ZOOM 6/1997
Oktober
1997
Die Bewegung der Landlosen

„Movimento Sem Terra“

Agrarer Widerstand im größten Staat Lateinamerikas

Seit über drei Jahrzehnten leistet der Movimento sem terra Widerstand gegen die brasilianische Regierung. Wer auch immer regierte, Agrarreformen blieben aus. Mittlerweile findet der MST vor allem im ländlichen Bereich breite Unterstützung. Erst bei den nächsten Wahlen 1998 wird sich zeigen, ob sich die Opposition durchsetzen wird.

Am 17. April 1997 fand eine bis zu diesem Zeitpunkt einmalige Kundgebung politischen Widerstands gegen die vom brasilianischen Präsidenten F. H. Cardoso versprochene Politik statt. Hunderttausend landlose Bauern drückten ihren Protest gegen das Ausbleiben der versprochenen Agrarreform aus, indem sie Demonstrationsmärsche von den entlegensten Orten in die vom brasilianischen Volk ungeliebte Hauptstadt Brasilia unternahmen. Die DemonstrantInnen, die oft mehr als tausend Kilometer zu Fuß die Strapazen auf sich nahmen, um die hohe Politik auf ihre ausweglose Situation aufmerksam zu machen, hinterließen ein für Lateinamerika eindrucksvolles Echo politischen, sozialen und ökonomischen Widerstands.

Endlich, Land für alle!

Die Bewegung MST (Movimento sem terra) gilt heute als erfolgreichste Plattform des Widerstands gegen die Politik aus Brasilia. Sie entstand 1964, als Sammelbewegung im Süden Brasiliens (Rio Grande do Sul, Parana e Santa Catarina) gegen die Agrarpolitik der Militärregierung. Das Kleinbauerntum jener Region wehrte sich gegen die Landenteignung, indem es versuchte, das brachliegende Ackerland zu besetzen und unter größten Schwierigkeiten – gegen brutale Militär- und Polizeieinsätze – zu bewirtschaften. Im Norden Brasiliens, vor allem in den Bundesstaaten Mato Grosso, Pará (Carajas), Tocantins, in denen die Latifundienwirtschaft wucherte, fand die Bewegung aus dem Süden starken Rückhalt und entwickelte sich über Jahrzehnte zur wichtigsten Opposition nichtstaatlicher Tradition. Während der Militärregierung waren die politischen Artikulationsmöglichkeiten jedoch massiv eingeschränkt und so fristete der MST ein Dasein im Untergrund.

Im Gegensatz zum enteigneten Bauerntum des Südens entwickelte sich der verarmte Norden Brasiliens mit Hilfe der LandarbeiterInnen, aber auch mit migrierten Bauern aus dem Süden, mehr als 30 Jahre nach dem Beginn des agrarischen Widerstands zu einer echten Gefahr für die Oligarchie Brasiliens. Der „êxodo rural“ der südlichen Bauern veränderte nachhaltig die agrarischen Strukturen im Norden, während im Süden die Regierung ihr Programm schließlich durchsetzen konnte. Der MST erzielte eindrucksvolle Erfolge, blieb aber mit seinen Aktionen stets in der Illegalität. So waren die „Agrarrebellen“ den andauernden Repressionen der Latifundiarios „Coronéis“ ausgesetzt. Diese wiederum beriefen sich auf das geltende brasilianische Rechtssystem. Von dem Ende der Militärregierungen 1985 versprach sich der MST in erster Linie endlich die Umsetzung der versprochenen Agrarreform (reforma agraria) von 1976.

MST und „Demokratie“

Die ersten zivilen Regierungen von 1985–94 unter José Sarney, F. Collor de Melo und Itamar Franco standen weiterhin unter Druck der einflußreichen Coronéis und so änderte sich nichts an der Agrarpolitik aus Brasilia. Mit dem Antritt der Regierung F. H. Cardosos im Jänner 1994 wurde von seiten des neuen brasilianischen Präsidenten ein Reihe hoffnungsvoller Versprechungen für die landlosen Bauern gemacht. Die von der Regierung eingesetzte Institution INCRA (Insituto nacional de colonização e reforma agrária), die zur Umsetzung der Agrarreform gegründet wurde, blockiert jedoch die vom Staat verordneten Reformen. Cardosos „pädagogisches Institut“ sollte sich um die Ausbildung und die Familienbetreuung der Landlosen kümmern.

Mit Hilfe dieser Institution schob der sozialdemokratische Präsident Cardoso die Schwierigkeiten an einen bürokratischen Koloß ab, der fernab der brasilianischen Realität Modelle ausarbeitete. F. H. Cardosos PSDB (Partido Social Democráta Brasileiro) hatte sich bei den Wahlen 1993/94 gegen den Kandidaten des PT (Partido dos Trabalhadores, Sozialisten) Luiz Inacio „Lula“ da Silva durchgesetzt, indem er Wahlversprechungen in großem Umfang tätigte. Vor allem große Teile der Linken entschieden sich am Ende des heftig geführten Wahlkampfes doch für F. H. Cardoso, die ehemalige Ikone der Linksintellektuellen der 60er und 70er Jahre in Lateinamerika.

Schon bald erkannte der MST den neuerlichen Betrug und entlarvte die Versprechungen F. H. Cardosos als leere Hülsen, „ausgeführt“ von der mehr oder weniger Scheininstitution der INCRA. Der Präsident schlug einen starken neoliberalen Kurs ein und stellte alle Probleme des Landes hinter sein Jahrhundertprojekt, den Ausbau des MERCOSUR (süd- und mittelamerikanische Wirtschaftsunion), zurück.

Eine nationale Oppositionsbewegung

Der Movimento sem terra wehrte sich gegen die ignorante Haltung des ehemaligen Hoffnungsträgers F. H. Cardosos und ging Kooperationen mit der Dachorganisation der brasilianischen Gewerkschaften CUT (Central Única dos Trabalhadores) ein. Die PT-nahen Gewerkschaften und politischen Organisationen stellten dem MST Know-how zur Verfügung und so entwickelte sich der MST unter ihrem derzeitigen Vorsitzenden José Rainha Júnior in den letzten Jahren zur größten Volksbewegung mit politischer Einflußnahme in ganz Brasilien. Im Gegenzug profitiert der PT von der Popularität des MST, die bereits mehr Mitglieder als der PT haben soll. In anbetracht der heranrückenden Präsidentschaftswahlen 1998 stieg Lula in der Wählergunst gegenüber F. H. Cardoso. In erster Linie punktet Lula zur Zeit in den ländlichen Gebieten. Währenddessen versuchen die politischen GegnerInnen einen Keil zwischen PT und MST zu treiben, indem sie über die mächtigen Medienkanäle des Landes die Flügelkämpfe innerhalb des PT forcieren.

Weitere Unterstützung erhielt die Bewegung der Landlosen von der katholischen Kirche, einem wichtigen Großgrundbesitzer, der im Frühjahr 1997 erste Schritte setzte und ca. 60.000 ha Ackerland abgab. Diese Maßnahme war überraschend, hält man die Kirche doch allgemein für einen unbeweglichen Felsblock, deren oberstes Ziel die Beibehaltung ihrer Pfründe ist. Die Regierung gerät nun zunehmend unter Zugzwang.

Seit März 1997 nehmen überall im Land die Demonstrationen des MST, in Kooperation mit der CUT zu. Sogar in Brasiliens größter Metropole São Paulo kam es zu großen Protestmärschen gegen die Agrarpolitik der Regierung. Die DemonstrantInnen marschierten mit ihren Arbeitsgeräten und wurden so für viele BrasilianerInnen zum Symbol des Widerstands gegen die neoliberale Politik. Ihren traurigen Höhepunkt fanden die friedlichen Protestmärsche am 17. April 1997 im sogenannten „Massacre dos Carajás“. Bei Zusammenstößen mit der Militärpolizei Polícia Militar (PM) mußten 50 Menschen ihr Leben lassen. 100.000 DemonstrantInnen erreichten schließlich nach tausenden Kilometern die künstliche Hauptstadt Brasilia und versammelten sich vor dem Parlament. Sie forderten den Präsidenten lautstark, aber stets friedlich zu Gesprächen auf. In Folge wurden Verhandlungen mit Latifundienminister Raul Jungmann aufgenommen, aber aufgrund seiner Hinhaltetaktik brach MST-Vorsitzender José Rainha Júnior die Gespräche wieder ab.

Die März- und April-Aktionen des MST rüttelten die oppositionellen Kräfte Brasiliens wach und aus den verschiedensten Regionen des Landes hagelte es Unterstützungserklärungen für den politischen Kurs des MST.

Polícia Militar in Recife

Die jüngste Entwicklung in Brasilien

Anläßlich des brasilianischen Feiertags der LandarbeiterInnen am 25. Juli 1997 gab es mehrere Massendemonstrationen in 20 verschiedenen Bundesländern. Die Aktionen mit dem klingenden Namen „Abra o olho, Brasil“ (Mach die Augen auf, Brasilien) fanden unter der Koordination und Organisation von MST und CUT statt. Die wichtigsten Protestaktionen wurden in Rio de Janeiro und São Paulo abgehalten, wobei in Brasiliens bevölkerungsreichster Stadt ca. 10.000 DemonstrantInnen über den wichtigsten Boulevard, die Avenida Paulista mit den Kozernhauptquartieren, zogen. Die Demonstrationen in São Paulo endeten mit dem „Willen zum Generalstreik“, der in der zweiten Hälfte des Jahres 1997 abgehalten werden soll.

In Rio versprach sich der Chefkoordinator des MST José Ribamar Alves unter dem Eindruck der Gewaltszenarien aus Recife – dort streikt die PM seit Tagen für besseren Lohn, und Schwerkriminelle tyrannisieren die Stadt –, von einem Abkommen mit der Militärpolizei einen friedlichen Ablauf der Demonstrationen. Während es in Rio ruhig blieb, griffen Einheiten der PM im Süden Brasiliens die dortigen MST-Demonstrationen an. Ribamar Alves bedauerte sein Übereinkommen mit der PM noch am selben Tag.

Verfestigt sich die Bindung zwischen PT und MST, so kann man hinter die Wiederwahl Cardosos ein großes Fragezeichen setzen. Man muß nun abwarten, welche Argumente der brasilianische Präsident zu bieten hat, um vielleicht noch einmal den Spieß umzudrehen.

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