FORVM, No. 164-165
August
1967

Rebellierende Studenten: London

Die Studenten der „London School of Economics and Political Science“ machten in diesem Studienjahr durch eine Serie dramatischer Vorfälle von sich reden; sie rebellierten gegen die akademischen Autoritäten, blockierten das Hochschulgebäude durch „sit-ins“, boykottierten die Vorlesungen. Reporter, die aus der wenige Minuten entfernten Fleet Street herbeieilten, fanden hier, an der weltbekannten „LSE“, die handgreifliche Illustration des allgemeinen Unbehagens an den britischen Hochschulen.

Das traditionelle Universitätssystem erweist sich als unzureichend für die jüngste Expansion des höheren Schulwesens unzureichend im pädagogischen, psychologischen und einfach im physisch-räumlichen Sinn.

Die LSE, 1895 gegründet, war zunächst in einem Privathaus untergebracht. Dann übersiedelte sie in ihr derzeitiges Gebäude; es sieht wie ein Bürohaus aus, kleiner und unscheinbarer als die benachbarten Häuser, in denen eine Fernsehstation und eine Baugesellschaft domizilieren. Die enge Straße faßte während des Aufruhrs kaum die Masse der Studenten, Reporter, Photographen, Zuseher und Passanten in diesem geschäftigen Teil der Innenstadt.

Noch zur Zeit des bedeutendsten LSE-Direktors, Sir Alexander Carr-Saunders (1937 bis 1956), schien die Zahl von 1000 Hörern eine vernünftige Obergrenze. Die Professoren kannten ihre Studenten einzelweise; man sprach formlos über Studien, persönliche Probleme und Probleme der Hochschule. Es gab verhältnismäßig wenig Studienfächer; die LSE war geistig eine Einheit, gesellschaftlich so etwas wie eine große Familie.

Heute gibt es 3400 Hörer. Fast die Hälfte sind „post graduates“. Vielekommen aus Asien, Afrika, Amerika. Die Zahl der neuen „Departments“ vermindert den Kontakt — z.B. zwischen einem Studenten der psychiatrischen Sozialfürsorge und einem Studenten des Völkerrechts.

Das Unbehagen ist für jeden Besucher spürbar. In den Gängen drängen sich die Studenten fremd aneinander vorbei — wie in der Untergrundbahn zur Stoßzeit. In den „common rooms“ muß man auf Sitzplätzen warten — wie in einer überfüllten Hotelhalle. Es gibt keine Gelegenheit für ruhige Gespräche. Die Professoren ziehen sich in ihre eigenen „common rooms“ zurück, statt wie früher unter den Studenten zu bleiben. Die „Cafeteria“ ist wie die einer Fabrik.

Tatsächlich fühlen sich die Studenten wie in einer Fabrik — für akademische Diplome. Wie fast alle britischen Universitäten bietet die LSE Ausbildung für einen „Job“, nicht Bildung im weiteren Sinn.

Der Dozenten-Studenten-Quotient hat sich verschlechtert; er beträgt etwa 1:14, ist also nicht viel besser als in einer Schule. Folglich gibt es wenig mehr als Routine-Vorlesungen vor großem Auditorium, nach einem starren, phantasielos gewordenen Lehrplan, ohne Raum für die Diskussion neuer Ideen.

Über Reform der akademischen Disziplin hat man sich gleichfalls wenig den Kopf zerbrochen. Früher hielt es niemand für nötig, den studentischen Meinungsausdruck zu formalisieren; jeder Konflikt konnte über einer oder mehreren Tassen Kaffee gelöst werden. Die nunmehrige Expansion brachte den Direktor der LSE in die Rolle eines altmodischen Unternehmers, der seinen Betrieb patriarchalisch geführt hat und das Auftauchen einer Gewerkschaft als persönliche Beleidigung empfindet; seine unglücklichen Worte zu einer Studentenmenge: „Ihr habt keine Rechte!“ — waren ein Ruf aus der Vergangenheit.

Direktor Caine suspendierte die Vorsitzenden der „Students’ Union“ sowie der „Graduate Students’ Association“ und betrachtete dies als Disziplinarstrafe für zwei junge Leute wegen Verletzung der Schulordnung; die Studenten sahen darin einen Angriff auf ihre gewählten Vertreter und daher auf das magere Bißchen Demokratie, das es auf der LSE gibt.

Caine hielt die protestierenden Studenten für eine „kleine untypische Gruppe“. Das Ausmaß des Protestes müßte ihn dann überrascht haben: der Vorlesungsboykott legte mehrere Departments lahm; 400 Studenten verbrachten mehrere Tage und Nächte auf dem Fußboden.

In der guten alten Zeit gestattete man den „jungen Gentlemen“ in Oxford und Cambridge Eskapaden, die oft viel ungezügelter und destruktiver waren als alles, was sich an der LSE ereignet hat. Damals riskierten die jungen Herren, wenn sie zu weit gingen, harte Strafen. Sie hätten nie daran gedacht, gegen Disziplinierung oder Relegation aufzubegehren, noch weniger daran, die übrigen Studenten zur Solidarität aufzurufen. Traditionellermaßen galt die Universitätsbildung als Privileg, welches damals auf eine schmale Gesellschaftsklasse beschränkt war.

Die Privileg-Theorie entspricht vermutlich heute noch der Ansicht vieler Eltern von LSE-Studenten, weil sie selbst niemals eine Chance hatten, das Goldene Tor der Universitätsbildung zu passieren. Daher die Einstellung, daß ein Student den akademischen Autoritäten mit kritikloser Dankbarkeit zu begegnen und brav zu lernen habe, um die ihm erwiesene Gunst zu rechtfertigen.

Die gleiche Ansicht zeigte ich auch in manchen Pressekommentaren zur LSE-Revolte, etwa in der Schlagzeile: „Zurück zu Euern Büchern!“

Immer mehr werden wir jedoch genötigt sein, die Ankunft einer neuen Generation von Studenten zur Kenntnis zu nehmen. Der „neue Student“ hält es für sein Recht, auf die Hochschule zu gehen, wenn er die entsprechende Prüfung in der Schule bestanden hat. Er hält es für die Pflicht der Hochschule, ihm die nötige Bildung zu bieten, samt den zugehörigen gesellschaftlichen Vorkehrungen, ihm diese Bildung erstrebenswert zu machen.

Wenn dies nicht geboten wird, hält er sich für berechtigt, Kritik zu üben und Reformen zu fordern.

Überdies kommen die Studenten nun oft aus einer Gesellschaftsklasse, in der die Zwanzigjährigen als erwachsen gelten, so daß ihnen die kleinlichen Einschränkungen nach dem alten Oxford-Cambridge-Modell wider den Strich gehen.

Der „neue Student“ wird kaum eine vorübergehende Erscheinung sein. Er ist das unvermeidliche Produkt der weitgestreuten höheren Bildung. Wenn man ihn richtig versteht, ist er ein wertvolles Produkt.

Einige neue Universitäten haben für die „neuen Studenten“ bereits jenes richtige Verständnis. Sie geben ihm festgelegte Rechte und appellieren an seinen Sinn für Verantwortlichkeit. In der Disziplinarkommission der Universität von Sussex haben die Studenten eine Mehrheit.

Aber die akademische Welt verändert sich nur langsam. In der Übergangszeit werden Rebellionen wie auf der LSE sich wahrscheinlich wiederholen. Sie sind international, wie ähnliche Vorfälle an den weit entfernten Universitäten Berkeley und Berlin zeigen.

Man kann nur hoffen, daß die meisten Hochschulen mit Reformen antworten werden — wofür es an der LSE nun verspätete Anzeichen gibt — und nicht mit blindem Widerstand.

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