Heft 5/2001
September
2001

Pierre Bourdieu: Gegenfeuer 2

Im Mai 2001 ist Pierre Bourdieus Gegenfeuer 2 in deutschsprachiger Übersetzung erschienen. Der Band enthält insgesamt elf Beiträge, die der am Collège de France lehrende Soziologe zwischen Juni 1999 und Jänner 2001 publiziert oder referiert hat.

Bourdieu schließt in Gegenfeuer 2 nahtlos an die im 1998 veröffentlichten Aufsatzband Gegenfeuer entwickelte Kritik am neoliberalen Diskurs an und versucht auf politischer Ebene Gegenstrategien zu entwickeln. Der Untertitel „Für eine europäische soziale Bewegung“ ist identisch mit dem ersten Beitrag und lässt sich als politische Programmatik interpretieren.

Um eine emanzipatorische Politik zu verfolgen, bedarf es einiger Grundsätze, die jede Sozialbewegung zu berücksichtigen hat: „Schluss mit nationalen, um nicht zu sagen nationalistischen Partikularismen; [...] Schluss auch mit einem immer nur auf Harmonie ausgerichteten Denken [...]. Schluss mit dem ökonomischen Fatalismus [...].“ (20) Als Ziel bleibt für Bourdieu die „Schaffung eines vereinigten Europäischen Gewerkschaftsbundes“ (24), der ImmigrantInnen ebenso wie „die Arbeitslosenbewegung in vollem Umfang einbezieht“ (26), da nur eine transnational koordinierte und agierende Sozialbewegung imstande ist, transnational agierenden Unternehmen wirksam entgegenzutreten.

Im Artikel „Für eine engagierte Wissenschaft“ entwickelt der Soziologieprofessor seine Überlegungen für eine emanzipatorische politische Praxis weiter und reflektiert insbesondere die Rolle der Wissenschaften. Bourdieu schreibt den Intellektuellen, zu denen er KünstlerInnen, SchriftstellerInnen und WissenschaftlerInnen zählt, eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus zu. Die Aufgabe der Intellektuellen umfasst mehrere Bereiche. Zunächst geht es darum, „den herrschenden Diskurs einer logischen Kritik [zu] unterziehen, die in erster Linie beim Vokabular anzusetzen hätte (“Globalisierung„,“Flexibilität„usw.) und bei seinen einschlägigen Argumentationsmustern und wiederkehrenden Metaphern.“ (37) Dabei geht es darum, diskursanalytisch aufzuzeigen, warum Begriffe wie Flexibilität, Globalisierung oder Deregulierung keine absoluten Werte sind, sondern ganz im Gegenteil Verschleierungsstrategien von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen. Die zweite Aufgabe der Intellektuellen liegt darin, „den Leidtragenden der Auswirkungen neoliberaler Politik [...] vor Augen [zu] führen, dass ihre Erfahrungen, die vielleicht auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben, dass auch die nationalen oder internationalen Entwicklungen schließlich Wirkungen ein und derselben Ursache sind.“ (38) Das Aufzeigen von neoliberalen Auswirkungen auf individuelle Lebenszusammenhänge ermöglicht es den Betroffenen, aus ihrer Isolation auszubrechen und damit politisch und solidarisch handlungsfähig zu werden.

Bourdieu bleibt in seinen Beiträgen konkrete politische Strategien aber schuldig. Damit ist er nicht alleine. Die Ratlosigkeit darüber, wie der hegemonialen neoliberalen politischen Praxis wirkungsvoll entgegenzutreten wäre, ist für eine den sozialen und politischen Rechten des Individuums verpflichtete Widerstandsbewegung gegenwärtig charakteristisch, und auch Bourdieu gelingt es nicht, einen großen Schritt vorwärts zu machen.

Neben der Formulierung politischer Strategien gegen den Neoliberalismus beschäftigen sich weitere Aufsätze mit der Analyse der Konsequenzen neoliberaler Politik in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Einer der interessantesten Beiträge des Sammelbandes befasst sich mit den neoliberalen Auswirkungen auf den kulturschaffenden Sektor.

In „Kultur in Gefahr“ geht Bourdieu von einer historischen Analyse der Emanzipation des kulturellen Feldes aus. Der Soziologe ruft in Erinnerung, dass die Künste einige Jahrhunderte kämpfen mussten, um sich als autonomer gesellschaftlicher Bereich zu etablieren: „Die bildenden Künstler haben fast fünfhundert Jahre benötigt, um die sozialen Bedingungen zu erkämpfen, die einen Picasso möglicht gemacht haben. Sie mussten — das weiß man, wenn man die Verträge liest — sich auf wahre Kämpfe mit ihren Auftraggebern einlassen, um zu erreichen, dass ihr Werk nicht mehr nur wie ein simples Produkt behandelt wurde, dessen Wert nach der Größe der bemalten Fläche und dem Preis der verwendeten Farben bemessen wurde; sie mussten für das Recht kämpfen, ihre Arbeiten zu signieren, also darum, als deren Schöpfer zu gelten. Und sie mussten um das Recht kämpfen, die Farben, die sie verwenden wollten, selbst auszuwählen und sie so zu verwenden, wie sie selbst es wollten.“ (88f.)

Ähnliche Entwicklungen sind für die Bereiche der Schriftstellerei, der Musik und, im 20. Jahrhundert, der Filmproduktion charakteristisch. Auch hier bedurfte es politischer Anstrengungen, um einen einigermaßen autonomen Gesellschaftssektor zu erkämpfen. Diese geschichtlichen Bedingungen sind ins Gedächtnis zu rufen, um den neoliberalen Angriff auf das künstlerische Feld richtig einordnen zu können: „Doch das, was den künstlerischen Produktionssphären heute in allen modernen Industriegesellschaften widerfährt, ist etwas völlig Neues, etwas so nie Dagewesenes: dass nämlich die gegenüber den ökonomischen Zwängen hart erkämpfte Unabhängigkeit der Produktion und Verbreitung von Kultur durch das Eindringen der Marktlogik auf allen Ebenen der Herstellung und Zirkulation kultureller Güter in ihren Grundlagen bedroht ist.“ (83) Die neuen Kriterien, die durch die Marktlogik im kulturellen Feld Einzug halten, lauten Einschaltquoten, Verkaufszahlen, Bestsellerlisten, Hitparaden. Medialer und finanzieller Erfolg wird mit künstlerischer Qualität gleichgesetzt und umgekehrt behauptet, dass Qualität in der Kunst auch immer Erfolg haben wird. Nach Bourdieu entwickelt sich dabei eine „Zensur des Geldes“ (85) und eine Profitlogik, die den gesamten Globus als Absatzmarkt von Kunstprodukten im Visier hat. Um am Weltmarkt erfolgreich zu verkaufen, bedarf es aber ästhetischer Kriterien, die von möglichst vielen Menschen geteilt werden und somit über sozial und kulturell unterschiedlich geprägte Wahrnehmungs- und Erlebnisformen hinaus allgemein verständlich sind. „Die Kitschprodukte der kommerziellen“Globalisierung„, wie etwa die Filme eines am Massenpublikum orientierten Spezialeffekte-Kinos“ (91) erfüllen diese Rahmenbedingungen am Besten. Am Beispiel der Hollywood-Filmproduktion lassen sich die Konsequenzen gut veranschaulichen. Hollywood verfügt nicht nur über das meiste Kapital zur Filmproduktion, sondern mit seiner weltweiten Verbreitung wird auch die Ästhetik Hollywoods zum hegemonialen Maßstab.

Diesem kulturellen Imperialismus gilt es ebenfalls entgegenzutreten und „Sand ins Getriebe“ — so lautet ein weiterer Artikel des Sammelbandes — der am Profit orientierten Medienkonzerne in streuen.

Resümierend lässt sich sagen, dass in den elf Beiträge die neoliberale Politik und ihre Konsequenzen von verschiedenen Seiten beleuchtet werden, und Bourdieu Gegenstrategien zu entwickeln sucht. Allerdings schafft es der Autor leider nicht, eine abgerundete Analyse der neoliberalen Ideologie mit den durch die neoliberale Politik hervorgerufenen historischen und sozialen Veränderungen zu verbinden.
Vielleicht hängt das Fehlen einer umfassenden Analyse des Neoliberalismus auch damit zusammen, dass sich Bourdieu in seiner wissenschaftlichen Arbeit eigentlich anderen Forschungsschwerpunkten zugewandt hat. Der Soziologe hat sich für eine strategisch weitgehend orientierungslose politische Linke in den letzten Jahren zum Starintellektuellen entwickelt und scheut es nicht, zu allen möglichen Themen medial Stellung zu beziehen, ohne immer die entsprechende Fachkompetenz aufzuweisen. Seine Person ist somit zum Teil selbst Produkt einer Mediengesellschaft, die er eigentlich kritisiert.

Pierre Bourdieu: Gegenfeuer 2
Für eine europäische soziale Bewegung

Universitätsverlag Konstanz 2001, Br.,
132 Seiten, DM 15,80, öS 115,—

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