Revolution 1969
Marcuse: Die Reformen, die das Gaullistische Regime jetzt einführen wird, sind, weiß Gott, keine revolutionären Reformen. Es sind technokratische Reformen. Aber es gibt Reformen, die in der Tat zu einer zunehmenden Radikalisierung führen können; ich bin da ganz der Meinung meines Freundes André Gorz („Die Strategie der Arbeiterbewegung im Spätkapitalismus“ Paris, Frankfurt 1967, „Der schwierige Sozialismus“, Paris, Frankfurt 1968).
Ich würde sagen: Es geht um Erziehung zur radikalen Veränderung. Das ist heute im wesentlichen die Aufgabe der Studenten und aller Intellektuellen, die sich mit deren Bewegung solidarisieren. Es geht um Erziehung in einem neuen Sinn. Erziehung, die nicht im Klassenraum bleibt, nicht innerhalb der Mauern der Universität, sondern spontan übergreift in Aktionen, in Praxis, und sich ausdehnt auf soziale Gruppen außerhalb der Universität.
Keineswegs nur außerhalb. In den Universitäten zum Beispiel könnte eine strukturelle Reform durchgesetzt werden, die dem technokratischen Erziehungssystem, das zur Ausbildung und nicht zur Bildung führt, entgegenarbeitet. Das kann im Rahmen der bereits bestehenden Universitäten geschehen, durch zunehmenden Druck der Studentenopposition. Ich sehe keinen anderen Weg, die Herrschaft des falschen Bewußtseins zu brechen.
Sofort kommt natürlich die Anklage: man sei undemokratisch, wolle eine intellektuelle Elite aufbauen, eine Art platonischer Erziehungsdiktatur, oder dergleichen. Da muß ich Ihnen offen gestehen, daß ich nichts Falsches in intellektueller Führerschaft sehe. Ich glaube sogar, daß die weitverbreiteten Ressentiments gegen Intellektuelle in breiten Teilen der Arbeiterbewegung ein Grund dafür sind, warum wir diese Bewegung in so traurigen Bedingungen vorfinden.
Jede Wehrpflicht hat repressiven und reaktionären Charakter. Ich bin ganz Ihrer Meinung.
Ich habe seit 1964 auf die Bedeutung der Studentenbewegung hingewiesen und gesagt, daß nach meiner. Meinung da viel mehr und ganz anderes vorliegt als ein Generationskonflikt, wie er aus unserer Tradition nur zu gut bekannt ist; daß hier wirklich politische Momente aktiviert werden, die in keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse aktiviert sind. Ich habe außerdem darauf verwiesen, daß die Integration der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten am meisten fortgeschritten ist, während sie in Frankreich und Italien immer noch zu einem großen Teil aussteht. Daher war ich nicht überrascht, daß gerade in Frankreich die Studentenbewegung zu einer großen politischen Bewegung auch der Arbeiter geführt hat. Vorausgesehen habe ich sie nicht; ich glaube, es hat sie niemand vorausgesehen. Nicht einmal die Führer der Studentenbewegung haben vorausgesehen, daß nach einer Woche 10 Millionen Arbeiter sich im Streik befinden würden.
Konsequenzen zu der Niederlage
Ich würde es nicht als Niederlage bezeichnen, und zwar deswegen nicht, weil der revolutionäre Stellenwert dieser Bewegung ungeheuer groß ist. Ich möchte sogar behaupten, daß die Maitage 1968 einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung der Opposition im Kapıtalismus darstellen. Sie haben gezeigt, daß eine potentiell revolutionäre Bewegung auch außerhalb der Arbeiterschaft anfangen kann und dann die Arbeiterschaft, oder sagen wir vorsichtig: einen Teil der Arbeiterschaft, mit sich zu ziehen vermag. Es wurde außerdem gezeigt, daß ganz neue Formen der Opposition solchen weitgehenden Erfolg haben können. Es war eine Niederlage nur in dem Sinne, daß sich die Studentenbewegung nicht geradlinig fortgesetzt hat in eine permanente Opposition der Arbeiterklasse; aber wir wissen ja, warum das nicht geschehen ist.
Die Kommunistische Partei und die kommunistischen Gewerkschaften haben die Bewegung abgefangen, sobald sie sahen, daß sie sie nicht mehr kontrollieren konnten, und in dem Augenblick, wo nicht die ökonomischen, sondern die politischen Forderungen der Arbeiter im Vordergrund standen — nicht nur Fabrikbesetzung, sondern auch Selbstverwaltung, ökonomisch wie politisch. Ich glaube, daß es die Aufgabe einer Arbeiterpartei ist — heute mehr denn je —, der Integration der Arbeiterklasse in die bestehende Ordnung entgegenzuwirken, und nicht, wie die Kommunistische Partei und die kommunistischen Gewerkschaften es tun, diese Integration zu verfestigen.
Sie meinen, man sollte solche Niederlagen vermeiden, weil sie zum Defätismus führen. Ich glaube, man kann Niederlagen solcher Art nicht vermeiden. Die Idee, daß ein revolutionärer Prozeß eine Kette von Erfolgen ist, ist ganz unsinnig. Gerade in einer Situation, in der die: Gesellschaft gegen eine radikale Veränderung bewaffnet ist wie nie zuvor, sind Niederlagen unvermeidlich. Wichtig ist nur, einzuschätzen, wann man solche Niederlagen riskieren kann und wann nicht.
Sie meinen die Einsetzung irgendeines Komitees, bestehend aus Studenten und Arbeitern?
Ohne eine solche, wie Sie sagen, Zweitgewalt geht es nicht. Aber auch hier bleibt die Frage: warum ist es nicht dazu gekommen? Wir können nicht einfach sagen: man hätte sie einsetzen sollen. Jedenfalls sollte, wenn sich eine solche Situation wiederholt, für eine solche Zweitgewalt wenigstens Vorsorge getroffen und Aufklärungsarbeit geleistet sein.
Ich müßte ein miserabler Marxist und auch ein miserabler Intellektueller sein, wollte ich annehmen, daß in Zukunft Revolutionen nicht mehr möglich sind. Im Gegenteil, in der gegenwärtigen Periode sind die Widersprüche des Kapitalismus vermutlich größer als je zuvor. Sie sind zwar suspendiert und verwaltet, aber dieser Suspendierung und Verwaltung sind Grenzen gezogen. So glaube ich, daß unsere Periode in der Tat eine objektiv revolutionäre Periode ist. Gerade deswegen sind die bestehenden Systeme bis an die Zähne bewaffnet.
Solche Regulierungen sind da, aber wenn damit gemeint sein soll, daß der gegenwärtige Kapitalismus krisenfest ist — das würde ich verneinen; ein krisenfester Kapitalismus ist kein Kapitalismus mehr. Ich verweise auf die internationale Währungskrise, die keineswegs behoben ist. Das ist ein Krisenfaktor. Der andere ist: falls in Vietnam wirklich Frieden geschlossen werden sollte, würde das zu schweren Unterbrechungen, zu einer Rezession und Depression in der amerikanischen Ökonomie führen. Der dritte Faktor sind die Entwicklungen in der Dritten Welt, die gleichfalls eine schwere Belastung des kapitalistischen Systems darstellen. Viertens: gerade die jetzigen Ereignisse in der Tschechoslowakei deuten auf die äußerst gefährliche Koexistenz der beiden Supermächte hin. All dies zeigt meiner Meinung nach, daß der Kapitalismus durchaus nicht krisenfest ist.
Ich kann ihm nicht zustimmen. Gerade in den letzten Jahren gab es wachsende Schwierigkeiten der Kapitalverwertung und der Profiterhöhung, besonders in den USA. Es hat schließlich gute Gründe, daß die Vereinigten Staaten die Hälfte der französischen Wirtschaft aufkaufen: weil nämlich die Gewinne beträchtlich höher liegen als in den USA. Dieser Imperialismus ist der mächtigste, den die Welt je erlebt hat. Er kann nicht allein durch die Dritte Welt gebrochen werden. Aber diese ist ein entscheidender Faktor im Zusammenhang mit der inneren Schwächung der imperialistischen Mächte, die die Vorbedingung für eine globale Revolution bleibt.
Das mag sein; von der Börse verstehe ich überhaupt nichts und möchte auch nicht zuviel davon verstehen. Aber ich bin geneigt, denjenigen meiner Freunde zu trauen, die mir sagen, daß die Börse heute mit der wirklichen ökonomischen Situation wenig zu tun hat.
Daß hier ein fürchterlicher Kausalzusammenhang besteht, daran kann kaum ein Zweifel sein. Das ist eines der größten Verbrechen der Ersten Welt, des alten und des neuen Imperialismus. Ich sehe nicht ein, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, daß dieser Zusammenhang nicht besteht.
Wenn meine Tante Räder hätte, wäre sie ein Omnibus. Ich meine: wenn der Imperialismus nicht Imperialismus wäre, wäre alles anders. Es ist natürlich eine Friedensökonomie möglich; aber sie verlangt radikale Veränderung, vielleicht sogar Revolution in fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. „Rein wirtschaftlich“ hat der Imperialismus heute in Vietnam nichts zu suchen. Nur: „Rein wirtschaftlich“ gibt es eben nicht mehr. Es geht um vorbeugende Sicherung von Wirtschaftsräumen, Rohstoffquellen, auch politische Sicherung, einfach das vitale Interesse des Kapitalismus, daß potentiell reiche Rohstoffländer, und nicht nur Rohstoffländer, dem Kommunismus nicht in die Hände fallen. Das will man unter allen Umständen verhindern. Hier hängen militärische, politische und wirtschaftliche Momente so eng zusammen, daß der Ausdruck „rein wirtschaftlich“ nicht mehr anwendbar ist.
Die Aufhebung des Leistungsprinzips ist ein Desiderat, soweit damit gemeint ist: Konkurrenz als Existenzkampf unter Bedingungen, wo dies nicht mehr nötig ist und nur der Erhaltung eines repressiven Systems dient. Aufhebung des Leistungsprinzips in diesem Sinn ist ein wesentliches Merkmal einer wirklich sozialistischen Gesellschaft, zum Unterschied von allen Klassengesellschaften. Daß diese Forderung heute nicht durchgeführt ist, erklärt sich größtenteils aus der Konkurrenz („Ko-Existenz“) der beiden Supermächte, die eine dauernde Aufrüstung in beiden Lagern erfordert und jede Transformation der nominell sozialistischen Gesellschaften in freie Gesellschaften unmöglich zu machen scheint.
Sozialistisch = unrationell?
Rationalität und Effektivität sind keine absoluten Begriffe, sondern bedeuten zunächst einmal: Rationalität und Effektivität im Rahmen des bestehenden Systems. Jede radikale Veränderung würde natürlich diese Rationalität und Effektivität verletzen. Es fragt sich nur, ob solche Verletzung, d.h. Verletzung der repressiven Rationalität und Effektivität, nicht wirklicher Fortschritt ist.
„Individuelle Interessiertheit“ ist mir ein zu abstrakter Begriff. Sie kann hervorgerufen werden durch Prämiensysteme, durch „Incentives“, wie in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern; sie kann aber auch die Folge wirklicher Solidarität sein, Folge der Zusammenarbeit freier Menschen, von denen jeder ein individuelles Interesse hat, das dem Interesse der anderen nicht mehr antagonistisch entgegensteht.
Die Dritte Welt ist so mittelbar mit dem brutalen Problem beschäftigt, einfach das Leben zu erhalten, daß wir nicht fragen sollten, ob sie genug tut, um die Protestbewegung in der Ersten Welt zu unterstützen. Wir sollten alles tun, um die Dritte Welt zu unterstützen.
Gewiß, aber das ist eine Folge der konkurrierenden Koexistenz der beiden Supermächte. Bevor nicht etwas in diesen Mächten geschieht, wird es in der Dritten Welt nicht anders aussehen. In diesem Sinn hat Marx recht, daß die entscheidende Veränderung in den entwickelten Ländern sich ereignen muß. Nur dann ist eine wirkliche, dauernde und erfolgreiche Unabhängigkeit der Dritten Welt vorstellbar.
Das ist eine der Niederlagen, die beinahe selbstverständlich sind und die eben zu Neubesinnung und besserer Vorbereitung führen werden. Es handelt sich nicht so sehr um Akzentverschiebung, als darum, einzusehen, daß nur aus einem Zusammenwirken der Dritten Welt mit den Oppositionskräften der Ersten Welt etwas herauskommen kann.
Ich kann mich hier auf den alten Satz zurückziehen — ich weiß nicht genau, ob von Marx oder Engels: daß Revolutionen immer genauso gewalttätig sind wie die Gewalt, der sie begegnen. Aus dem Begriff der Gewalt entwickelt sich heute eine semantische Ideologie. Man nennt nicht Gewalt, was in Vietnam geschieht, man nennt nicht Gewalt, was von der Polizei getan wird, man nennt nicht Gewalt die Verheerungen, Folterungen, Erniedrigungen, die täglich im Kapitalismus vorkommen man beschränkt den Ausdruck „Gewalt“ auf die Opposition. Für mich ist es heuchlerisch, wenn man die Gewalt der Verteidigung mit der Gewalt der Aggression in einem Atem nennt. Die beiden sind ganz verschieden.
Keine. Es ist eines der schönsten Anzeichen dieser neuen Bewegung, daß sie nicht auf andere angewiesen ist, nicht auf Autoritäten, die ihr „mots d’ordre“ geben, sondern daß sie ihre „mots d’ordre“ selbst im Kampf herausfindet.
Herbert Marcuse ist Professor für Philosophie an der University of California in San Diego, Mitglied unseres internationalen Redaktionskomitees. — Henrich von Nussbaum ist Mitherausgeber des Bochumer „Kritischen Katholizismus“.
