Opfer der NS-Militärjustiz rehabilitiert
Nach der lang erwarteten Aufhebung des Urteils gegen Franz Jägerstätter durch das Landegericht Berlin erklärte am 3. Juni auch das Wiener Landesgericht das Todesurteil gegen einen Wehrdienstverweigerer der Deutschen Wehrmacht, den Kärntner Arbeiter Anton Uran, als „nicht erfolgt“. Für die späte Anerkennung derer, die sich dem Vernichtungskrieg der Wehrmacht durch Verweigerung oder Desertion entzogen, ist die erstaunlich souveräne Wiener Entscheidung von weitreichenderer Bedeutung als die Berliner.
Das Kriegerdenkmal in St. Martin am Techelsberg oberhalb des Wörthersees verzeichnet den 1920 geborenen Anton Uran als „vermißt“. Doch der Holzarbeiter und Zimmermann wurde 23jährig Anfang 1943 in Berlin-Brandenburg durch das Fallbeil hingerichtet. Dort, hinter einer Gedenktafel an der Hinrichtungsstätte, wurde mittlerweile auch die Urne mit seinen Überresten ausfindig gemacht. Diese soll nun überführt und Uran in seinem Heimatort begraben werden.
Mit 19 trat Uran aus der katholischen Kirche aus und konvertierte zu den Zeugen Jehovas. Der kurz darauf erfolgten Einberufung zur Deutschen Wehrmacht widersetzte er sich mit der Begründung, sein Glaube ermögliche ihm nicht, Wehrdienst zu leisten. Im Februar 1940 wurde er verhaftet, seiner Einheit überstellt und in ein Arbeitslager nahe der holländischen Grenze verschleppt. Uran aber blieb bei seiner Weigerung, in der Wehrmacht zu kämpfen. Am 22. Jänner 1943 verurteilte ihn das oberste Wehrmachtsgericht, das Reichskriegsgericht in Berlin, wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ nach § 5 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung zum Tode sowie zum „Verlust der Wehrwürdigkeit und der bürgerlichen Ehrenrechte“.
Auf Antrag von Antons Bruder Erasmus erklärte das Wiener Landesgericht unter Richter Peter Loibl am 3. Juni dieses Jahres das Urteil nach einem sehr kurzem Verfahren gemäß § 4 des Aufhebungs- und Einstellungsgesetzes als „nicht erfolgt“. Dieses Gesetz war im Juli 1945 auf Druck der Alliierten von der provisorischen Staatsregierung erlassen worden. Ähnliche Gesetze verordneten die Alliierten auch in den deutschen Besatzungszonen, wie beispielsweise in Berlin das Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts auf dem Gebiet des Strafrechts, auf das sich die Aufhebung des Urteils gegen Jägerstätter gründet. Die Zuständigkeit des Wiener Gerichts im Falle Urans war zuvor vom Justizministerium geklärt worden und gründete sich darauf, daß „aufgrund der Hinrichtung weder ein Wohnsitz noch ein Aufenthalt des Verurteilten besteht“. Man habe sich, so der Landesvorsitzende des ÖGB Kärnten Vinzenz Jobst, der sich drei Jahre lang um die Rehabilitation Urans bemüht hat, ganz bewußt an ein österreichisches Gericht gewandt, denn: „Die Republik soll sich aus so einer Geschichte nicht herausschleichen.“
Die Aufhebung erfolgte ohne Vorliegen des schriftlichen Urteils. Das Urteil gegen den ein halbes Jahr nach Uran hingerichteten Jägerstätter war vor einigen Jahren vom Historiker Norbert Haase im Archiv des Militärhistorischen Instituts Prag, wo die Akten des Reichskriegsgerichts lagern, gefunden worden. Die Urteile der Monate Jänner bis März 1943 sind aber nach wie vor verschollen.
Als Reaktion auf die Urteilsaufhebung kündigte der Pressesprecher des Landesgerichts Wien, Friedrich Forsthuber, an, die Aufhebung weiterer Urteile von Amts wegen zu prüfen. Das Aufhebungs- und Einstellungsgesetz sieht diese Möglichkeit explizit vor, die Justiz hat von ihr aber noch nie Gebrauch gemacht. Nationalratspräsident Fischer hält es „für durchaus denkmöglich“, auf diese „mutige und richtungsweisende“ Entscheidung eine pauschale Aufhebung aller NS-Unrechtsurteile folgen zu lassen: „Eine politische Diskussion darüber würde ich befürworten.“
Richtungsweisende Entscheidung
Warum reicht nun, wie eingangs behauptet, die Urteilsaufhebung im Falle Urans weiter als im Falle Jägerstätter?
1.
Beide waren religiöse Wehrdienstverweigerer. In ihrer persönlichen Motivation zur Verweigerung unterschieden sie sich nur wenig. „Denn ewiges Leben in Gottes Königreich ist wertvoller als ein Leben in der gegenwärtigen sündigen Welt“, schrieb Uran kurz vor seiner Hinrichtung in seinem letzten Brief. Und auch Jägerstätter sah sich, wie Detlef Garbe festhält, [1] „ähnlich wie die Zeugen Jehovas in die Situation des biblischen Endkampfes hineingestellt“. Trotzdem macht es in der öffentlichen Auseinandersetzung einen Unterschied, ob ein Angehöriger einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft oder ein „Sektenmitglied“ rehabilitiert wird.
Jägerstätter war zuallererst „guter“ Katholik, als solcher „durfte“ er auch den Wehrdienst verweigern, ein Verhalten, das umgekehrt wieder zum Beleg seiner moralischen Integrität wurde. Das Vorbild Jägerstätter – die „Ikone“, wie es in manchen Texten heißt – eignet sich daher auch als Tableau zur Schuldentlastung einer zum überwiegenden Teil mit dem Nationalsozialismus kollaborierenden Kirche. [2] Seine Seligsprechung scheint nur mehr eine Frage der Zeit. Bei den Zeugen Jehovas hingegen wird, wie die jüngste Debatte um ihre staatliche Anerkennung wieder vor Augen geführt hat, Wehrdienstverweigerung als Beleg ihrer generellen Ablehnung des Staates gewertet. Dabei wird natürlich wieder einiges durcheinander gebracht, was hier jedoch nicht weiter erörtert werden soll.
Die Aufhebung von und die Diskussion über NS-Unrechtsurteile darf sich aber, will sie den Motiven der Verurteilten und Hingerichteten gerecht werden, nicht an Sekundärmotiven orientieren.
2.
Während Jägerstätter als einer der ganz wenigen katholischen Verweigerer sich mit seinem Handeln in Widerspruch zur Amtskirche setzte, handelte Uran konform dem absoluten Gebot der Gewaltlosigkeit seiner Glaubensgemeinschaft. Neben der kleinen Gruppe der Sieben-Tage-Adventisten waren die Zeugen Jehovas die einzige Gruppe, die im Dritten Reich in ihrer Gesamtheit Kriegsdienstverweigerung propagierte und in ihrer großen Mehrheit auch praktizierte – wobei Kriegsdienstverweigerung hier die öffentlich erklärte Nichtbefolgung der Einberufung bei gleichzeitigem Verzicht meint, sich durch Flucht, Täuschung, Selbstverstümmelung oder ähnliches der Strafverfolgung zu entziehen. [3] Etwa 250 deutsche und österreichische „Bibelforscher“ wurden nach kriegsgerichtlichen Urteilen hingerichtet. [4] Kriegsdienstverweigerung in diesem engen Sinne verstanden war, im Gegensatz zu Desertion und anderen Formen der Gehorsamsverweigerung, während des Zweiten Weltkriegs ein marginales Phänomen, praktisch vollständig auf religiös Motivierte beschränkt und unter diesen wiederum zum überwiegenden Teil auf Zeugen Jehovas. [5] Die Verweigerer stellten zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für die nationalsozialistische Herrschaft dar. Dennoch wurden sie von der NS-Justiz so unerbittlich verfolgt wie keine zweite Gruppe: Nur jeder Dritte entkam einem Todesurteil, respektive dessen Vollstreckung. So wurde, schreibt Manfred Messerschmidt, zum Politikum, was keines war. Die Aufhebung des Urteils gegen Uran bedeutet daher nicht nur die Anerkennung einer einzelnen exzeptionellen Verweigerungshandlung, sondern, stellvertretend für die anderen verfolgten und hingerichteten Zeugen Jehovas, die Anerkennung der einzigen organisierten Form der Kriegsdienstverweigerung im Zweiten Weltkrieg.
3.
Urans Entscheidung zur Verweigerung gründete sich offenbar weniger als bei Jägerstätter auf eine Auseinandersetzung mit dem verbrecherischen Charakter des nationalsozialistischen Krieges als auf die grundsätzliche Ablehnung von Waffengewalt gegen Menschen (wobei sich wohl bei beiden keine strikte Trennung ziehen läßt). Es erscheint unsicher, daß das Berliner Landgericht auch das Urteil gegen Uran aufgehoben hätte. In seiner Entscheidung verweist es ausdrücklich auf die Bereitschaft Jägerstätters, als Sanitätssoldat zu dienen, und mißt diese am derzeit gültigen Grundrecht, „aus Gewissensgründen keinen Wehrdienst mit der Waffe zu leisten“. Es kommt zu dem Schluß: „Eine Wehrdienstverweigerung lag bereits tatbestandlich nicht vor.“ [6]
Das Wiener Landesgericht argumentiert wesentlich pauschaler. Es hält lediglich fest, daß keine „sonstigen strafrechtlichen Tatbestände“ vorlagen. Zudem sah es davon ab, das nicht mehr auffindbare schriftliche Urteil zu einer Bedingung für dessen Aufhebung zu machen. Das Wiener Erkenntnis läßt damit eine weitaus klarere Einsicht in die Tatsache erkennen, daß es sich bei der NS-Militärjustiz als solche um eine Unrechtsjustiz gehandelt hat, die – abgesehen von den von ihr verfolgten Taten – nicht einmal den minimalen Erfordernissen eines Rechtsstaates genügte (fehlende Verteidigungsrechte, kein Instanzenzug, mangelnde Gewaltentrennung). Schon deswegen können die von ihr verhängten Urteile kein Recht sein.
Gerade aufgrund des letzten Punktes scheint es aussichtsreich, auch in weiteren Fällen von Wehrdienstverweigerern, Deserteuren und anderen von der NS-Militärjustiz verhängten Unrechtsurteilen eine Rehabilitation zu erreichen – sei es durch Einzelanträge, durch eine Prüfung von Amts wegen oder durch eine pauschale Erklärung durch das Parlament. Es wird Zeit, daß sich auch die österreichische Öffentlichkeit dieser „größten und blutigsten juristischen Verfolgung der ganzen deutschen Geschichte“ (Wehrmachtsdeserteur Ludwig Baumann) stellt. Mit der Aufhebung des Urteils gegen Anton Uran hat die Justiz einen erfreulichen Anfanggemacht.
[1] Detlef Garbe: „Du sollst nicht töten“. Kriegsdienstverweigerer 1939–1945. In: Norbert Haase und Gerhart Paul (Hg.): Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 1995.
[2] Natürlich dürfen die zahlreichen Vorwürfe nicht außer acht gelassen werden, die gegen Jägerstätter noch immer vorgebracht werden, wie beispielsweise, er habe seine Familie im Stich gelassen (ein Vorwurf, der im übrigen eine Mitschuld Jägerstätters an seiner Hinrichtung impliziert). Generell sei darauf hingewiesen, daß das in der Öffentlichkeit – auch von der Friedensbewegung – vermittelte Deserteursbild „mit dem Bild, das uns die Quellen vermitteln, wenig gemein hat“. (Dieter Knippschild, „Für mich ist der Krieg aus“, in: Haase und Paul, Die anderen Soldaten (FN1), S. 124)
[3] vgl. Garbe, FN1.
[4] Wobei Tausende Zeugen dem sicheren Todesurteil durch die Wehrmachtsjustiz nur dadurch „entkamen“, daß sie bereits vor Kriegsbeginn in Konzentrationslager verschleppt worden waren.
[5] Angehörige der mitgliederstarken deutschen Friedensbewegung der 20er Jahre versuchten vielfach, sich durch Emigration, Unabkömmlichstellen, freiwillige Meldung zur Sanität etc. sowohl der Teilnahme an Kampfhandlungen als auch der strafrechtlichen Verfolgung zu entziehen.
[6] Eine Formulierung, die bereits in sich merkwürdig anmutet: Einen Tatbestand „Wehrdienstverweigerung“ gab es im Dritten Reich ebensowenig wie im heutigen deutschen oder österreichischen Recht.
Dank an Vinzenz Jobst für das Zurverfügungstellen von Unterlagen. Im Archiv der Kärntner Arbeiterbewegung erscheint diese Tage eine von Jobst herausgegebene Broschüre „Anton Uran: verfolgt – vergessen – hingerichtet“.
