Rezensionen zur Rezeption des ArmenierInnen-Genozids
Rolf Hosfeld: Operation Nemesis
Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern (KiWi 2005)
Ein ebenso notwendiges wie aufwühlendes Geschichtswerk — das Panorama eines Schreckens, der bis dahin nichts seinesgleichen hatte.
Ralph Giordano
Unter „Operation Nemesis“ verstand man die Racheaktionen bewaffneter armenischer Gruppierungen an den politisch Verantwortlichen und Vollstreckern des
Völkermords. Insofern ist der Titel des Buches nicht allzu glücklich gewählt, da sich das Buch nur am Rande — quasi als Pro- und Epilog — mit diesen Ereignissen beschäftigt. Dazwischen liefert es eine gut lesbare Gesamtdarstellung der damaligen Ereignisse, inklusive einer detaillierten Vorgeschichte und einem aktuellen Bezug zu den Diskussionen rund um die nicht erfolgte Anerkennung des Völkermords durch die EU-beitrittswillige Türkei. Das Buch eignet sich dadurch einerseits hervorragend für Einsteiger in die Materie, bietet aber mit seiner Detailfülle auch für „Fortgeschrittene“ einiges Neue. Einziger Kritikpunkt, neben dem Titel, der eigentlich zu wenig verspricht, sind die oft etwas gezwungen wirkenden Vergleiche mit der Shoah bzw. die völlig überflüssige Verwendung von NS-Ausdrücken wie „Endlösung“ oder gar „Kristallnacht“ bei der Beschreibung des Völkermords an den Armenierinnen.
Armenien: Der verdrängte Genozid
INAMO Nr. 43 (Herbst 2005)
Auch die INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten) aus Nürnberg widmet dem Völkermord eine Schwerpunktausgabe mit einer Reihe von Artikeln: Tessa Hoffmann schreibt über das Verhältnis des heutigen Armenien zu seiner Diaspora; Corry Gorgü über Völkermord-leugnende Historiker in türkischen Diensten; Toros Sakarian über die Debatte rund um die (Nicht-)Anerkennung des Völkermords in Deutschland; auch der Schweizer Armenien-Spezialist Hans-Lukas Kieser steuert einen ausgezeichneten Artikel zum „nationalen Traumbild Armenien“ bei. Aus der Reihe sticht ein Beitrag von George Hintlian, „Die israelische Debatte über den Völkermord an den ArmenierInnen“. Der Text setzt quasi voraus, dass die moralischen Standards für Israel immer höher anzulegen sind als für andere Länder — wissenschaftliche Standards für Israel-Kritiker dafür immer niedriger. Hintlian geht es darum ... ja worum geht es ihm eigentlich? Offenbar geht es ihm darum, nachzuweisen, dass eine „jüdische Lobby“ in den USA und anderswo versucht, die Anerkennung des Völkermords an den ArmenierInnen zu hintertreiben. Als Beweise führt Hintlian, der großzügigerweise gänzlich auf Fußnoten und Quellenangaben (es sei denn, „nach türkischen Presseberichten“ wird als Quellenangabe verstanden ...) verzichtet, eine Reihe von Aussagen israelischer Politiker an, zumeist Zitate aus der in Israel seit rund 30 Jahren andauernden Debatte um den Völkermord. Dazu kommen sehr unwahrscheinliche Behauptungen von wegen in Israel verbotener Filme über die ArmenierInnen-Verfolgung oder etwa, dass außer Armenien und Japan alle Länder zur Eröffnung eines neuen Flügels in Yad Vashem 2005 eingeladen wurden. Zutreffend ist sicherlich, dass sich einige israelische PolitikerInnen die Türkei als einzigen militärischen und geheimdienstlichen Verbündeten in der Region nicht vergrämen wollen und deshalb die Finger von diesem Thema lassen. Die Situation ist aber etwas komplexer: Hier sollte man die Beziehungen Israels zu Aserbaidschan und die Armeniens zum Iran erwähnen, was Hintlian nicht tut. Diese spielen jedoch eine wesentliche Rolle im Verhältnis der Staaten zueinander: Israel ist der zweitgrößte Importeur aserbaidschanischer Produkte (siehe DTV-Jahrbuch 2005, S. 174); vor allem dringend benötigter Erdölprodukte. Die Armenien-Feinde Türkei und Aserbaidschan sind also wichtige Partner Israels; während der Israel-Feind Iran wiederum der einzige Partner Armeniens in der Region ist ... Israel und Armenien befinden sich also in einer ähnlich verzwickten geopolitischen Situation, beide sind von feindseligen bis vernichtungswilligen Staaten umgeben, beide können die Wahl ihrer Verbündeten nicht unbedingt nach „moralischen“ Gesichtspunkten treffen; beide können es sich nicht leisten, ihre Partner zu brüskieren. Im Großen und Ganzen ist Hintlians Artikel sicher der Schwachpunkt der ansonsten wirklich lesenswerten Armenien-Artikel. Der Rest dieser INAMO-Ausgabe ist dann allerdings, neben Artikeln zu Usbekistan und Malta, wiederum dem Anschreiben gegen die Gemeinheiten Israels und — sie haben es erraten — der „jüdischen Lobby in den USA“ gewidmet ...
Taner Akcam: Armenien und der Völkermord
Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung (Hamburger Edition 2004)
Auch hier wäre der Untertitel als Haupttitel passender, denn der dort versprochenen allgemeinen Darstellung der Ereignisse widmet der türkische (in den USA lebende) Soziologe Taner Akcam gerade mal 70 Seiten, ebensoviel wie den Anmerkungen und der Bibliographie. Der größte Teil des 430 Seiten starken Werkes ist den Prozessen gewidmet, die auf Druck der Entente in den Jahren 1919-1921 gegen führende türkische Politiker wegen Beteiligung am Völkermord durchgeführt wurden. Es waren die ersten Versuche, eine Art internationale Gerichtsbarkeit durchzusetzen und sie verdienen angesichts der aktuellen Prozesse gegen mutmaßliche jugoslawische und irakische Kriegsverbrecher besondere Bedeutung. Damals scheiterten die „Istanbuler Prozesse“ weitestgehend am Unvermögen der türkischen Justiz und dem zunehmenden Unwillen der westlichen Alliierten, weiter Druck hinsichtlich einer Klärung des Völkermordes auszuüben. Die wenigen — zumeist in Abwesenheit der Angeklagten — gefällten Urteile wurden größtenteils nach der Machtergreifung Mustafa Kemal „Atatürks“ wieder aufgehoben und so mancher verurteilte Mörder brachte es noch zu Ministerehren ...
Wolfgang Gust (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16
Dokumente aus den politischen Archiven des deutschen Auswärtigen Amts. (Zu Klampen 2005)
„Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ Das Zitat des damaligen deutschen Kanzlers Bethmann-Hollweg wird am Backcover dieses in Inhalt und auch Aufmachung beeindruckenden Werkes kommentarlos wiedergegeben; es spricht für sich, für die Untätigkeit, ja fallweise Partnerschaft Deutschlands bei der Vernichtung der ArmenierInnen im Osmanischen Reich. Die von Sigrid und Wolfgang Gust zusammengetragenen Schriften vor allem deutscher Diplomaten, Offiziere, Handelsreisender, geistlicher und sonstiger Zeugen des Genozids, stellen die derzeit kompletteste Dokumentation zum Thema dar. Deutsche Staatsangehörige hatten als Verbündete des Osmanischen Reiches nahezu uneingeschränkte Bewegungsfreiheit und durften nach Hause berichten, ohne von der osmanischen Zensur behelligt zu werden, eine Möglichkeit, die weder die bis 1917 neutralen US-Amerikaner noch die verbündeten Österreicher genossen. Dies Buch versteht sich als späte Komplettierung und Richtigstellung der von Johannes Lepsius 1920 herausgegebenen Aktensammlung „Deutschland und Armenien“, die unvollständig und teilweise sogar verfälscht war, um die Deutschen von ihrer Mitverantwortung rein zu waschen.
Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Diaspora, Öl und Rosen
Zur innenpolitischen Entwicklung in Armenien, Aserbaidschan und Georgien. (Heinrich-Böll-Stiftung 2004)
Ein Sammelband der den deutschen Grünen nahe stehenden Heinrich-Böll-Stiftung mit 20 Beiträgen, fast ausschließlich von AutorInnen aus der Region. Wer sich mit der aktuellen Situation im Kaukasus beschäftigt, wird an diesem Buch nicht vorbei kommen: derzeit ist in deutscher Sprache kein vergleichbares Werk erhältlich. Die AutorInnen bearbeiten ein breites Spektrum demokratie- und sozialpolitischer Themen, von den noch üblichen Unregelmäßigkeiten bei Wahlen — aktuelles Beispiel Aserbaidschan diesen November — bis hin zu den vielfach noch zu erkämpfenden Rechten für Frauen und „Minderheiten“. Nur den territorialen Konflikten der Region, also um Berg Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan und die sich von
Georgien als unabhängig verstehenden Gebiete Abchasien und Süd-Ossetien, hätte etwas mehr Platz eingeräumt werden können.
Huberta von Voss (Hg.): Porträt einer Hoffnung. Die Armenier
(Schier2005)
Denkt man an ArmenierInnen, denkt man an Völkermord, den Krieg um Berg Karabach und vielleicht noch an das Erdbeben von 1988, bei dem in etwa jedeR fünfzigste EinwohnerIn Armeniens den Tod fand. An Hoffnung denkt man nicht unbedingt. Das von Huberta von Voss herausgegebene Buch belehrt uns eines Besseren, denn über Armenien und die ArmenierInnen gibt es noch mehr zu erzählen. Nach einem berührenden Geleitwort des ehemaligen Direktors von Yad Vashem, Yehuda Bauer, besorgen Armenien-KennerInnen wie Wolfgang Gust, Taner Akcam und Tessa Hoffmann die geschichtliche Einführung. Der größte Teil des Buches besteht aus Porträts von ArmenierInnen, zumeist Notabeln aus Politik, Kirche, Kunst, Diplomatie, vom Chansonnier Charles Aznavour bis zum Karabach-Veteran Levon Arutunyan spannt sich da der Bogen, wobei der Diaspora-Anteil klar überwiegt — leben doch mittlerweile fast 3/4 der ArmenierInnen nicht in Armenien.
Alles in allem gelingt den zahlreichen AutorInnen ein Einblick in ein Land und seine Diaspora, der kaum zu wünschen übrig lässt. Egal ob Werfels Buch „Die 40 Tage des Musa Dagh“ oder Atom Egoyans Film „Ararat“ oder Reportagen über die armenischen Viertel in Jerusalem oder Beirut, kein relevantes Thema geht in diesem Band ab. Und letzten Endes sind es die durchgehend versöhnlichen und ruhigen Töne, die hier angeschlagen werden, die dem Titel des Buches doch seine Rechtfertigung geben.
Hans-Lukas Kieser/Dominik J. Schalter (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah
The Armenian Genocide and the Shoah. Chronos Verlag (Zürich, 2002)
Bereits 2002 erschien im Chronos-Verlag ein Sammelband, der sich eingehend mit dem Zusammenhang zwischen dem Genozid an den ArmenierInnen im Osmanischen Reich und der Shoah auseinandersetzt. Die Beiträge befassen sich nicht nur mit dem Genozid selbst, sondern versuchen auch einen Vergleich zwischen dem Genozid von 1915 und der Shoah zu ziehen. Dabei werden jedoch nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch Unterschiede herausgearbeitet. Themen wie die jüdischen und zionistischen Reaktionen auf den Genozid oder „Arab Nationalists, Nazi-Germany and the Holocaust“ ergänzen den Band. Auch wenn sich Autoren und Herausgeber der Gefahr einer allzu raschen Parallelisierung bewusst sind, so sind manche Beiträge, die sich in den Bereich der „vergleichenden Genozidforschung“ begeben, doch insofern problematisch, als sie nicht immer den spezifisch deutschen (und österreichischen) Sonderweg der deutschen Nationalstaatsbildung mitdenken ohne den zwar der Antisemitismus, nicht aber die industrielle Massenvernichtung denkbar ist. Das über 600 Seiten starke Buch bleibt jedoch mit seiner Fülle an Beiträgen eine der wichtigsten Fundgruben zu diesem Thema und ist damit sowohl Fundgrube für weitere Debatten als auch Standardwerk für all jene die sich insbesonders aus einer deutschsprachigen Perspektive mit dem Genozid an den ArmenierInnen auseinandersetzen wollen.
