Ordnungsmacht und Destabilisierung im Irak
Die Iraker sind nicht nur Opfer, sondern eigenständige Akteure.
Um die heutige Situation im Irak zu begreifen hilft ein Blick zurück ins Jahr 1914. Die englischen Truppen wollten nach dem Mesopotamischen Feldzug einen neuen Staat gründen. Es kam zu gravierenden Ordnungsproblemen. Der irakische Staat war seinem Wesen nach ein koloniales Projekt, das die britischen Interessen in der Region bewahren sollte. Die Gründung eines Staates und die Ausübung von politischer Macht erfordern organisiertes kollektives Handeln. Aber der Kolonialstaat Irak war weder militärisch noch finanziell in der Lage, seine heterogene Bevölkerung zu kontrollieren, geschweige denn sie zu einer Einheit zusammenzuschweißen. Das Verhältnis zwischen Kolonialstaat und „Mutterland“ war durch eine enge Verschränkung zwischen kolonialer Ausbeutung und Verwaltung bestimmt.
Heute steht der irakische Staat vor einer ähnlichen Problematik. Unter der Baath-Herrschaft erzeugten Repression und Unterdrückung einen Loyalitätszwang. Heute führen politische Instabilität, wirtschaftliche Depression und Identitätsängste zum gleichen Muster, ohne wirklich wieder eine integrierte traditionelle Gesellschaft herbeizuführen. Die neue Gruppenorientierung führt zu einer politischen Kultur, in der ethnische oder konfessionelle Organisationen für ihre eigenen Interessen kämpfen.
Während sich unter den Schiiten im Irak die Religion als materialisierter identitätsstiftender Faktor abzeichnet, ist die ethnische und kulturelle Grenze bei den Kurden zur nationalen Form ihrer Gemeinschaft geworden. Bei den Turkmenen und den Assyrern spielen beide Faktoren eine Rolle. Im künftigen Irak wird sich die schiitische Bevölkerungsmehrheit mit dem Status einer politischen Minderheit nicht zufrieden geben. Die arabischen Sunniten werden ihre bisherige politische Dominanz nicht behalten können, aber auf einige Schlüsselpositionen im Staatsapparat nicht verzichten wollen. Die Kurden werden auf ihrer ausgerufenen föderativen Forderung beharren. Zumal der vom kurdischen regionalen Parlament im Jahr 2002 beschlossene föderale Verfassungsentwurf für Kurdistan und Irak von der ehemaligen irakischen Opposition auf der Londoner und später auf der Salah ad-Din Konferenz 2003 bekräftigt wurde.
Eine politische Neuordnung des Irak nach föderalen und demokratischen Prinzipien wird heute von einigen nationalistischen und religiösen Kräften im Irak als Problem für die „irakische Identität“ betrachtet. Ohne diese fehle die Loyalität mit der staatlichen Herrschaft. Tatsächlich steht der neue Irak vor einem problematischen Prozess der Staatsbildung. So ist beispielsweise das künftige irakische Grundgesetz höchst umstritten, der Verfassungsausschuss aus 25 Juristen und Religionsgelehrten konnte sich bis heute nicht über ein Wahlverfahren einigen. Dieser Dissens veranlasste den Ausschuss, die Entscheidung dem von der amerikanischen Zivilverwaltung ernannten Rat zu übertragen.
Die formale Übernahme staatlich-administrativer Funktionen bietet der neuen irakischen Elite unmittelbaren Zugang zu den staatlichen Ressourcen. Die Entstehung unzähliger neuer politischer und religiös-politischer Gruppierungen in den letzten Monaten deutet an, dass noch heftige Auseinandersetzungen bevorstehen. Die Uneinigkeit dieser Gruppen ließ sich im Streit um die neue Staatsspitze, dem Regierungsrat, bereits erkennen.
Es ist ein Dilemma: Ohne eine „Ordnungsmacht“, die den Übergang zur Demokratie sichert, steht der Irak gesellschaftlich und politisch vor einem Destabilisierungsprozess. Schon während des Bürgerkriegs von 1991 befürchteten manche eine „Libanisierung“ des Irak. Denn das Misstrauen der unterschiedlichen fragmentierten Gruppen untereinander und gegenüber dem Staat hat eine lange Geschichte. Auf der anderen Seite bieten politische Instabilität, wirtschaftliche Not und Identitätsängste gerade die Voraussetzungen dafür, dass die pan-nationalistischen und islamistischen antiwestlichen und antiamerikanischen Kräfte die Lage radikalisieren und das Misstrauen gegen die Besatzer für sich nutzen. Bei allen Problemen ist es aber erforderlich, die Iraker nicht länger nur als Opfer zu betrachten, sondern als eigenständige Akteure, die unter den gegebenen Bedingungen ihr Handeln selbst bestimmen können.
Langfassungen der Kommentare von Aras Fatah und Sabah Alnasseri sind in der Nr. 273/2003 der Zeitschrift IZ3W erschienen. (www.1z3w.org)
