegen.

An der Türe wiederholt er: „Auch bei uns muß es ein Aggiornamento geben.“

Die Studiengruppe österreichischer Katholiken glaubt, daß er recht hat.

[*Vgl. Neues FORVM, März 1966.

[**Für diese Annahme reicht auch schon, bei gleichbleibender Seminar- und Seminaristenzahl, eine rohe Sterblichkeitsziffer des überalterten Klerus von 25 Promille.

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