ZOOM 5/1998
November
1998

NATO oder Neutralität oder ...?

Eine Replik

Franz Schandls Kritik am Buch „NATO-Streit in Österreich“ („Neutralität oder NATO oder ...?“ in ZOOM 4/98) ist grundlegend. Sie zeigt blinde Flecken an, kritisiert manche Position und mißversteht auch die eine oder andere. Sie bleibt aber immer konstruktiv. Insofern ist eine Antwort wohl mehr als gefragt. Vor allem die theoretischen Einwände sind interessant.

Es stimmt, daß wir die linken Neutralitätsgegner weitgehend übergangen haben. Dazu sei am Ende dieses Beitrages etwas nachgetragen. Tatsächlich haben wir die bellizistischen Sündenfälle der Grünen in Zusammenhang mit der Anerkennungseuphorie ehemaliger Teilrepubliken Jugoslawiens und die Position der KPÖ zur Neutralität ausgelassen. Über die Bedeutung der beiden Phänomene für unsere Themenstellung läßt sich wahrscheinlich streiten.

Clausewitz’ Faszination

Schandls zentraler Kritikpunkt ist, wir würden die „Identität von Politik und Krieg“, wie sie uns schon Clausewitz vorgeschrieben hat, nicht „begreifen wollen“. In der Tat: Eine solche Identität besteht in unseren Augen tatsächlich nicht. Selbst Clausewitz meint am Ende seiner Analyse „Vom Kriege“ (die im Grunde noch die „Theorie der Kriegskunst“ diskutiert – ein inzwischen weitgehend überholtes Unterfangen): „Diese Einheit nun ist der Begriff, daß der Krieg nur ein Teil des politischen Verkehrs sei, also durchaus nichts Selbständiges“ (Clausewitz, C., Vom Kriege (1832); Fkft/Main 1980, S. 674.) Von Identität (= Einheit) des Krieges mit der Politik kann bei dieser Schlußfolgerung also keine Rede sein. Denn Clausewitz streicht hervor, daß das Verhältnis von Krieg und Politik sich gegenseitig bedingt. Clausewitz weiß von der Feldherrnfunktion der Fürsten, die ja wohl zur Gattung der ersten politischen Herrscher, aber auch zu den ersten Kriegsherrn gehörten. Clausewitz weiß, daß die Bildung von Staaten und die Verfahren der Politik – insbesondere der Herrschaftspolitik – vom Krieg geprägt waren.

Nicht Clausewitz war es, der mit dem Satz, daß der „Krieg eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ sei, eine monokausale Beziehung konstruieren wollte: hier Politik, dort Krieg, ein Instrument der Politik. Lenin kam in seinen Clausewitz-Studien dem schon näher, was heute ständig als Primat der Politik über den Krieg und das Militär bemüht wird. Dieser Primat steht jedoch in vielen Nationen ständig am Prüfstand. Möglicherweise wird er auch in den entwickelten Demokratien, unter den Bedingungen von Wirtschaftskrisen und gesellschaftlichen Zerfallsprozessen noch einmal von der Banalität und der Propagandahülse zur wichtigen Kategorie in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung werden. D.h., Krieg, Militär und Politik stehten in einem Wechselverhältnis zueinander, das sich in der je spezifischen Situation, in der sich ein Staat und eine Gesellschaft befindet, konstituiert.

Gegenwärtig dient der politische Primat in Österreich nur der Verschleierung der Machtverhältnisse in der Sicherheitspolitik. Selbverständlich verlangen Militärs, Militärbündnisse, Rüstungsproduzenten auch bereits hier und heute ihren Tribut. Und in ihrem ureigensten Bereich der Strategie (= Kriegführung), der Beschaffung (= Aufrüstung), der Rüstungsforschung und -entwicklung (= Aufrüstung bis zur absoluten Dominanz) hat die Politik ihre bestimmende Rolle entsprechend der These von ihrem Primat nie erfüllt.

Clausewitz sieht es nicht als Krisensymptom, wenn sich die Politik dem Kriegsgesetz unterordnet; umgekehrt jedoch erachtet er es als Entfernung vom „reinen Krieg“, verpolitisiert sich dieser: „Je schwächer aber Motive und Spannungen sind (...), umso mehr scheint der Krieg politisch zu werden.“ (ebd. S. 35) Der reine Krieg wird für den Theoretiker Clausewitz zum Faszinosum. Davor sind auch andere Theoretiker nicht unbedingt gefeit.

Aber was ist der Sinn dieser übertriebenen Bewertung des Primates der Politik über den Krieg bei Schandls Kritik. Letztlich verschwindet auf diese Weise in der Allgemeinheit der Begriffe die Realität. Letztlich werden die spezifischen Wirkungsweisen des sicherheitspolitischen Teilsystems in der allgemeineren Systemkritik Schandls zum Verschwinden gebracht. Letztendlich „synthetisiert“ Schandl mit dem Primat der Politik die spezielle, hervorstechende Destruktivität von Militär- und Rüstungssystemen weg. Der Kapitalismus selbst sei das System, das den Untergang herbeiführt, alle Gewalt und Zerstörung hervorbringt. Die Politik, insbesondere die bürgerliche Demokratie, ist bloß der Makler, der den Krieg je nach Interessenlage als Werkzeug einsetzt. Diese Theorie mag angesichts der gegenwärtigen Entwicklung wieder an Erklärungswert gewinnen. Warum gleichzeitig 100 Jahre Differenzierung in der Geistes- und Kulturgeschichte – der Analyse von Krieg und Friede – über Bord geworfen werden, erscheint mir nicht nachvollziehbar.

Funktionsverlust

Zum Funktionsverlust des Militärischen, den die Kritik Schandls so nicht sieht, sei (aufgrund zahlreicher Beiträge in vergangenen Nummern, besonders ZOOM 4–5/97) hier nur noch einmal kurz eingegangen. Es handelt sich um einen analytischen Begriff, der eine gegenwärtige Krise der Rüstungsindustrie beschreibt und auch eine Krise der Strategien der Militärapparate. Konkreter: Die Rüstungsindustrie hat weltweit (außer in der USA) Umsatzeinbrüche um bis zu 90 Prozent. Auch in absoluten Zahlen ist der Umsatz in den letzten fünf Jahren weltweit um mehr als ein Drittel gefallen. Die Armeen der westlichen Industrienationen haben zehn schreckliche Jahre hinter sich. Egal ob die NATO-Mitgliedsarmeen, das österreichische Bundesheer oder die Schweizer Eidgenossen: die Verteidigungslogik hatte keine mehr. Militärische Landesverteidigung verlor jegliche Glaubwürdigkeit. Die Legitimation ist weggebrochen, weil die großen Anlässe, für die gerüstet wurde, verloren gingen. Daß Rüstung stabilisierende Wirkung hätte, gilt seit dem Wegfall des Ost-Westkonfliktes als endgültig überholte These.

Was Schandl jedoch unbedingt eingeräumt werden muß, ist, daß mit dem allgemeinen Konstatieren einer Krise des Militärischen unter Umständen abgelenkt wird von der Globalisierung der Strategie und von Interventionsszenarien, die als neue Legitimationsbasis entdeckt wurden. Im Buch haben wir jedoch genau das herauszuarbeiten versucht, daß derartige aggressive Strategien die neuen Aufgaben für die weggefallenen darstellen.

Es besteht nur ein wesentlicher Unterschied zur wirtschaftlichen Aneignung der Welt durch Konzerne. Militärs können sich nicht unter der Tarnkappe des Weltmarktes auf Territorien einschleichen. Hier spielt die Friedens- und die Hilfsrhetorik eine viel gewichtigere Rolle. Aber letztlich bleibt ein Militäreinsatz „out of area“ immer eine Intervention. Eine nicht wirklich neue strategische Funktion. Bei Clausewitz findet sie sich unter dem Kapitel Angriff. Die ursprüngliche Funktion der Armee, die Verteidigung (von Herrschaft oder Territorium), steht dadurch jedoch nichtsdestoweniger in Frage.

Kant ein Antirassist?

Etwas eigenartig mutet des Rezensenten Ausritt gegen Kant und Galtung in diesem Zusammenhang an. Freilich ehrt es, einen Text verfaßt zu haben, der den Kritiker anregt, derart große Geister zu beschwören. Allerdings ist sein Angriff auf Kant einfach verfehlt, wenn er Kant als Anwalt der Abschottung, der Ausländerfeindlichkeit, vielleicht sogar des Nationalismus zeiht. Das Zitieren einer Überschrift als Beleg für Kants Haltung reicht dafür nicht. Es bedarf einer Ergänzung aus dem Text selbst: „Es ist hier wie in den vorigen Artikeln nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. (...) So ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.“ (Kant, I. „Zum ewigen Frieden“ 1781, Stuttgart 1984, S. 21/24)

Kant kann also mit Fug und Recht als sehr früher Internationalist angesehen werden und darüber hinaus als ein Theoretiker, der die Friedensfrage mit der Frage eines Weltbürgerrechtes in direkten begründeten Zusammenhang zu setzen verstanden hat. Sein Vorschlag eines Gastrechtes eines jeden „Fremdlings“ als Teil eines Weltbürgerrechtes geht auch weit über das hinaus, was heute die Menschenrechtskonventionen verlangen. In diesem Sinn ist Kants Schrift auch heute, 200 Jahre nach ihrem Entstehen, aktuell und radikal. Mit Nationalismus oder Ausländerfeindlichkeit wurde Kant, meiner Kenntnis nach, erstmals von Franz Schandl in Zusammenhang gebracht.

Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt in der Rezension bezieht sich – neuerlich an Kant aufgehängt – auf die Subjekte und Elemente, die Frieden zu schaffen haben. Daß Staaten, wie Kant es vorschlägt, als Elemente für die Schaffung einer Friedensordnung in der Welt vorgefunden werden, hat sich auch bis heute noch nicht geändert. Da nützt auch die beschwörende Formel Schandls, daß der „Nationalstaat Unsinn“ darstelle, wenig. Es geht dabei nicht um bornierte Standpunkte nationaler oder regionaler Kleinhäuslerei, sondern schlicht um die Kenntnisnahme dessen, wer heute nach wie vor Sicherheits- wie auch Friedenspolitik gestaltet. Sicherheitspolitik ist geradezu ein Residuum staatlicher und politischer Führungen. Es ist eben nicht die EU oder die NATO, die die Soldaten heute in die Welt schicken. Sondern es sind nach wie vor die politischen Führungen der USA, Großbritanniens, Deutschlands, Frankreichs und mancher Kleinerer, die derartige Einsätze beschließen, beschicken und beenden. Internationale Organisationen geben dafür bestenfalls eine Legitimationsfassade ab. Es geht also um die analytische Konstante, wer die Sicherheitspolitik heute gestaltet. Und das sind nach wie vor nicht in erster Linie IWF und Weltbank, das sind nicht General Electric oder Siemens, sondern es sind die politischen Führungen – beraten von den Militärexperten – der mächtigsten Nationen, die das Schicksal der Völker nur zu oft entscheiden.

Da sich jegliche politische Gestaltungskraft in bezug auf Wirtschaft und Sozialpolitik rückgebildet hat, wird das Militär zu einem immer wichtigeren Faktor der politischen Machtausübung.

Die USA besitzen die mächtigste Armee. Und es ist kein Zufall, daß das State Departement und das Pentagon ihren Einfluß auf allen afrikanischen Kriegsschauplätzen ebenso zur Geltung bringen wie in Bosnien-Heregowina oder in Nordirland. Da ist nicht einmal der Funken eines Ansatzes zum Aufbau einer EU-Gegenmacht. Es fehlen auch die Interessenträger dafür. Großbritannien und Dänemark sind atlantisch. Auch die deutsch-amerikanische Freundschaft funktioniert ausgezeichnet. Die einzigen europäischen Konkurrenten der USA finden sich in Paris. Das führt jedoch lediglich zu weiterem Neutralisierungspotential innerhalb der EU. Die EU wird schon beim GASP-Projekt ihren Lehrmeister in Deutschland finden, oder es wird dieses nicht geben.

Der Kleinstaat hat die Möglichkeit des Opting Out. Beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der internationalen Beziehungen sollte diese in vollem Maße genutzt werden, will man sich nicht als Blinddarm großer Hegemonialmächte zum dummen August der Weltpolitik machen lassen.

Der linke NATO-Flügel

Die Rationalität dieser linken Befürworter eines österreichischen NATO-Betrittes nährt sich aus zwei unterschiedlichen Motiven. Einem antinazistischem, das in der NATO eine internationale Organisation zur Kontrolle über ein germanisch dominiertes Europa sieht. Und einem populistischen, das anerkannt hat, daß es in der Bevölkerung eine – noch minoritäre – Stimmung gibt, sich am stärksten Bündnis anzulehnen. Für die erste Position steht idealtypisch Rudolf Burger, die zweite Position vertritt in ihrer reinsten Form Josef Cap. Unter dem linken NATO-Bogen von Cap bis Burger versammeln sich die Journalisten Hofmann-Ostenhoff und Misik, denen beinah’ jedes Argument für die NATO in Österreich recht ist, sowie die anderen sozialdemokratischen Platzhalter für den Pro-NATO-Meinungsschwenk der SPÖ.

Cap vertritt darüber hinaus die abstruse Position, daß sich ein NATO-Beitritt mit einer Reduktion des Bundesheeres auf 5000 Berufssöldner verbinden ließe. Innenpolitisch ist diese Junktimierung vielleicht sogar vorstellbar, gegenüber der NATO erscheint sie völlig unrealistisch.

Daß die NATO eine Versicherung gegen faschistoide Tendenzen sei, muß am türkischen Beispiel geprüft werden. Bisher hat sie nichts zur Demokratisierung und Normalisierung in der Türkei beigetragen. Aber ebenso unrealistisch erscheint die Analyse einer Zähmung des deutschen Riesen. Vielmehr haben sich bisherige deutsche Regierungen in der NATO als Musterschüler der USA verhalten (Doppelbeschluß bis Beteiligung am NATO-Einsatz in Bosnien). Die strategischen US-Interessen in der NATO wurden von der Bundesrepublik in keinem Fall behindert.

Die linken Atlantiker sind tatsächlich die gefährlichsten Gegner der Neutralität. Darin hat Schandl völlig recht. Die politische Auseinandersetzung sollte daher gerade mit diesen Kreisen wesentlich schärfer geführt werden, als es im Falle des EU-Beitrittes geschehen ist. Die Akteure waren damals übrigens weitgehend dieselben. Ein weiterer Grund, sich in dieser Auseinandersetzung nicht zu verschweigen, wie wir es im „NATO-Streit“ noch getan haben.

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