FORVM, No. 321/322
September
1980

Rätepolen

Augenzeuge der polnischen Auguststreiks
Der Smolny von 1980:
Aula der Leninwerft in Gdansk (Danzig) mit den Delegierten von über 400 streikenden Fabriken. Rechts hinten im Saal die Küche (15 Frauen streichen pausenlos Brote, kochen Tee), links vorne das Schreibbüro, links hinten die Radioreporterecke. Auf der Bühne 3 Symbole: das Kreuz, der polnische Nationaladler und ein Lenin aus Gips, innen hohl, der starr an den Menschen vorbei aus dem Fenster blickt (Foto Erhard Stackl)

„Marihijaha hilf!“ Gepfercht in den engen Korridor hinterm Portal Nr.2 der Leninwerft in Danzig, umweht von stickigem Atem und religiöser Inbrunst, nach einer Stunde Messe und einer Dreiviertelstunde Marienlitanei, ich wollte durch, aber das Tor war zu, und da geschah’s, die Arbeiter hatten sich im Regen nicht von der Stelle gerührt, sich mit ihren Blaumännern in die Pfützen gekniet, und jetzt, der Pfarrer ist längst weg, wie eine Schwangere hielt er im Auto das Tabernakel am Bauch, immer noch steigt ein Avemaria für den Kardinal, für die Solidarität, für den Streikerfolg, an diesem Montag, am 25. August im Jahre des Herrn 1980, um 7 Uhr abends, geschah’s: ein Arbeiter turnte, einen Riesenblumenstrauß in der Hand, 3000 betende Augenpaare auf sich, das Blumengirlandengitter hoch, über Pfeiler, Verstrebungen, die 6000 Augen im Rücken, auf dem Gebetsteppich immer höher schwebend, bis auf die letzte Traverse, den Strauß an den Buchstaben Lenins befestigend, und Marihijaha hilf, Ekstase, er breitet über den 3000 seine Arme aus, Ahamen!

Zwei Abende zuvor, Beginn der Verhandlungen. Die Medien schimpfen über Produktionsverluste, der erste Regierungsverhandler hat nicht einmal das Forderungspapier der Streikenden angenommen. Frust, Frust, Bitternis. Schließlich schickt die Regierung Vizepremier Mieczeslaw Jagielski nach Canossa. Fäuste haben am Tor auf sein Auto gehämmert, durch die finstere Allee ist das kleine graue Männlein geschritten, Streikführer Lech Walesa einen Schritt hinter ihm, er betritt den Saal, das Spalier der Arbeiterdelegierten hat sich mit Spannung aufgeladen, einzelne knien vor ihm nieder, in schweigender Ekstase, hinter dem Pulk schlagen die Reihen in einem Chor zusammen: „Lech! Lech! Lech!“

Knien im Regen:
Abendmesse beim Tor 2 der Leninwerft in Danzig

Wie tritt das aus dem Dunkel der Geschichte hervor, wie reckt sich der Knecht zum aufrechten Gang? Die Danziger Streikzeitung Solidarität (Solidarnosc Nr. 11 vom 30. August) läßt die Arbeiter selbst erzählen:

Wir haben ausgemacht, daß wir am 14. August (ein Donnerstag) eine Stunde früher kommen, um Plakate im Umkleideraum anzukleben über die Entlassung von Anna Walentynowicz und über die Preiserhöhung. Die Plakate wurden von der PMP (Bewegung junges Polen, nationalistisch) gedruckt. Wir haben auch eins unter der Uhr von der Abteilung W 3 aufgehängt, einer ist dortgeblieben und hat drauf aufgepaßt. Die Leute haben uns gratuliert. Vorher hatten wir schon eine kleine Gruppe informiert.

lch habe dann erklärt, daß ein Streik beginnt, wegen der Sache mit der Walentynowicz. Die Leute sind dann mutiger geworden, es sammelte sich eine Gruppe von 50 Personen, wir hatten auch ein Transparent.

Dann kam ein Parteifunktionär und fragte: Was ist denn los? Ich sagte: Können Sie nicht lesen? und gab ihm einige Nummern vom Robotnik. Er wollte uns das Transparent wegnehmen, aber die Burschen sagten: Das geht dich gar nichts an! Sie sagten auch: Nehmt ihm die Zeitungen wieder weg ...

Liest sich wie ein Stück aus Gorki/Brechts „Mutter“, Revolution 1905. Schaut aus wie Eisenstein, „Panzerkreuzer Potemkin“, 1905: vor der Werft ist sogar eine Fußgeherbrücke über die Schnellbahn, die gibt’s auch im Film, da stiefeln bei Eisenstein Soldaten drüber, Schnitt, Bajonette gesenkt, treppab ... hier sind’s Sonntagsausflügler, komm, gemma Streik schaun, mit Kinderwagen, in bunten Kleidern. 1970 wurde hier scharf geschossen, Frauen und Kinder fielen, vor dem Tor Nr. 2 wird ein Denkmal für sie gebaut, die Behörden haben’s versprochen.

Geschichte, wo man in Polen hintritt. Geschichte über Geschichte, daß Andrzej Wajda seinen Mann aus Marmor hier enden läßt, den Stachanow-Helden seines antistalinistischen Films, der mit den Schüssen von Danzig 1970 ausklingt (die Zensur hat die Schlußpassage weggeschnitten). Der Sohn des Manns aus Marmor ist Arbeiter in der Werft: eine Fortsetzung des Films bietet sich an. Wajda konnte jetzt auf Fiktion verzichten; er kam mit einem Team auf das Streikgelände und drehte einen Dokumentarfilm.

Wie wild kurbelten sie auf einer uralten elefantesken 35-mm-Arriflex mitten unter den smarten Westlern, die ihr leichtes elektronisches Gerät auf den Schultern tragen (die steckten einfach das Videotape in die Tasche, husch zum Flugzeug, ab nach Frankfurt, und abends lief es schon über die Bildschirme der Eurovision). Mitte September konnte Wajda seinen Film im Rohschnitt auf dem Filmfestival von Danzig vorführen: Lech Walesa saß neben Vizepremier Juniewicz, am Schluß standen alle auf und sangen die Nationalhymne.

Arbeiternationalismus. Immer wieder stehend die Dombrowski-Mazurka. Als nach Giereks Fernsehrede am 24. August der Sender die Internationale spielte, sprang der ganze Saal in Danzig wie ein Mann hoch und sang die Nationalhymne. Überall rotweiße polnische Nationalfahnen auf den streikenden Fabriken, büschelweise, die rote Fahne ist nur mehr auf Parteihäusern zu sehen. Walesa mit dem Nationaladler am Revers, das Pilsudskibild zu Hause an der Wand (der war immerhin ursprünglich ein österreichischer Sozialdemokrat gewesen, bevor er Diktator wurde. Ein alter Professor aus der KOR-Riege sagte: „Wenn wir doch wenigstens die Freiheiten hätten, die wir in Lemberg unter der österreichisch-ungarischen Monarchie hatten, dann wären wir schon froh!“ Immerhin hat Pilsudski, in Polen lebt alles von Geschichte, 1920 die Lenin-Russen aufs Haupt geschlagen, und just am 14. August 1980, als der Streik in Danzig ausbrach, war der 60. Jahrestag dieses „Wunders an der Weichsel“; KOR und Nationalisten hatten gemeinsam zu einer Kundgebung in Warschau aufgerufen, 5000 waren auf den Siegesplatz gekommen, und die Polizei war nicht eingeschritten).

Also Geschichte und abermals Geschichte. Wie entsteht so ein Streik? Immer wieder stößt man bei solchen Gelegenheiten auf „Grüppchen“, auf die berühmten „Elemente“. Mit wem haben sich die Werftarbeiter besprochen? Anlaß war die Schikanierung der Kranführerin Anna Walentynowicz. Sie war schon beim Streik 1970 aktiv gewesen. Seit sie im Herbst 1979 die Untergrundzeitung Robotnik im Betrieb verteilt hatte, wurde den Kollegen verboten, mit ihr zu sprechen, man hat sie, 10 Monate vor der Rente, in ein Magazin irgendwo draußen versetzt, sie hat das abgelehnt, wurde entlassen, und am 4. Februar 1980 gab’s schon mal einen kurzen Streik ihrer Abteilung W 2, um ihre Wiedereinstellung zu erzwingen. Aber erst der Streik der 17.000 Werftarbeiter schaffte das am 15. August.

Im Gefolge der Streiks von Radom und Ursus 1976 hatte sich ein Hilfskomitee für verfolgte Arbeiter formiert, abgekürzt KOR (im September 1977 verallgemeinerte sich der Titel auf „Komitee für soziale Selbstverteidigung“, abgekürzt KSS; das Komitee selbst verwendet heute beide Abkürzungen: KSS„KOR”). Es war das erstemal im Osten seit Kronstadt 1921, daß Arbeiter und Intellektuelle Hand in Hand gingen.

Das KOR schuf im Herbst 1977 eine Zeitschrift für Arbeiter, den Robotnik. Vor mir liegt die Regionalausgabe Robotnik wybrzeza, der Arbeiter von der Küste, März 1980. Im impressum lauter Namen (samt Adresse!), die im Präsidium des Danziger Streikkomitees wieder auftauchen: Bogdan Borusewicz für die Studenten von der TH, Andrzej Gwiazda von der Elmor-Fabrik mit seiner Frau Joana vom Institut für Schiffsbau, für die Leninwerft Anna Walentynowicz und als letzter auf der Liste — Lech Walesa, Werftelektriker.

Anfang 1978 entstanden die ersten Zellen der neuen Arbeiterbewegung, im Februar in Katowice (Kattowitz), Ende April in Danzig sowie in Szcecin (Stettin) im Oktober 1979. Das „Gründungskomitee der unabhängigen Gewerkschaften von Pommern” (also Nordwestpolens) verfaßte eine „Charta der Arbeiterrechte“, welche die 21 Punkte des Streiks vom August 1980 in Danzig im wesentlichen vorwegnimmt; das Dokument ist unterschrieben von Arbeitern, die bei den Streiks die führende Rolle spielen sollten, u.a. alle oben genannten, Walesa & Co. Die Forderung nach freien Gewerkschaften stand da schon drin, ihre Entwicklung aus Streikkomitees wurde bereits angedeutet.

KOR-Führer Jacek Kuron hatte alles vorausgesehen. „Die Inflation rast so schnell, daß es im Herbst zu einem Zusammenstoß kommen muß“, sagte er mir in einem Interview Ende Juli dieses Jahres (Tageszeitung, Berlin, 29. und 30. Juli 1980). Anfang Juli waren die ersten Streiks ausgebrochen, mit Forderungen bis zu fünf Prozent Lohnerhöhung, Mitte Juli ging’s dann schon auf 20 Prozent zu.

Auf die Frage nach überregionalen Streikkomitees mußte Kuron damals noch antworten: „Manchmal schaffen es die Arbeiter nicht einmal, Streikkomitees im ganzen Betrieb zu bilden, sondern nur in einzelnen Abteilungen.“

Auch die Strategie in der Gewerkschaftsfrage war noch unklar: in den Gewerkschaften bleiben und reformieren oder austreten und freie Gewerkschaften bilden? Kuron konnte damals für beide Tendenzen Beispiele anführen: „Die Eisenbahner von Lublin (sie hatten im Juli erfolgreich gestreikt) bereiten sich auf die Betriebsratswahlen vor (tatsächlich gewann das Streikkomitee die Betriebsratswahlen vom 19. August). Eine andere Möglichkeit zeigt das Beispiel von Ursus, wo die Arbeiterkommissionen direkt mit der Betriebsleitung verhandeln."

Kuron meinte, Hauptsache sei, die Arbeiter würden sich selbständig organisieren. „Das Parteimonopol auf Organisation ist grundsätzlich gebrochen.“ Die Forderungen der Arbeiter gingen über das Materielle hinaus.

Mitte August flossen die Rinnsale der Streikbewegung zu einem mächtigen Strom zusammen. Am dritten Tag des Streiks in der Lenin-Werft kamen die Delegierten der Elmor-Fabrik für Schiffselektronik auf das Werftgelände und schlugen ihren Kollegen die Gründung eines überbetrieblichen Streikkomitees vor, des MKS, das schließlich über 400 Betriebe aus dem Bereich der Dreistadt Danzig-Gdingen-Zoppot vertrat.

Das Präsidium des MKS faßte die verschiedenen Schichten zusammen: Arbeiter und Intellektuelle, Ober- und Unterarbeiter. Der Student und KOR-Mann Borusewicz saß da neben dem „Hackler“ Walesa, und zwischen ihnen der qualifizierte Elektronikingenieur Gwiazda. Der Intellektuelle, der populäre Arbeiterführer und der Stratege — zusammen bildeten sie die Leitung einer Bewegung, die sich, ohne vorgefaßtes Ziel, den Pfad des Möglichen entlangtastete. Eine solche Front ist tödlich für jedes Regime auf der Welt.

Lech (Kosename: Leszek) Walesa hat die Delegierten fest in der Hand.
Hinter ihm „sein“ Kreuz mit dem silbrigen Christus, das er ins Lokal der neuen Gewerkschaften „Solidarnosc“ mitnahm (Foto Erhard Stackl)

Lech Walesa, 35, sechs Kinder, urkatholisch, nationalistisch, ungeschult, aber kühn, demagogisch begabt, ist das Urbild des Arbeiterführers, wie wir es aus der Geschichte kennen, Typ André Marty. „lch kämpfe wie ein Löwe,“ sagte er bei einer seiner Morgenreden am Tor 2 der Leninwerft (morgens Walesa und abends der Priester — das war die ideologische Indoktrination der Werftarbeiter angesichts des Fehlens von Vollerversammlungen). Walesas Menschlichkeit hebt ihn von der Bürokratenwelt des Regimes ab, ist aber von Eitelkeit nicht frei. „Haben wir alles erreicht, was wir wollten?“ fragte er nach der Unterzeichnung des Danziger Vertrags mit der Regierung. „lch sage immer offen und ehrlich, was ich mir denke. Und so will ich jetzt frei von der Leber weg sagen: nicht alles. Habt Vertrauen in mich, wie ihr mir bisher vertraut habt.“

Oder beim Tor, über Lautsprecher: „Wir haben den Vorschlag für das Statut, wir werden noch etwas daran arbeiten. Vielleicht mache ich das als Diktator ... Ich habe meinen Kopf hingehalten und werde ihn weiter hinhalten. Ich werde immer mit euch sein.“ Ein Delegiertenkind wurde nach ihm getauft. Auf Schritt und Tritt mußte er Autogramme geben. Wenn er am Mikrofon erschien, um einen Erfolg zu verkünden, erhoben sich alle von den Plätzen und sangen „He’s a jolly good fellow“ auf Polnisch („Sto lat, sto lat ...“).

Sein demagogisches Talent bewies Walesa, als unter den Arbeiterdelegierten Zweifel aufkamen, ob das Zugeständnis der „führenden Rolle der Partei“ nicht zu weit ginge. Am Tag vor der Unterzeichnung des Vertrags kam es im Präsidium zu einem Streit, der in den Saal übersprang. Walesa stieg auf die Bühne und wischte die Einwände vom Tisch: „Einige Leute haben das Abkommen von heute morgen mißverstanden ... Wir dulden hier bei uns keine Parteiführerschaft! Nur wenn ihr sie erlaubt, werdet ihr sie haben.“

Bedächtig dagegen Andrzej Gwiazda, der Stratege des Streiks. In der zweiten Verhandlungsrunde, die im Danziger Radio am 26. August direkt übertragen wurde, entspann sich folgender absurder Dialog Gwiazdas mit Vizepremier Jagielski:

Jagielski: „Wie Sie sehen, sind wir der gleichen Meinung: die Gewerkschaften müssen verbessert werden.“

Gwiazda: „Nein, wir brauchen keine verbesserten Gewerkschaften. Wir wollen neue, freie Gewerkschaften.“

Jagielski: „Meine ich ja, die Gewerkschaften müssen erneuert werden.“

Gwiazda: „Nein, nicht erneuert — frei gewählt!“

Unter frei konnte sich der Politbürokrat aber nichts vorstellen. Als Jagielski gar die Gültigkeit der Abmachung auf die Nordregion beschränkt wissen wollte, platzte Gwiazda der Kragen: „Wenn ihr unbedingt den Generalstrelk haben wollt, können wir ihn ausrufen.“

Von mir hinterher auf diese Strategie angesprochen, meinte Gwiazda: „Es gibt zwei Meinungen: Es ist gut, wenn mehr Fabriken streiken, aber es ist auch schlecht, weil die Regierung dann ganz Polen gegenübersteht.“ Einer aus dem Stab des MKS präzisierte: „Die Regierung zerfällt uns ja in einem Generalstreik unter den Händen.“ Dann bestünde die Gefahr von Zusammenstößen, einer unkontrollierbaren Eskalation. Man hat den Generalstreik also mehr oder weniger bewußt „zerlegt“.

Die Arbeiter auf der Werft waren hart entschlossen, diesmal nicht nachzugeben. Auf das Angebot von Neuwahlen in den staatlichen Gewerkschaften sagten sie: „Dafür ist es 10 Jahre zu spät.“ „Wir wollen freie Gewerkschaften.“ „Gierek war als Arbeiter in Frankreich, er weiß doch, was freie Gewerkschaften sind.“ Was sie von der Regierung erwarten? „Nichts erwarten wir.“ „Sie tauschen nur Personen aus, das bedeutet nichts.“ Wie lange sie durchhalten könnten? „Bis Weihnachten.“

Die Presse konnte sich in Polen völlig frei bewegen. Am Werftgelände dokumentierte das Streikkomitee MKS seine Souveränität durch die Ausgabe eigener Ausweise (oben). Der Verfasser (unten, mit Bart) interviewt Arbeiter (Foto Erhard Stackl)

Der Vertrag von Danzig, am 31. August vom MKS-Präsidium und der Regierungsdelegation unterschrieben, ist ein für osteuropäische Verhältnisse unerhörtes Dokument. Der wichtigste Satz, auf der ersten von 24 Manuskriptseiten der offiziellen deutschen Übersetzung, lautet: „Für sinnvoll erachtet wird die Schaffung von neuen, sich selbst regierenden Gewerkschaften, die echte Repräsentanten der arbeitenden Klasse darstellen.“ Echte Repräsentanten! Was waren dann die bisherigen?

Teigige Memmen auf jeden Fall. Der neuernannte Staatsgewerkschaftschef Jankowski, der bei seinem ersten Fernsehauftritt einen kalten, intransigenten Eindruck machte, wurde immer kleiner und kleiner, bot schließlich den freien Gewerkschaften Zusammenarbeit an, und als sie darauf nicht eingingen, versuchte er sich mittels Trick bei ihnen zu integrieren: etliche Branchengewerkschaften traten aus dem Zentralverband aus und erklärten sich autonom.

Um Verwechslungen vorzubeugen, änderte Walesas freie Gewerkschaft, am 21. September mit Sitz in Danzig als Föderation gegründet, ihren Namen: nach dem Streikbulletin von Danzig taufte sich die freie Gewerkschaft bei ihrer gerichtlichen Registrierung am 24. September in Warschau „Solidarität“. Vier Millionen von 13 Millionen Gewerkschaftsmitgliedern waren zu diesem Zeitpunkt bereits zu den neuen Organisationen übergelaufen.

Auch die übrigen KP-Organisationen zerfallen. Am 22. September wurde in Krakau eine unabhängige Studentenorganisation gegründet. Zur selben Zeit meldete sich eine Bauernorganisation an. Die Journalisten wollen keine Zensur mehr usw. — hinter dem Monolithen „Diktatur des Proletariats” wird ein neues Polen sichtbar, das de facto ein Mehrparteiensystem hat, auch wenn die Parteien eine zeitlang als „soziale“ Organisationen figurieren. Auf der äußersten Rechten steht Moczulskis Nationalistengruppe PPN, auf der Linken Kurons faktisch sozialdemokratisches KOR, in der Mitte katholische Intellektuellen- und Bauernorganisationen.

Schon die Konstruktion des Danziger MKS war im Keim eine Koalition solcher Kräfte, denn in seinem Schoß waren KOR-Leute, und als „Experten“ berief das MKS am 24. August zu seiner Beratung katholische Intellektuelle, voran den Chefredakteur der katholischen Monatszeitschrift Wiez, Tadeusz Mazowiecki. Diese Gruppe steht übrigens mit dem Reformerflügel des Regimes sehr gut, der sich in der Gruppe „Erfahrung und Zukunft“ (DIP) gesammelt hat, einem lockeren Ensemble von Wirtschaftsfachleuten, hervorgegangen aus dem wöchentlichen Jour fixe der Warschauer Okonomen am Nowy swiat.

DIP hat schon mehrere Reformprogramme veröffentlicht. Es heißt, daß auch Stefan Olszowski, Hoffnung der Reformer in der Partei, das DIP fördert. DIP selbst gibt an, 30 Prozent seiner Teilnehmer seien bei der Partei. Sogar Polytika-Chefredakteur Rakowski war bei der ersten Zusammenkunft dabei.

Die Rolle der Kirche ist dabei eine durchaus nicht eindeutige; während Masowiecki sich progressiv engagierte, hielt Polens Kardinalprimas Stefan Wyszynski am 26. August eine reaktionäre Predigt in Czenstochau. Der Kardinal fiel den Streikenden in den Rücken und verlangte die Wiederaufnahme der Arbeit, als noch nichts erreicht war und die Verhandlungen sich gerade am kritischen Punkt befanden: „Wir haben uns nicht hierher begeben, um jemanden anzuklagen, um aufzuhetzen, um Unruhe zu verbreiten, sondern nur, wie es sich für die Diener Gottes geziemt, darüber zu sprechen, was es zu achten und zu erfüllen gilt, damit in unserem Vaterland wieder Ruhe und Ordnung einziehen.“

Der Tenor der Predigt war: „Ohne Arbeit gibt es keinen Wohlstand.“ Zwar hätten die Arbeiter als äußerstes Mittel das Recht, „die Arbeit niederzulegen, wir wissen jedoch, daß dies ein sehr kostspieliges Argument ist ... die Kosten gehen in die Milliarden und belasten die ganze Volkswirtschaft und rächen sich im Leben des Volkes ...“

Seine konservative Grundeinstellung offenbarte der Seelenhirte in folgender Reihung der materiellen Werte: „Erstens gilt es solider zu arbeiten, zweitens heißt es zu sparen und ist Zerstörung zu vermeiden, drittens weniger zu borgen und mehr auszuführen, und viertens sind die Menschen besser mit den Alltagsnotwendigkeiten zu versorgen.“ Hätte Parteichef Gierek diese Worte an sein Volk gerichtet, der Generalstreik wäre ihm sicher gewesen. Kardinal Wyszynski erntete nur ein leises Murren. „Er ist halt schon alt und krank“, meinten die Delegierten des MKS entschuldigend. Walesa, der sonst so Fromme, sagte einfach: „Die Kirche soll sich nicht einmischen. Wir brauchen ihre Unterstützung nicht.“

Gegen Polens Primas erschien Papst Wojtyla da fast wie ein Revolutionär. Er hatte an Wyszynski geschrieben: „Die Jungfrau verteidigt das Volk in seinem schweren Kampf um das tägliche Brot, für soziale Gerechtigkeit und für die Garantie seines unangreifbaren Rechts auf eigene Entwicklung.“

Erstmals hat die Kirche selbst einen Keil zwischen sich und das polnische Volk getrieben. Warum? Wyszynski mag für das Monopol der Kirche auf Opposition im Staate gefürchtet haben (Mazowiecki hat in den Verhandlungen gegenüber der Regierung argumentiert, man könne den Sowjets die unabhängigen Gewerkschaften zumuten, weil sie ja schon die Unabhängigkeit der Kirche vom Parteiregime akzeptiert hätten, es sei also kein Novum). Zudem galt Giereks möglicher Nachfolger Olszowski als antiklerikal, wiederholt hatte er Giereks kirchenfreundliche Politik kritisiert.

Nichtsdestoweniger bleibt aber die Kirche mit dem starken Nationalimpetus der Polen verknüpft. In einem Land, das auf der Karte hin und her geschoben wurde wie ein Jeton beim Roulette, und das beim geopolitischen Spiel immer nur verloren hat, suchen die Intellektuellen nach einer spirituellen Identität, die nicht von geographischen Grenzen abhängt — das ist eine der stärksten Wurzeln der polnischen Kirche.

Eine andere ist eine rezente Agrarstruktur, die bei uns schon 30 Jahre überwunden ist. Polen kriegt also eine ÖVP (bzw. CDU) anno 1948 ...

Die progressive Paralyse des Regimes hat dieser Entwicklung aus eigenem nichts entgegenzusetzen. Gierek hat beim Aufflammen der Streikwelle in seiner Fernsehrede vom 17. August in phantasieloser Weise alle politischen Forderungen abgelehnt. Als er dann, unter starken Druck geraten, am 24. August einen Rückzieher machen mußte und die Reformer wieder holte, die man beim 8. Parteitag im Februar 1980 geschaßt hatte, war von ihm selbst nicht mehr viel übrig. „Wir haben einige Genossen in die Wirtschaftsleitung berufen“, gestand Gierek, „die uns schon vor geraumer Zeit auf Fehlentwicklungen aufmerksam machten, worauf wir aber nicht gehört haben.“

Giereks Rolle als gemäßigter Schiedsrichter war ausgespielt, nachdem er selbst die aggressiven Falken, die für ein Durchgreifen waren, ausgeschaltet hatte. Moskau setzte daraufhin auf die gemäßigten Falken, die Bremser und Täuscher.

Ein solcher gesichtsloser Absolvent der Schule der Diktatoren ist Stanislaw Kania, jahrelang Parteisekretär für den Sicherheitsapparat, dessen Einstand am 6. September eine Rede vor dem ZK war, worin der Vertrag von Danzig in seinem Hauptpunkt (freie Gewerkschaften) durch einen semantischen Trick überspielt wurde („Erneuerung der Gewerkschaften ... daß auch die neuen Gewerkschaften sich so entwickeln ...“). Während das ganze Land auf eine Wende hoffte, war die Vorstellung des neuen Chefs offenbar so schwach, daß man sie im Fernsehen nicht präsentieren konnte, ein Sprecher mußte sie verlesen.

Kania trat wochenlang nicht vors Volk, wie Gierek das 1970 getan hatte, sondern drückte sich in Konferenzen mit den Parteiaktivs der Provinz herum, mied Kontakt mit den Arbeitern. Die neue Führung mußte unter dem Druck von Anschlußstreiks bald ihre Bremsertaktik aufgeben und rollt jetzt im Leerlauf dahin.

Die Parzellierung der Regierungsmacht in vielen Einzelverträgen mit den Arbeiterrepubliken Polens bedeutet eine faktische Abdankung der Zentralmacht, die politisch von der Opposition realisiert werden wird, sobald sie ihre eigene Gegenmacht aufgebaut hat. Kania gleicht einem der machtlosen Feudalkönige des Mittelalters, die sich nur durch fortwährend wechselnde Bündnisse mit Lehensträgern an der Macht hielten. Die Feudalisierung der politischen Macht in Polen schreitet von Tag zu Tag rüstiger voran.

Kania ist der Fehler Gerö in Ungarn 1956: Ein Stalinist als Deckel auf den brodelnden Topf. Wenn der polnische Oktober kommt — kann dann Olszowski, zu spät gerufen, noch Ventil sein, oder wird er die Rolle von Nagy übernehmen müssen, der die Bewegung nicht mehr bremsen kann?

Die Russen haben es schwer mit Olszowski, gehört er doch zur seinerzeitigen nationalistischen Moczar-Gruppe, die gerne Moskaus Einfluß zurückgedrängt hätte.

Die einzig reale Kraft sind jetzt die Arbeiter, mehr noch als die Armeen. Bei der Unterzeichnung des Danziger Vertrages sagte Lech Walesa: „Wir Arbeiter müssen uns als Hausherren dieser Erde und dieser Betriebe fühlen, und so werden wir uns fühlen, und so werden wir arbeiten.“

In dieser Lage sind die polnischen Spezialmilizen nicht einzusetzen, schon gar nicht das Militär. Vergessen wir nicht, daß sowjetische Panzer im Nachkriegspolen noch nie interveniert haben (in Berlin und Budapest war es der Fall), und daß die Haltung der polnischen Armee in so einem Fall nicht so klar ist wie in der CSSR 1968. Die Polen verachten die Tschechen für ihre Passivität ...

Jacek Kuron hat schon in seinem „Offenen Brief an die PVAP“ 1964 den Angelpunkt des Problems analysiert: eine grundlegende Reform im Ostblock kann nur Erfolg haben, wenn sie nicht auf ein Land beschränkt bleibt, sondern sich über den ganzen Block ausbreitet. Kuron 1964: „Die Möglichkeit einer bewaffneten Intervention der sowjetischen Monopolbürokratie wird, wenn sie dazu noch die Macht hat, nicht von der Zahl ihrer Panzer und Flugzeuge abhängen, sondern von den Spannungen des Klassenkonflikts innerhalb der UdSSR.“ Polen braucht einige Monate Frist, bis der Funke überspringt.

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