FORVM, No. 176-177
August
1968

Schändung der Sowjetunion

Unser Gewissen drängt uns, die unterzeichneten österreichischen Kommunisten, in aller Klarheit zum Moskauer Abkommen und der sogenannten „neuen Realität“ in der ČSSR Stellung zu nehmen.

In Moskau wurde kein Vertrag zwischen gleichen Partnern abgeschlossen. Es war ein Diktat, eine Erpressung an den der Freiheit beraubten Führern und an den Völkern der ČSSR.

Der 21. August 1968, der Tag der unprovozierten Aggression der UdSSR und der anderen vier Warschauer-Pakt-Staaten gegen die sozialistische Tschechoslowakei, wird für immer als ein Tag der Schändung der sozialistischen Ideale in die Geschichte eingehen. Daraus müssen wir Konsequenzen ziehen.

Die sowjetische Okkupation der ČSSR ist ein unerhörter Treu- und Rechtsbruch. Die Kommunisten und das Volk der ČSSR haben deshalb aufgehört, die Organisatoren und Propagandisten des Überfalls — das sind die Führer der KPdSU — als Freunde und Genossen anzusehen.

Die Aggression, die Okkupation und die dem Moskauer Diktat folgenden Maßnahmen der UdSSR haben ein Hauptziel: die gewaltsame Verhinderung der unter der Führung der KPTsch stehenden Demokratisierungs- und Erneuerungsbewegung in der ČSSR.

Wir österreichischen Kommunisten können sehr gut beurteilen, wie heuchlerisch die Behauptungen von der akuten Gefahr einer Konterrevolution sind. Der Gegenbeweis ist die entschiedene Haltung der Tschechen und Slowaken, die auch in den schwersten Tagen mutig, diszipliniert und geschlossener denn je hinter der KPTsch und deren Führung unter Alexander Dubček gestanden sind.

Leider erweist sich gerade die Okkupation der ČSSR durch die fünf Warschauer-Pakt-Länder mit jedem Tag deutlicher als Schützenhilfe für die internationale Konterrevolution. Dieser Schritt, Ausdruck einer prinzipienlosen Großmachtpolitik rückständig-autoritärer Kräfte in der UdSSR, ist ein Schlag gegen den Weltfrieden, gegen die Sicherheit Europas, gegen die Sache des Sozialismus und gegen den revolutionären Freiheitskampf in der ganzen Welt und widerspricht damit auch den vitalen Interessen der Sowjetunion.

Was die Propagandamaschine des Monopolkapitals und die Wühlarbeit der CIA und der Bonner Revanchisten nicht zustande gebracht haben — das Abenteuer der fünf Warschauer-Pakt-Staaten hat es erreicht: Heute schon hat es den ärgsten Feinden des Sozialismus Argumente geliefert; mit jedem Tag der Besetzung der ČSSR gewinnen sie an Wirksamkeit.

Die Reaktionäre in aller Welt jubeln über das moralisch-politische Harakiri der Warschauer Fünf. Sie erheben den Ruf nach neuer Aufrüstung, nach Stärkung der NATO. Heute schon hat das Moskauer Diktat die Chancen Nixons erhöht. Es hat den weltweiten Widerstand gegen die Eskalation des Krieges in Südostasien, der das vietnamesische Volk mit Ausrottung bedroht, erheblich geschwächt.

Was sind die politischen und geistigen Wurzeln solcher sowjetischen Entscheidungen? Wir sind zutiefst überzeugt, daß sie in dem in der Sowjetunion herrschenden nachstalinistischen System zu suchen sind, das heute zum mächtigsten Bremsklotz jeder echten demokratischen Weiterentwicklung in der UdSSR und im ganzen sozialistischen Staatensystem geworden ist. Die Führung der KPdSU hat aufgehört, ihre Politik auf marxistischen Grundsätzen aufzubauen. Sie läßt sich vorwiegend von machtpolitischen Erwägungen leiten. Das Sowjetvolk, das so viele Opfer für die Befreiung Europas vom Faschismus gebracht und durch seine Aufbauleistungen die Anerkennung der ganzen Welt gefunden hat, verdient es nicht, daß sein guter Name von einer entarteten Führung so geschändet wird, wie es durch die Aggression gegen ein sozialistisches Land geschieht.

Keine Illusionen!

Echte Freunde der Sowjetunion und ihrer Völker sind nicht jene, die zu offenkundigen Fehlern und Verbrechen der sowjetischen Führung ja und amen sagen. Eine grundsätzliche Analyse und Kritik wurde im Namen der Einheit der kommunistischen Bewegung unterlassen. Die jüngsten Ereignisse zeigen, daß die Einheit nicht durch den Verzicht auf grundsätzliche Auseinandersetzungen erkauft werden kann. Kehren nicht in diesen Tagen in den jetzigen Anklagedokumenten gegen die KPTsch wortwörtlich dieselben Phrasen wieder, die wir als Begleitmusik zu sämtlichen Schauprozessen, zur seinerzeitigen Ausstoßung des sozialistischen Jugoslawien usw. gehört haben?

Wir sind der Ansicht, daß nur die kompromißlose Feststellung der Wahrheit über den Charakter der sowjetischen Führung den Weg zur Klärung in der internationalen Arbeiterbewegung und zu einem neuen Beginnen bahnen kann; dies wird Millionen Kommunisten zu Bewußtsein bringen, daß nur eine radikale Abkehr von überholten Denkschemen und Methoden die Vollendung der im ruhmreichen Oktober 1917 begonnenen sozialistischen Revolution ermöglicht.

Wir haben keine Illusionen über die Schwierigkeiten dieses Prozesses innerhalb der kommunistischen Parteien, einschließlich unserer Partei.

In ihrem Neubeginnen wird die kommunistische Bewegung in den Augen der Volksmassen nur dann glaubwürdig sein, wenn sie kompromißlos für gleichberechtigte Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern und zwischen den Kommunistischen Parteien einsteht und jede Vorherrschaft einer Macht oder einer Partei ablehnt — und dies nicht nur in Worten. Sie kann nicht die an der Aggression beteiligten Parteien auf eine Stufe mit dem Opfer dieser Aggression stellen; sie muß Solidarität mit diesem Opfer üben; sie muß für eine tatsächlich vom Volk ausgeübte politische Demokratie als Grundlage des Sozialismus einstehen; sie darf daher nicht versuchen, das Fehlen dieser Demokratie in der UdSSR und in anderen sozialistischen Staaten zu beschönigen.

Wir haben die Entwicklung in der ČSSR nach dem Januarplenum der KPTsch als große Chance der Erneuerung des Sozialismus begrüßt. Wir empfinden es als Hohn, wenn die „Normalisierung der Verhältnisse“ als Vorbedingung für den Abzug der Besatzungstruppen verlangt wird. Die unerläßliche Vorbedingung für eine Normalisierung ist der unverzügliche Abzug aller fremden Truppen aus der ČSSR, wie ihn das ZK der KPÖ und andere kommunistische Parteien gefordert haben.

Daraus ergibt sich für uns Kommunisten die Pflicht, die volle Wahrheit über das Okkupationsregime in der ČSSR auszusprechen; über die Eingriffe in das innere Leben der Partei und des Staates, die Beschlagnahme der Radio- und Fernsehsender, die Unterbindung der Presse- und Redefreiheit, die Verhaftungen und die Bedrohung von Leib und Leben aufrechter Patrioten und treuer Genossen.

Ohne Wahrheit gibt es kein neues Beginnen.

Die Wahrheit wird siegen!

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