Rasse und Klasse
Polemik ist eine zweischneidige Angelegenheit. Sie kann schnell ausufern und Selbstzweck werden, sich von Tatsachen entfernen und damit unglaubwürdig. Oder sie kann ängstlich am Gegenstand orientiert bleiben, dann klingt sie fad und gegessen.
Götz Aly beherrscht die Polemik wie kaum ein andrer im deutschsprachigen Raum. Und er weiß, wovon er spricht. Seine wissenschaftlichen Studien zur Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus stellen höchsten Standard dar. Greift er zum Stilmittel des Essays, so bildet sein profundes Wissen den Hintergrund, auf den gestützt Aly sich erfrischend über die herrschenden Kontinuitäten in Deutschland (vor allem) hermacht. Die Sudetendeutschen zum Beispiel. Oder die Vergangenheitspolitik, anschaulich gemacht an der Praxis des deutschen Justizwesens.
In gewissem Sinne macht es das Deutsche dem Polemiker aber auch einfach. Seine wissenschaftlichen Ergebnisse sind unumstößlich, und trotzdem wird im gesellschaftlichen Alltag der Politik und der Journaille daran vorbeigedacht und drum herum gelogen, dass er grade zu aufgefordert wird, sich dazu zu äußern. Dass die These, die auch den in dem vorliegenden Buch gesammelten Artikeln und Vorträgen zugrunde liegt, bis heute nicht ganz akzeptabel scheint, erlaubt es Aly jedenfalls, sie an verschiedensten Beispielen (von der Rabattgesetzgebung bis zur Euthanasie) und damit unter verschiedenen Blickwinkeln zu erläutern und — zu festigen.
„Nie zuvor hatte sich die junge Intelligenz vom Abitur an so ungehindert entfalten können. Kompromiss war dieser Generation ein Fremdwort (...). Widerspruchsgeist galt ihr als Kritikastern, Zweifel als Schwäche. Jeder Expansionsschritt des Deutschen Reiches bedeutete individuellen Aufstieg, Entfaltung der eigenen Wünsche und der sozialen Utopie eines funktionierenden, von allen Störfaktoren freien Volksganzen.“ Das Trauma des deutschen Nachkriegskollektivs, sich aus der Verantwortung für ein Verbrechensregime stehlen zu wollen und zugleich den ungeheuren Errungenschaften des NS nachtrauern zu müssen, führte zu einem verzerrten Bild des Nationalsozialismus selbst, bis heute. Aly zelebriert es fast genüsslich, Personen wie dem bekannten Journalisten Werner Höfer ihre dunkle Vergangenheit zu präsentieren.
Bemerkenswert ist, dass Aly nicht mit der simplen Methode des erhobenen Zeigefingers agiert, sondern seine politische Theorie des NS exemplifiziert. „Nur wer den intelligenten, von Männern wie Höfer repräsentierten Kern enträtselt, kann das Funktionieren und die mörderische Effizienz der NS-Herrschaft erklären.“ Modern war dieser Staat, und möglichst frei von bürokratischen Hindernissen, rassistisch und selektiv, doch nahm er die meisten Volksgenossen auf und umschmeichelte sie, und sie ließen es sich gefallen. Jene, die dem Verdikt des Ausschlusses verfielen — Kommunisten, Juden bald und Polen, sowjetische Kriegsgefangene — wurden in Hinblick auf die Fortsetzung der beispiellosen Erfolgsgeschichte dieses Staats umgebracht, beseitigt.
Im zentralen Aufsatz „Nationaler Sozialismus“ legt Aly seine politische Theorie des NS explizit dar. Der Vorgriff auf so viele heute vertraute, aber immer noch als neu und unproblematisch identifizierte Herrschaftstechniken verblüfft. „Hitler war der erste Medienkanzler Deutschlands“. Und der „große Integrator“ Hitler schaffte auch einen Wohlfahrtsstaat, ehe dieses Wort existierte, auf Basis eines umfassenden Klassenkompromisses. Die Vereinigung der vielen Interessen schuf eine „Binnenspannung“, die „das hochbrisante und bald zerstörerische Gemisch aus Realpolitik, Ideologie und national-sozialer Utopie“ erzeugte.
Das Ergebnis war eine Katastrophe unbekannten Ausmaßes. Dass es möglich war in einer Gesellschaft, die geführt wurde als „eine jederzeit mehrheitsfähige Zustimmungsdiktatur“, war und ist zentraler Aspekt der deutschen wie österreichischen Geschichte und wunder Punkt in der wehleidigen kollektiven Identität dieser beiden Länder. Götz Alys Polemik ist zu danken, dass der wunde Punkt Thema bleibt.

Götz Aly: Rasse und Klasse. Nachforschungen zum deutschen Wesen. Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag 2003
