Grundrisse, Nummer 2
Juni
2002

Repräsentation und Multitude — ein Bericht

Dienstag 19. März 2002. Die SPÖ Ottakring hat zu einer Diskussionsveranstaltung über das Sozialstaatsvolksbegehren in ein bekanntes Wirtshaus im 16. Bezirk eingeladen. Der Gastraum ist ziemlich voll, am Podium VertreterInnen des unabhängigen Personenkomitees und zwar: die Theaterdirektorin Emmy Werner, der Ökonom Stefan Schulmeister und der Präsident des Jugendgerichtshofes Udo Jesionek. Die Vorsitzende der SPÖ Ottakring hofiert die erschienenen Komitee-ProponentInnen und erhofft sich eine anregende Diskussion. Nach einem rituellen Austausch von Höflichkeiten beginnen die Referate. Die Rollen sind klar verteilt: Emmy Werner übernimmt den Part der Spaßmacherin, der Herr Präsident ist mehr für hemdsärmelige Argumente zuständig, Stefan Schulmeister für das Intellektuelle. Nach und nach verstärkt sich bei mir der Eindruck, dass ich bei keiner Diskussionsrunde zu Fragen des Sozialstaates gelandet bin, sondern auf einer reinen Werbeveranstaltung für ein bestimmtes Produkt, ein Produkt, das den Namen „Sozialstaatsvolksbegehren“ trägt. Alles ist bereits fix und fertig. Die Flugblätter und Werbeschriften ebenso wie die Argumente, selbst die eingestreuten auflockernden Scherze wirken einstudiert. Oft kippt der Vortrag in reine Argumentationsschulung. Wie beantwortet man den Einwand des Sozialschmarotzertums? Dann Publikumsdiskussion. Ich melde mich zu Wort und versuche höflich und zurückhaltend, einige Einwände und präzise Vorschläge zu formulieren. Dabei werde ich das Gefühl nicht los, dass es völlig egal ist, was ich hier nun sage. Ich hätte genauso eine Seite aus dem Telephonbuch vorlesen können, die Wirkung wäre dieselbe gewesen, nämlich gleich null. Alle Facetten der Kampagne sind bereits ausgearbeitet und durchgeplant. Und zwar von Anbeginn an. Schon auf dem ersten Treffen - ich war persönlich nicht anwesend, mir wurde aber darüber berichtet - gab es nicht einen Schimmer von offenen Fragen, von irgendeinem Spielraum, den man/frau für eine mögliche Debatte hätte nützen können. Wie im Theater ging der Vorhang auf und die Anwesenden wurden mit einer durchgeplanten Abfolge von Beiträgen zugeschüttet. Und nach diesem Muster wird auch dieser Abend gestaltet. Die Anwesenden sind im Grunde reine Objekte, keine Spur davon, dass hier versucht wird, ausgehend von den verschiedenen Erfahrungen, Ansichten und Bedürfnissen eine gemeinsame Aktion zu kreieren. Spannend wird es nochmals kurz vor Ende. In einer geradezu verblüffenden Offenheit und Unbefangenheit erzählt Schulmeister so im Plauderton, warum es diese Veranstaltung überhaupt gibt. Ursprünglich, so Schulmeister, sei man davon ausgegangen, dass die Medien teils kritisch, teils positiv, letztlich aber in der Mehrzahl eher negativ reagieren würden. Über diesen Konflikt, so dachte man, sei die nötige Wahrnehmung herstellbar. Damit hätte man ein Feld gefunden, das Volksbegehren zu propagieren und die entsprechenden Argumente zu lancieren. Aber leider, die Medien hätten gelernt; statt Kritik sei Totschweigen angesagt. Also war man gezwungen, andere Wege zu gehen. Man hätte 16 verschiedene Felder, in denen Sozialstaatlichkeit relevant sei, analysiert und vorhandene Organisationen und Strukturen, die in diesen Feldern arbeiten, als Multiplikatoren ausgewählt.

Nun war es also auf dem Tisch. Da das geplante Pingpong-Spiel zwischen der linken Elite und den Medien nicht funktioniert hatte, blieb also nichts anderes übrig, als den mühsameren Weg zu gehen und Veranstaltungen wie die eben beschriebene zu organisieren. Ich bin mir bis heute nicht im Klaren darüber, ob ich die Selbstsicherheit bewundern, oder mich über die Präpotenz ärgern soll, mit der ich und alle Anwesenden zu bloßen Propagandamitteln degradiert werden sollten, zu bloßen Sprachrohren und Flugblattverteilern für politische Inhalte, auf die wir alle nicht den geringsten Einfluss hatten und haben.

Für mich war diese Veranstaltung geradezu ein Lehrstück in Sachen Repräsentationspolitik. Und gleichzeitig wurde mir einmal mehr die Bedeutung, oder vorsichtiger formuliert, eine mögliche Bedeutung des Begriffes „Multitude“ und ihrer Nicht-Repräsentierbarkeit, klar. Natürlich muss man Negri/Hardt in ihrer überschwenglichen Formulierung, die Multitude treibe das Kapital vor sich her, nicht folgen. Aber selbst wenn man diesen Anspruch um zwei Stufen zurückstutzt, so sind diese Begriffe nützlich, genau das sichtbar zu machen, was Repräsentationspolitik immer verleugnen und verdecken muss. Multitude hat zumindest zwei Seiten, zwei Aspekte, die zwar eng miteinander verknüpft sind, aber doch nicht völlig zusammenhängen. Einerseits verweist der Begriff auf Kompetenzen, Fähigkeiten und Bedürfnisse im Arbeitsprozess, einem Arbeitsprozeß, der nur mehr teilweise die Form der klassischen Lohnarbeit annimmt, andererseits verweist Multitude auf den Aspekt nicht repräsentierbaren politischen Handelns. Paradebeispiel für den ersten Aspekt sind die inzwischen viel zitierten neuen Arbeitsformen, Paradebeispiel für den zweiten sind Genua, Argentinien oder hierzulande die Donnerstagsdemos. Immer zielt dieser Begriff auf Prozesse ab, die gewissermaßen unterirdisch, in den Poren des Alltags, verstreut und oft versteckt, ablaufen, aber doch indirekt große Wirkung haben. Ich möchte nun den mehr direkt politischen Aspekt beleuchten, um danach wieder auf die Politik der Repräsentation zurückzukommen.

Politische Formen der Multitude sind von niemandem beherrschbar, von niemandem für sich reklamierbar, sie fließen unkontrolliert und unberechenbar. Das politische System muss einerseits, da es in Kategorien der Repräsentation denken muss (und will), immer nach Repräsentationen suchen. Gibt es diese nicht, so werden sie willkürlich konstruiert. Als die Donnerstagsdemos begannen, wurde eine gewisse Person von den Medien als Drahtzieher und „Chef“ auserkoren, bis selbst dem dümmsten Journalisten und der dümmsten Journalistin klar wurde, dass K.W. diese Rolle nicht spielt. Foltin weist in seinem Artikel auf die willkürliche Konstruktion des Schwarzen Blocks hin, den es auch nicht gibt, aber an den zu glauben inzwischen Pflicht der aufrechten StaatsbürgerInnen ist. Nach dem 11. September musste der Feind sofort Gesicht und Ort bekommen, ungeachtet der Tatsache, dass keine Beweise gegen Bin Laden vorlagen und die Geldgeber für rechtsfundamentalistische Kreise viel mehr in Saudi-Arabien zuhause sind, denn in Afghanistan.

Die Nicht-Repräsentierbarkeit, die Negri/Hardt als geradezu ontologische Eigenschaft der Multitude ausmachen, wiederholt und bekräftigt in neuer Form, einen, ja DEN Aspekt, den im Grunde jede politische Strömung herausstellt. Ob man es Klassenkampf, Emanzipation, Rebellion, Widerstand, Befreiung oder Revolte nenne mag, immer zielen diese Begriffe auf Prozesse ab, die am, im und durch das Subjekt selbst stattfinden müssen. Genauso wenig, wie ein anderer für mich essen und trinken kann, genauso wenig ist, und hier müsste ich die Reihe der soeben genannten Begriffe wiederholen, (nennen wir es jetzt) politisches Handeln delegierbar. Es ist kein Zufall, dass in den dummen Trivialfilmen der große Held die anderen befreit. In Wirklichkeit kann es genau das nicht geben. Und alle, alle haben dies auch ausgesprochen. Von Marx zu Marcuse, von Castoriadis bis zu Negri/Hardt, trotz aller (oft gewaltigen Unterschiede): In diesem Punkt herrscht zu Recht Übereinstimmung. Castoriadis schreibt sinngemäß, dass repräsentative Demokratie glatter Widerspruch ist. Ebensowenig wie ich andere Dinge tun lassen kann, die ich selbst machen muss (Ich habe Essen und Trinken erwähnt, jedeR wird genug Phantasie besitzen, diese Liste endlos fortzusetzen.) kann Herrschaft (Demokratie, wörtlich: Herrschaft des demos) delegiert werden. Das „Sprechen im Namen der anderen“ muss diese anderen zu bloßen Objekten herabwürdigen.

Repräsentationspolitik bedeutet immer und automatisch Politik einer Elite. Die Elite selbst hat kein Interesse, sich mit den Massen zu vermischen, sie fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, in der Anonymität aufzugehen und darin zu versinken. Sie will Massen organisieren, aber nicht auf dieselbe Stufe der Anonymität herabsinken. Auch wenn Hunderttausende, wie beim Lichtermeer, demonstrieren, die Elite muss sichtbar bleiben. Ein wichtiges Moment für die Mobilisierung der Massen sind die Prominenten. Die Prominenten, die sich für das politische Projekt der Elite engagieren, müssen, ja sollen gar nicht aus dem engen Kreis der initiierenden Elite selbst stammen. Gleichzeitig sind Prominente auch der Schlüssel für die so notwendige mediale Aufmerksamkeit. Repräsentation kann nicht einfach im Akt einer Selbstzuschreibung gesetzt werden. Sie muss durch mediale Wahrnehmung bestätigt werden. Die sich engagierende Prominenz hebt im Grunde das eigene Engagement wieder auf. Je mehr symbolisches Kapital eine Person angehäuft hat, desto unwesentlicher ist es, was sie tatsächlich nun sagt. Bei Spitzenprominenten genügt oft schon eine belanglose Grußadresse, eine Beteuerung, man würde die gute Sache unterstützen. Die, ich spreche jetzt natürlich vorrangig von der linken, oppositionellen Politik der Repräsentation, bewegt sich also im Dreieck Elite/Prominente — Massen — Medien. Die Massen sind Staffage, Zahlen. Zahlen, die möglichst groß sein sollen. Die Elite plant, organisiert, konzipiert und leitet die politische Aktion, die Medien (in denen oft sympathisierende Teile der Elite arbeiten und die dadurch die Kampagne von innen her unterstützen können) sind das erste und vorrangige Ziel. Kommt man in den Medien gut durch, so erhofft man sich den gewünschten politischen Druck.
Schon allein durch diese Konstellation ist automatisch die politische Kontrolle über Ziel, Inhalt, Formulierungen und Methoden gegeben. Freilich kann die Multitude nicht lückenlos kontrolliert werden. Immer wieder fließen politische Inhalte und Formen von Politik ein, die die Elite ablehnen muss, da das „Durchkommen“ bei den Medien das vorrangige Ziel ist. Da sich die Elite durch politische Klugheit auszeichnet, weiß sie zumeist, wann Distanzierung, wann Ignorieren und wann Integration angesagt ist. Solange sie die Sprechkompetenz nicht verliert, also solange sie als repräsentativ öffentlich wahrgenommen wird, solange kann sie über den Sand im Getriebe generös hinwegsehen. Eines muss die Elite freilich fürchten: Politische Formen, bei denen sie durch die wirkliche Selbsttätigkeit der Subjekte funktionslos wird. In diesem Falle ist es unmöglich, jenes symbolische Kapital in und durch diese Kampagnen anzuhäufen; die Elite kann sich nicht bilden und wird funktionslos.

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