Streifzüge, Heft 2/2000
Juni
2000

Poststrukturalismus und Kritische Theorie

Über ein Buch der Jour-Fixe-Initiative Berlin

I

Darüber, was „Poststrukturalismus“ oder gar „Postmoderne“ ist, wird besonders gestritten. Fraglich erscheint, ob mit diesen Begriffen sich überhaupt eine bestimmbare Richtung des Denkens oder auch nur des Geschmacks bezeichnen läßt — im Gegensatz zu der Bezeichnung „Kritische Theorie“, für die sowohl ein innerer Zusammenhang der Gedanken als auch eine gewisse institutionelle Verbindung bestimmter Intellektueller spricht (so gegensätzlich Adorno, Horkheimer, Marcuse, Löwenthal, Benjamin, Sohn-Rethel etc. im einzelnen auch dachten, so lose und ephemer die Bindung ans Institut für Sozialforschung in manchen Fällen war). Aber vielleicht könnte gerade diese Krititische Theorie Licht darauf werfen, was jene als poststrukturalistisch apostrophierten Positionen über alle Differenzen hinweg verbindet — und eine Publikation wie die vorliegende mit dem Titel „Kritische Theorie und Poststrukturalismus“* wäre geeignet, darüber Auskunft zu geben.

Dem Vorwort und einigen Beiträgen geht es allerdings eher darum, die Nähe zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus herauszustreichen, um damit den eigenen Gegensatz zur sogenannten Wertkritik, die abschätzig als „Ableitungsmarxismus“ bezeichnet wird, zu artikulieren. Adornos „Logik des Zerfalls“ sei eine „Weise der Gesellschaftskritik, die mit postmodernen und poststrukturalistischen Motiven mehr gemein hat als mit dem eindimensionalen Ableitungsmarxismus. Es gibt auch nach Adorno keine philosophisch haltbare Erkenntnis der Totalität, es gibt nur deren immanente Kritik.“ Mit dem Totalitätsbegriff wird wirklich das Schibboleth erfaßt: ist es doch nach Marx und Adorno der Wert, der das falsche Ganze herstellt, die Unterwerfung des Einzelnen durchs Allgemeine. Im Zusammenhang damit von „immanenter Kritik“ zu sprechen, ist allerdings tautologisch. Kritik der Totalität kann immer nur immanent sein, was wäre sonst Totalität. „Der Poststrukturalismus lehnt die zentrale Kategorie und Perspektive der Kritischen Theorie, die gesellschaftliche Totalität, strikt ab. Eine Philosophie, die an der Totalität festhalte, sei selbst Teil der gesellschaftlichen Normalisierung, die ständig Totalisierung vollziehe.“ Totalität kritisieren, ohne sie zu erkennen, den Wert abschaffen, indem man so tut, als existierte er nicht — liegt darin das Programm des Poststrukturalismus?

Kritische Theorie jedenfalls setzt — schon dem Namen nach — Erkenntnis und Kritik in eins, und ist mit der positiven Dialektik des Marxismus, die beim späten Lukács ihre letzte Blüte erlebt hat, nicht durcheinanderzuwerfen. Während diese in ungebrochener Hegelscher Tradition aus der Bewegung des Kapitals ihre Geschichtsphilosophie des ewig Gültigen und ihren Begriff des unaufhaltsamen Fortschritts ableitet, prätendiert kritische Theorie in ihren konsequentesten Ausprägungen negative Dialektik: Weltgeist und Totalität, Wert und Verwertungsprozeß zu erkennen, um sie abzuschaffen und damit — aber nicht eher — sich selbst wieder zurückzunehmen. (In diesem Sinn hat auch Habermas’ Kommunikations-Ontologie natürlich nichts mehr mit kritischer Theorie zu tun.)

Poststrukturalismus erscheint demgegenüber kategorial fast als Vorgriff auf eine befreite Gesellschaft, eine ohne Totalität und Wert (hier bricht sich eine ‚linke Ethik‘ Bahn, und insofern ist der französische Ursprung gewiß kein Zufall). Darin vermutlich liegt auch die Faszination dieser Theorien für die Linke, die ihren staatlichen, ‚real-sozialistischen‘ oder befreiungsnationalistischen Bezugspunkt verloren hat, für subkulturelle Milieus und verschiedene Bewegungen außerhalb des gesellschaftlichen Mainstreams (Schwule, Lesben, Feminismus etc.). Kategorien, die einem befreiten Zustand entsprechen wollen („Verbindung eines Wiederzusammenfügens ohne Verbündeten, ohne Organisation, ohne Partei, ohne Nation, ohne Staat, ohne Eigentum“ fordert Derrida), werden unmittelbar auf den Status quo angewandt — und schon existiert die monotone Totalität dieses Zustands, das falsche Ganze („das Grau in Grau“, das die Philosophie malt), nicht mehr, löst sich auf in jene zahllosen Diskurse und erfindungsreichen Dispositive, aufgefächerten Differenzen und vielfältigen Codes, wie der poststrukturalistische Denker sie vor staunendem Publikum immer neu aus dem Doktorhut zu zaubern vermag.

Von Lacan, Deleuze und Guattari bis Derrida, Foucault und Butler ist allerdings die Abwesenheit eines Begriffs signifikant, wie ihn Marx für die „reale Abstraktion“, für das „automatische Subjekt“ des Kapitals geprägt — und Kritische Theorie zur Flaschenpost gemacht hat. (Das heißt natürlich nicht, es würde kein ‚poststrukturalistischer‘ Gebrauch von dem Wort Kapital gemacht. Geradezu paradox ist die Lage bei Althusser und Balibar, die ein ganzes Buch über das Marxsche Kapital geschrieben haben, in dem dessen Begriff nicht vorkommt — es sei denn als Hegel-Parodie.) Aber der Begriff wird keineswegs ersatzlos gestrichen — darauf verweist die Herkunft (post)strukturalistischer Kategorien aus der Zeichentheorie. In den Strukturen der Sprache wird vielmehr eine Art Ersatzsubjekt für das automatische Subjekt, eine Ersatztotalität für die negative Totalität des Werts (re)konstruiert — mit denen sich womöglich besser, fröhlicher oder ‚lockerer‘ leben läßt.

Dieser eigenartigen Auslagerung der Totalität ins Sprachtheoretische wäre vermutlich nachzugehen, um den Postrukturalismus auf den Begriff zu bringen — die Möglichkeiten der Selbstreflexion, die er provozieren kann, und die Gefahren der Ontologisierung, denen er das Denken aussetzt, zu erörtern. Das Vorwort des Sammelbands weicht einer solchen Orientierung jedoch aus und sucht eher den Kompromiß: es gebe zwar das Kapitalverhältnis, aber nicht dessen Totalität, denn es sei „nicht Gott, nicht König, sondern ein voraussetzungsreiches gesellschaftliches Verhältnis (...), dessen spezifische Form auf Voraussetzungen beruht, die es nicht selbst sind.“ Der Satz dementiert sich selber: vermag doch auch er, soweit er von „Voraussetzungen“ spricht, einzig vom Subjekt Kapital aus zu denken, ohne sich dessen allerdings bewußt zu werden.Von etwas zu sprechen, das keine Voraussetzung des Kapitals mehr wäre, setzt dessen Abschaffung als Möglichkeit voraus. Wer das nicht reflektiert und den Begriff der Totalität ablehnt, nimmt zwar in der Immanenz der Methode eine Gesellschaft vorweg, die diesen Gesichtspunkt nicht mehr kennt, reduziert aber zugleich im Resultat das Kapital auf irgendeine konkrete Ausbeutungsform, als wäre es eine persönliche Beziehung wie die von Herr und Knecht. Das Problem, das damit angesprochen, aber nicht begriffen ist, betrifft in Wahrheit das Verhältnis von Konkretem und Abstraktem. Und genau an dieser unreflektierten Stelle erfolgt immer wieder der Einbruch deutscher Wahnvorstellungen von Macht und Sein in die französische Philosophie des Poststrukturalismus.

II

Der in manchen Teilen der Linken — nicht den schlechtesten — geübte Adorno-Kult veranlaßt Michael T. Koltan, Adorno „gegen seine Liebhaber“ zu verteidigen. In diesem Zusammenhang wird der bereits im Vorwort erhobene Vorwurf, die Dialektik der Aufklärung enthalte eine Ontologie, exemplifiziert am Gegenstand von Opfer und Tausch. Für den Adornoschen Begriff des Tausches sei nicht die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie konstitutiv, sondern der Begriff des Opfers. Daß dieser Begriff jene Kritik nicht ausschließt, sondern vielmehr bedingen könnte, kommt Koltan gar nicht in den Sinn. Die Dialektik von Opfer und Tausch sei überhaupt ein zwar „interessantes, aber nicht allzuwichtiges Moment einer Theorie des Tausches“, wobei diese wiederum ohnehin überschätzt werde, da „demTausch überhaupt nicht die universale Bedeutung zukommt, die ihm Horkheimer und Adorno zuschreiben, weder im Guten noch im Schlechten.“

Auch bei Marx sei der Zusammenhang zwischen der Konstitution des bürgerlichen Subjekts und der Entfaltung des Warentausches selbst nur indirekt vorhanden, beide Phänomene seien „sozusagen parallele Entwicklungen.“ Indem die bei Adorno durch Tausch hergestellte Totalität in solche parallele Entwicklungen aufgelöst wird, kann jeder Entwicklungsprozeß für sich und „gemäß dessen eigener Logik“ analysiert werden, ohne etwa das Kapitalverhältnis zur Sprache zu bringen. In diesem Sinn, so das Fazit Koltans, sei „vor allem die Kulturindustriekritik der Kritischen Theorie weiterzudenken.“

Unter der Hand restauriert Koltan das alte Basis-Überbau-Schema, das sich offenbar besser als jenes real Abstrakte des Werts mit der Vielfalt „paralleler Entwicklungen“ verträgt. Wenn er Adorno und Horkheimer vorwirft, die Marxsche Kategorie der Produktivkräfte zu unterschlagen, so geht es ihm selbst um eine Neuformulierung der alten Phrase von der ökonomischen Basis, um wahren Ökonomismus. Es besteht offenbar ein Interesse, die Marxsche Kritik auf die „Ökonomie“ einzuschränken, um in den übrigen Bereichen der Gesellschaft, in der Kultur und in der Ideologie, nach anderen Logiken als der des Werts zu verfahren. Gerade die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie aber kann Begriff und Realität der Ökonomie als Fetischisierung sichtbar machen, eine Einschränkung ihrer Kategorien auf „die Ökonomie“ kommt darum der Selbstaufgabe von Kritik gleich.

Jochen Baumann sieht diese Selbstaufgabe jedoch umgekehrt durch die Wertkritik eingeleitet — und zieht etwa das Beispiel Stefan Breuers heran, der — ähnlich wie Jochen Hörisch — von der Kritik des automatischen Subjekts alsbald auf dessen Seite übergewechselt ist. Der Identifikation des Theoretikers mit dem Wert wird die Forderung Adornos entgegengehalten, daß der Totalität zu opponieren sei, „indem sie der Nichtidentität mit sich selbst überführt wird, die sie dem eigenen Begriff nach verleugnet.“

Ist darum aber das gesellschaftlich Reale der Totalität und selbst noch das Reale der Verleugnung des Nichtidentischen (aus dem Kulturindustrie zu begreifen wäre) abzustreiten? Das Nichtidentische ist die Krise realer Totalität, und das Selbstverständnis kritischer Theorie beruht darauf, diese Krise zur Sprache zu bringen. Wenn Baumann zurückweist, was er als Paradigma der Wertkritik formuliert, „daß alles objekt- und subjekthafte Ausdruck des Kapitalverhältnisses sei“, hat er recht und unrecht zugleich: es ist dessen Ausdruck, und kann auch nur in Anbetracht dessen gedacht werden; und es ist nicht dessen Ausdruck, soweit es in der Identität nicht aufgeht und als Krise zu begreifen wäre. Das heißt nun aber nicht, das Nichtidentische wäre das Positive, mit dem der Theoretiker sich statt mit dem Identischen zu identifizieren hätte.

Jochen Baumann aber folgert aus Adornos Satz, daß Identität überhaupt nur ein Problem des richtigen Denkens sei, nicht eines der gesellschaftlichen Realität von Staat, Arbeit und Kapital. Kritik scheint dem Autor offenbar nur möglich, wenn das automatische Subjekt als eine unter vielen Identitätslogiken, oder am besten, wenn es überhaupt nur als darstellungstechnisches Problem — entstanden „aus der notwendigen Abgrenzung Marx’ zu Hegel und Ricardo“ — begriffen würde. „Die Vermittlungen zwischen Ware, Kapital, Staat, Gesellschaft, Subjekt, Individuum müssen im Zentrum der Kritischen Theorie stehen, nicht das ‚Automatische Subjekt‘ als, wenn auch negativ gewendetes identisches Subjekt-Objekt der Geschichte (...).“ Baumann empfiehlt der Theorie, ihre kritischen Synthesen ganz unabhängig vom automatischen Subjekt zu machen (auf Synthesis soll sie aber im Unterschied zur „postmodernen Beliebigkeit“ nicht verzichten, um die „Differenzen“ zutage zu fördern). So wird alles zu einem Problem der Darstellung, zu einer Frage der „Repräsentation“ gemacht. Was bei Adorno noch die reale Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere ist, wird bei Baumann zur Frage der „Repräsentation des Besonderen im Allgemeinen“; was realer Gegenstand der Kritik ist, wird zum darstellerischen Problem der Theorie: für die Synthesis, die Baumann will, soll gelten, „daß die Repräsentation des Allgemeinen im Besonderen das Fragliche ist, genau das, was nicht apriori vorausgesetzt werden kann“; während für die Kritik, wie Baumann sie offenkundig nicht möchte, die Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere das Abzuschaffende ist, genau das, was a priori vorauszusetzen und darum zu beseitigen ist.

Eine solche unkritische Synthesis erlaubt es, die Kritische Theorie mit poststrukturalistischen Positionen wirklich konfliktlos parallel zu führen. Wenn Jochen Baumann etwa den Tauschbegriff Adornos mit dem von Baudrillard analogisiert — „derTausch ist bei Baudrillard der (Opfer-)Tod. Das bürgerliche Subjekt konstituiert sich bei Adorno durch Mimesis ans Tote, an vergegenständlichte Arbeit, an den Wert“ — dann hat der Gegensatz zwischen beiden, dann hat Auschwitz, in einer Fußnote Platz: hier wird zugestanden, daß Adorno „selbstverständlich vor Baudrillard, dem postmodernen Zyniker, den Vorzug“ habe, „weitaus kritischer mit Lebensphilosophie und Existenzialismus“ sich auseinanderzusetzen. Seine Philosophie ordne sich „dem Imperativ unter, die Integration des Todes in die Kultur und Philosophie zu widerrufen, zum alleinigen Zweck, daß sich Auschwitz und ähnliches nicht wiederhole.“ Was in der Fußnote steht, hätte das Thema des Bandes zu sein.

III

„Guattari und Deleuze vermeiden Reduktionismen“, meint Kalja Diefenbach, ohne sich die Frage zu stellen, ob die gesellschaftliche Realität das ebenso tut. So kehrt auch hier unwillkürlich das Basis-Überbau-Schema zurück: „Diese nicht-reduktive Sicht auf die Geschichte ist mit Foucaults Versuch verwandt, historisch von den untersten Ebenen der Analyse auszugehen“ — wie aber findet man zu den „untersten Zellen oder Ebenen der Gesellschaft“ (Foucault) und unter welchem Gesichtspunkt sind sie die unteren? Weil sie die oberen tragen? Ähnlich unreflektiert wie mit solchen topischen Metaphern wird mit dem Wahrheitsbegriff verfahren: „Wahrheit und richtige Aussagen zu produzieren, sind (...) eine moderne mythologische Konstruktion, mit der bestimmte Ausschlüsse im Denken vorgenommen werden.“ Wäre mit diesem Satz nun seinerseits eine Wahrheit produziert oder eine Mythologie konstruiert — die Aussage hebt sich in jedem Fall selber auf.

In den Augen von Elfriede Müller führt Deleuze wiederum die Negative Dialektik Adornos fort. Die These kann sich allerdings auf die Nietzsche-Rezeption der Kritischen Theorie stützen: „Deleuzes Subjektkonzeption geht auf Nietzsche zurück. Bei Nietzsche wird die Freiheit mit dem Willen zur Freiheit erkämpft. Er beansprucht, daß seine Philosophie des Willens die Metaphysik ersetze, sie zerstöre und überhole.“ Ehe er jedoch als Treibstoff der anti-ödipalen Wunschmaschinen von Deuleuze und Guattari Verwendung findet, wäre doch zu fragen, was diesen Willen, der die alten, metaphysischen Legitimationsideologien der Vergangenheit ersetzen und überholen soll, bei Nietzsche konstituiert.

Wer im Unterschied zu Elfriede Müller von einer negativen Anthropologie ausginge — einer Anthropologie, die sich von vornherein weigert, so etwas wie den Trieb zu substantialisieren —, könnte nämlich bei Deuleuze und Guattari eine seltsame Verwandlung beobachten: Das automatische Subjekt des Kapitals erhält einen Körper, wird Fleisch; sein unendlicher Akkumulationstrieb wird als unendliches Begehren, als „Wunschmaschine“ imaginiert. Während Freud die Libido noch im familialen Zusammenhang sah, und darum zwar nichts über die Libido, vieles aber über den familialen Zusammenhang erkennen konnte, wollen Deleuze und Guattari sie von solcher Einbindung freigesetzt wissen — und machen sie zu diesem Zweck zum Substrat: Im Anti-Ödipus wird das Unbewußte „elternlos“ gemacht, wie Müller richtig schreibt, es erzeugt sich hier „selbst in der Einheit von Natur und Mensch“; der Ödipuskomplex sei „grundsätzlich ein Unterdrückungsapparat der Wunschmaschinen“. Diese gelte es nach Deleuze, Guattari und Elfriede Müller zu befreien — aber sie sind in gewisser Hinsicht nichts als eine vitalistische Wahnvorstellung vom Kapital. Solche positive Identifikation kann auch den Staat nur ontologisieren: Der Staat, so Deuleuze und Guattari, könne weder reformiert noch destruiert werden: die einzige Möglichkeit sei die „Flucht“ — Kapitalflucht eben.

Deleuze und Guattari haben somit die Philosophie Nietzsches für die siebziger Jahre neu aufbereitet: konnte dessen „fröhlichen Wissenschaft“ die deutschen Spießer schrecken, soll ihr „nomadisierendes“ Denken den fordistisch-seßhaften Wohlstandsbürgern Angst einjagen; hat einst die „blonde Bestie“ der Formierung von Großkapital und imperialistischem Staat, die das alte Kleinstaaten-Deutschland hinwegfegte, einen mythischen Ausdruck gegeben, verschafft die antiödipale „Wunschmaschine“ dem kapitalen Zwang zum massenhaften Warenabsatz, der die kleinfamiliale Ordnung umpflügt, ein rebellisches Outfit. Hier liegt aber auch der Unterschied: Deuleuze und Guattari verschweigen nicht anders als Foucault die Pointe von Nietzsches Machtbegriff: die Idealisierung des Staats im „Übermenschen“. Nur darum kann er subversiv interpretiert werden. Sie argumentieren wie jemand, der für die „Globalisierung“ des Kapitals optiert, von den NATO-Eingreiftruppen aber nichts wissen will.

Für poststrukturalistische Ansätze ist jedoch symptomatisch, daß sie ohne Anleihen bei dem, was als deutsche Ontologie begriffen werden könnte, nicht auskommen. Ihre Umgehung des Wertbegriffs läuft darin stets auf eine Ontologisierung des Kapitalverhältnisses hinaus — und nur die linke „französische“ Ethik verhindert dann noch die offene Affirmation. Wird mit Nietzsches „Wille zur Macht“ das automatische Subjekt zur „Wunschmaschine“, tritt der Gegensatz zur Kritischen Theorie, die stets ein offenes Ohr für Nietzsches Kulturkritik hatte, nicht unmittelbar hervor; ist es jedoch Heideggers „Sein“, das den sich selbst verwertenden Wert mystifiziert, läßt sich sowohl die unmittelbare Nähe (Heideggerschüler Marcuse!), als auch der extreme Gegensatz (Adornos Heideggerkritik!) mit Händen greifen. Der „Hitler des Denkens“, wie Martin Buber Heidegger nannte, ist der neuralgische Punkt im Verhältnis von kritischer und poststrukturalistischer Theorie, an dem sich eben nicht zufällig immer wieder die Polemik gegen die Postmoderne entzündet. Gerade der poststrukturalistischen Heidegger-Rezeption aber weicht der vorliegende Band aus.

IV

In einem bemerkenswerten Beitrag von Andreas Benl über Guy Debord und die Situationistische Internationale wird jedoch vorgeführt, was Kritik, jenseits der puren Polemik, sein kann: ein Bewußtsein, daß sich der eigenen Voraussetzungen bewußt wird. So sieht er das Verdienst der S.I. darin, daß sie sich „in einer Zeit, in der sich der fordistische Kapitalismus in den westlichen Metropolen auf dem Höhepunkt seines ökonomischen Erfolgs befand“, nicht „mit der traditionslinken Kritik sozialen Elends begnügte, sondern ihre Kritik gegen den gesellschaftlichen Glücksbegriff richtete“. Was die Situationisten dabei der Kritischen Theorie in der Analyse der Funktionsweise der „spektakulären Nachkriegsgesellschaften“ voraus hatten, „nahmen sie jedoch Schritt für Schritt zurück, um den Fetisch des a priori gesetzten revolutionären Subjekts, des Proletariats, nicht zu gefährden.“

Auch in Kornelia Hafners Aufsatz wird nachgeholt, was den apologetischen Beiträgen zu Deleuze und Guattari mangelte. Sie antwortet mehr oder weniger direkt auf Katja Diefenbachs Bejahung des postrukturalistischen Erkenntnisverzichts, wenn sie gerade hier die Kritische Theorie als die weiterreichende verteidigt: diese halte den Widerspruch fest, „daß der Anspruch auf Wissenschaft und Wahrheit nicht aufgegeben werden kann und ebensowenig die Einsicht, daß alles Wissen gesellschaftlich vermittelt und deshalb Moment verkehrter Verhältnisse ist“. Davon ausgehend entwirft Hafner eine immanente Kritik Kritischer Theorie, die — wie jede echte Religionskritik — dem Kult um Adorno die Voraussetzungen zu entziehen sucht, statt sich bloß in bekennerhaft atheistischer Pose gegen ihn zu wenden. Sie trifft sich in mancher Hinsicht mit Moishe Postones Kritik in Time, labor and social domination, insofern auch sie die „Fixierung auf die Zirkulationssphäre“ moniert; die Kritik breche „schon bei der vermeintlichen Einsicht in die Charaktere des Warenfetischs“ ab und nehme „das Moment, hier die Ware, den Tausch,“ tendenziell fürs Ganze. Damit bleibe Adorno bei einem „unzureichenden Kapitalbegriff“ stehen und biete eine „verkürzte Gesellschaftkritik, wie sie in der Rede von der Rückkehr der alten Herrschaft vorliegt.“

Allerdings erscheint die Theorie Adornos in dieser Darstellung als etwas zu monolithisch; ihre inneren Widersprüche werden zu wenig entfaltet, die Differenz zwischen den Phasen, in denen die Dialektik der Aufklärung und die Negative Dialektik entstanden, zu wenig berücksichtigt; auch die ästhetischen Schriften, worin unter anderem eine Kritik der Arbeit zu entdecken wäre, bleiben ausgeklammert. Dennoch hat die Autorin recht, wenn sie im unzureichenden Kapitalbegriff auch das Einfallstor für ontologisierende Momente sieht. Obwohl bei Adorno „Vorstellungen, wie sie mit der Rede von der Tauschgesellschaft einhergehen, systematisch verhindern, die Kritik so weiterzutreiben, daß überhaupt ein Begriff vom Kapitalverhältnis gewonnen werden könnte, der nicht Gefahr läuft, im nietzscheanischen Einerlei machtontologischer Figuren unterzugehen, hatte die Kritische Theorie von dessen Problematik einen elaborierten Begriff.“ Das poststrukturalistische Denken jedoch, so legt die Autorin nahe, findet in jenem Einerlei machtontologischer Figuren zu sich. Mögen Derrida, Deleuze oder Foucault der „großen Bejahung“ Nietzsches auch einen messianischen Akzent versetzen — Derrida möchte „den Zugang zu einem affirmativen Denken des messianischen Versprechens eröffnen“ —, ihr Denken widersetzt sich damit nicht der Ontologie.

Monika Noll konzentriert sich in ihrem Beitrag auf Derridas Spectres de Marx. Beeindruckend daran ist vor allem der Versuch, den Dekonstruktivismus bereits zu historisieren und im Zusammenhang mit einer bestimmten Phase der Kapitalisierung der Gesellschaft zu sehen. Dabei übt die Autorin nicht einfach ‚von außen‘ Kritik an Derrida, sondern durchaus immanent, um die Notwendigkeit, über sie hinauszugehen, sichtbar zu machen. Auf diese Weise wird der Vergleich mit der Marxschen Theorie erst sinnvoll: „Die Gespensterwelt, das ist für Marx noch das scheinbar unmittelbare Verhältnis der Arbeitsprodukte, für Derrida hingegen das scheinbar unmittelbare gesellschaftliche Verhältnis der die Produkte konsumierenden Menschen. (...) Soll Marx doch fetischistische Natur in die Gesellschaftlichkeit der Arbeit auflösen, Derrida zweifelt keinen Augenblick, daß seine Gespenster gegen diesen Versuch der Reduktion gefeit sind. Er weiß schließlich mehr als Marx; er weiß, daß es eine Gesellschaftlichkeit gibt, in der seine Gespenster bestens aufgehoben sind. Diese Erfahrung macht er tagtäglich in einer Konsumtionssphäre, die nicht mehr das privatistische Anhängsel, sondern gesellschaftlich nützlicher Teil des Verwertungsprozesses geworden ist und eine Schlüsselrolle bei der Lösung des Problems der Mehrwertrealisierung erhalten hat.“ Damit rückt Derridas Philosophie „uns verflixt nahe und wir sind mit ihr plötzlich mitten in den Schwierigkeiten der heutigen Gesellschaftstheorie. Es zeigt sich nämlich, daß auch wir uns beim Nachdenken über die Gesellschaft mit einer Festigkeit der Erscheinungswelt herumschlagen müsssen, mit der Marx auf dem damaligen Stand der kapitalistischen Entwicklung noch nicht zu tun hatte.“

Derridas Esoterik und Gespensterkult signalisieren darum etwas, „das der gängige (...) nüchtern mit ‚sozialen Konstrukten‘ befaßte Dekonstruktivismus nicht mehr zu erkennen gibt: sie signalisieren, mit welchen Vermittlungsproblemen die Gesellschaftstheorie — angesichts einer verselbständigten Sphäre sozialen Handelns — konfrontiert ist und welchen Preis sie zahlt, wenn sie es unterläßt, den Prozeß der Verselbständigung zu thematisieren (...).“

Die Dekonstruktion ist demnach die eigentliche Philosophie des Konsumenten. Aber Derridas Gespenstermetaphorik läßt immerhin erkennen, daß es ein wenig unheimlich wird im großen Kaufhaus, Marx spukt vereinzelt herum. Die Frage ist allerdings, ob dieses Unbehagen sich selbst bereits als Seinsvergessenheit interpretiert und in der Scheinwelt des totalisierten Verwertungszwangs, der alles in Reklame verwandelt, immer schon den Notausgang zum „Sein“ sucht — eben „den Zugang zu einem affirmativen Denken“.

(Zuerst erschienen in Ästhetik und Kommunikation 108/2000)

*) jour-fixe-initiative berlin (Hg.): Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Theoretische Lockerungsübungen. Berlin-Hamburg: Argument 1999. 144 S., 24,80 DM