FORVM, No. 428/429
August
1989

Sprachliche Risikovernichtung

I. T., geborene Wienerin, gelernte & ausübende Physikerin, lebt in Buxtehude und beschreibt am Beispiel der „Kernreaktoren“ die moderne Technik, technische Gefahren sprachlich zu entrisken.

Probabilistic risk assessment PRA —, in der abkürzungsidentischen Verdeutschung „Probabilistische Risikoanalyse“, würde in einer genaueren Übersetzung vielleicht mit „Untersuchung der vermuteten Gefährdung“ zu bezeichnen sein, — damit ginge aber der Hinweis auf den mathematischen Gehalt, eben die Wahrscheinlichkeitsrechnung, verloren, und gerade der ist für den eigentlichen Zweck solcher Analysen enorm wichtig: es geht ja um den Nachweis von Sicherheit für eine Technologie, die nach Harrisburg und Tschernobyl noch stärker in den Verdacht gekommen ist, doch gefährlich zu sein. Es ist einleuchtend, daß eine Formulierung, die impliziert, es würde Gefahr vermutet, man müsse untersuchen, wie groß das Wagnis sei, nicht in ein Konzept paßt, das von der unverzichtbaren Nutzung der Kernenergie ausgeht.

Es geht den Auftraggebern solcher Untersuchungen jeweils um die Rechtfertigung der politischen Entscheidung, die Kerntechnik zu fördern, trotz bekanntgewordener Störfälle, Unfälle usw. Da es nun offenbar Störfälle, Unfälle, — die „Ereignisse“ oder „Vorkommnisse“ genannt werden — gibt, ist Sicherheit nur mehr über den Umweg einer „sehr unwahrscheinlichen Unsicherheit“ zu begründen, man hat den Begriff „Restrisiko“ erfunden, der dann auch noch als ethisch vertretbar bezeichnet wurde.

Der führende Reaktorsicherheitsexperte der BRD, Prof. Birkhofer, war noch 1966 der Meinung, die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung zur Prognose von Reaktorunfällen sei eine bloße Modeerscheinung (Radkau 361).

Die Bezeichnung „Restrisiko“ soll vermitteln, man habe jegliches Risiko bis auf einen kleinen — vernachlässigbaren — Rest eliminiert, — ebenso deutet die Formulierung „größtmögliche Sicherheit“ auf einen nur mehr vernachlässigbar kleinen Schritt bis zur 100%igen (= absoluten) Sicherheit. Beides hat zur Folge, daß katastrophales Versagen im Rahmen „der praktischen Vernunft“ ausgeschlossen wird.

Politiker und Mitglieder der Atomgemeinde mit weniger sprachlicher Vorsicht erklären dann katastrophales Versagen gleich als unmöglich. Erst nach Tschernobyl und dem Bekanntwerden des tatsächlichen Unfallausmaßes in Calder Hall, das von der britischen Regierung jahrzehntelang verschwiegen worden war, haben die Verantwortlichen der Kernindustrie und die sie fördernden Politiker die Redewendung, es gäbe keine 100%ige Sicherheit in technischen Anlagen, in ihre Argumentation eingebaut, — dazu muß aber dann das verbleibende Restrisiko sehr klein und damit selbstverständlich akzeptabel wirken.

Die sprachliche Eingrenzung auf einen solchen erträglichen Rest, dessen eigentliche Quantifizierung in Form einer mathematisch definierten Größe schon durch die angewandte Wortwahl nahezu überflüssig erscheint, soll die Normalität einer solchen Restgefährdung nahelegen. Der zahlenmäßige Wert des Restrisikos wird im Allgemeinen gar nicht erst genannt, was durch den vom Wort her implizierten Minimalcharakter nicht als Mangel empfunden wird, eben als bedeutungslos erscheint.

Nur selten oder auf Nachfrage wird das Restrisiko mit der Zahl 10-6 quantifiziert, was angibt, daß die Eintrittswahrscheinlichkeit der jeweiligen Gefahr 1 zu 1 Million ist. Daß gerade dieser Wert gewählt wurde, mag an der relativ einfachen Formulierung — die Million ist eben so handlich, so geläufig — liegen, oder an der uralten Vorliebe für das 6er-System, oder aber an der Wahrscheinlichkeit, daß dieser Wert gerade noch glaubhaft, aber doch schon als unvorstellbar klein empfunden wird ...

In einer VDI-Dokumentation über Tschernobyl (Februar 1987) stellen die Professoren H. Sinn (Technische Chemie) und W. Zimmerli (Philosophie) zur moralischen Verantwortbarkeit der Kernenergie Überlegungen an und kommen zu dem Schluß,

es läßt sich ethisch nicht begründen und ist daher moralisch nicht verantwortbar, solche Kernenergie-Techniken weiterhin zu präferieren, die Gefährdungspotentiale wie Core-Schmelze nicht grundsätzlich ausschließen und bei denen die Frage der Entsorgung bzw. Endlagerung nicht so geklärt ist, daß zukünftigen Generationen die Möglichkeit bleibt, sich davon wieder zu trennen.

Eigentlich klingt das eindeutig, gleich danach wird aber ausgeführt, daß im Rahmen einer Übergangszeit ein Bruch der moralischen Verantwortung in Kauf zu nehmen sei, um in Zukunft sich wieder der Moral zuwenden zu können:

Durch eine in diesem Sinn bloß vorübergehende Nutzung der Kernenergie werden bedrohliche Auswirkungen bisheriger Energiefreisetzungstechniken zumindest nicht proliferiert, und es wird ein Wohlstand erhalten, der die Entwicklung von Solar- und Wasserstofftechnologie ermöglicht, die die Verfasser für die Energie der Zukunft halten.

Man setzt demnach die Welt eben für eine Weile einer unverantwortbaren und daher unmoralischen Gefährdung aus, damit diese dann, falls sie — selbstverständlich in Wohlstand — der Katastrophe entgeht und sich eine Technologie zusammengebastelt hat, die verantwortbar und damit moralisch ist, mit gleichsam entlastetem Gewissen einer weiteren Steigerung des Wohlstands hingeben kann.

Trotz der Relativierung handelt es sich dennoch um recht kritische Töne. Dagegen berichtet die Zeitschrift „informationen“ der IHK Stade in ihrer Ausgabe 6/86 (S. 3), der Vorstand der Preußen Elektra Dr. H. Krämer habe gesagt, in der Bundesrepublik sei das Restrisiko nach höchstrichterlicher Entscheidung vernachlässigbar im Vergleich zu den allgemeinen Lebensrisiken.

In gleichlautenden Großanzeigen am 2.7.1986 in den Zeitungen „FAZ“ (S. 6), „Die Welt“ (S. 5), „Süddeutsche Zeitung“ (S. 6), „Frankfurter Rundschau“ (S. 7), geht die KWU (Kraftwerksunion) besonders originell mit der Verantwortungsproblematik um:

Es wird die Frage nach der Verantwortbarkeit der Kernenergie gestellt. Wir stellen die Frage: Ist es verantwortbar, die Kernenergie nicht zu nutzen?

Selbstverständlich war diese Frage nach Tschernobyl für die Kraftwerkshersteller eine existentielle Frage, verschärft durch die Verunsicherung der eigenen Mitarbeiter, die ja nicht nur eigenen Ängsten, sondern auch noch denen der Nachbarn, Bekannten etc. ausgesetzt waren.

In einem Informationsheft (auf Glanzpapier natürlich) des Informationskreises Kernenergie (Bonn, 1988) wird unter der Überschrift

Beherrschung von Störungen durch kritische Vorausplanung

auch der Fall von Kernschmelzen behandelt (S. 23):

... Die Wahrscheinlichkeit, daß ein solcher Unfall bei einem Kernkraftwerk in der Bundesrepublik eintritt, ist ähnlich gering wie der Absturz eines großen Meteors. Die meisten Menschen gebrauchen im Alltag Worte wie ‚nie‘ oder ‚ausgeschlossen‘ für solche ‚Un‘-Wahrscheinlichkeiten.

Hier wird interessanterweise die Möglichkeit von Kernschmelzunfällen vom Autor nicht ausgeschlossen, wohl aber über den Alltagssprachgebrauch der „meisten Menschen“ zu einem vernachlässıgbaren Restrisiko und letztlich ganz eliminiert. Der Autor entzieht sich einer nicht haltbaren Aussage, schiebt die Verantwortung für die unvermeidliche Interpretation der Ungenauigkeit der Alltagssprache zu. Der gesunde Menschenverstand soll den Schluß ziehen, alles sei in Ordnung. Offenbar soll die Gewöhnung der „meisten Menschen“ im Alltag an Gefahren mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit (wie z.B. Gefahren aus dem Kosmos!) bis hin zu deren Ignorierung als normaler Vorgang gekennzeichnet werden, woraus dann eine Berechtigung für die Verantwortlichen resultiert, katastrophale Unfälle im Rahmen „der praktischen Vernunft“ auszuschließen.

Der Autor wendet dieses Verfahren auch weiter an: er beschreibt die objektive Gefahr beim Kernschmelzunfall und behauptet dann ohne die geringste Einschränkung, daß der Sicherheitsbehälter die freigesetzten radioaktiven Materialien zurückhalte, als wäre die 100%ige Sicherheit dieser Behälter eine völlig selbstverständliche und unbezweifelbare Tatsache. Daraus folgert er dann:

Eine katastrophale Freisetzung von radioaktiven Materialien in der Atmosphäre ist damit bei unseren Reaktoren selbst bei einem Kernschmelzen nicht zu erwarten.

Das allerdings ist nun wieder sehr erstaunlich, denn dem Autor konnte doch nicht das aufsehenerregende TÜV-Gutachten über das Standhalten der Sicherheitshülle im Fall von Kernschmelzen aus dem Jahr 1985 entgangen sein, in dem der TÜV mit einem Überdruckversagen der Sicherheitshülle bei Druckwasserreaktoren nach 5-6 Tagen und bei Siedewasserreaktoren nach 3-21 Stunden nach „Eintritt des Ereignisses“ rechnet. Das „Ereignis“ ist der „hypothetische Störfall“ Kernschmelze. Da der TÜV weder als besonders pessimistisch noch als Kernkraft-feindlich anzusehen ist, erscheint die demonstrierte Sicherheit „unserer Reaktoren“ in der Informationsschrift aus dem Jahr 1988 doch sehr unverständlich.

Den PRA-Studien fällt die Aufgabe zu, Eintrittswahrscheinlichkeiten für bestimmte Störfallszenarien auszurechnen, d.h. Abläufe von Funktionsfehlern, Materialfehlern, Systemfehlern, die sich summieren, überlagern, verstärken, die selbstverständlich alle nicht vorkommen sollen, aber bekannterweise doch erfolgen oder zumindest denkbar sind. Ventile können klemmen, Pumpen können ausfallen, Rohre können lecken oder gar abreißen, Blitzschlag kann die Stromversorgung unterbrechen usw. usw.

Natürlich sind z.B. die Ventile mehrfach abgesichert, wenn eine Pumpe ausfällt, soll die nächste anspringen (Redundanz), man hat sogar daran gedacht, möglichst unterschiedliche Geräte zu verwenden, damit nicht ein gemeinsamer Fehler alle nacheinander geschalteten „Reservesysteme“ in Folge lahmlegt. Dennoch kann aber z.B. eine Pumpe in Reparatur sein, eine andere könnte defekt werden, die dritte muß aber dann verfügbar sein, zusätzliche Komplikationen sollten in diesem Fall dann nicht dazukommen — aber jeder kennt diese Ausnahmefälle: eins kommt zu anderen, die unglaublichsten Vorgänge überlagern sich, man verliert schließlich auch noch die Nerven.

Der vielzitierte Risikofaktor Mensch, unberechenbar, nicht nur in seiner Ausfallswahrscheinlichkeit oder Fehlreaktion unvorhersagbar, sondern auch noch wegen der Vielfalt seiner möglichen Einfälle in einer kritischen Situation ein unabsehbarer Störfaktor. Es ist ihm alles zuzutrauen, wie die relativ kurze Reaktorunfallstatistik schon ausweist: bei allen schwerwiegenden Unfällen war der Mensch zumindest an der Verschärfung der kritischen Lage beteiligt.

Schon für den schweren Unfall 1961 im Siedewasserreaktor SL1 (Idaho Falls) wurden Familienstreit-belastete Operateure verantwortlich gemacht (Radkau S. 363). Harrisburg, Tschernobyl, der verspätet bekannt gewordene Biblis-Störfall sind nur die bekanntesten Beispiele für den menschlichen Beitrag zur Katastrophenauslösung.

Eine Quantifizierung des menschlichen Fehlverhaltens in einer kritischen Situation muß als aussichtsloses Unterfangen erscheinen: die Vielfalt individueller charakterlicher Eigenheiten, beeinflußt durch privates Erleben, durch körperliches Befinden, durch Aufmerksamkeit-ablenkende Erfahrungen wie erschreckende oder begeisternde Informationen, Träume, intellektuelle Grübeleien usw., die möglichen Komplikationen in der Zusammenarbeit solcher „belasteter“ Individuen, im Ernstfall verschärft durch hierarchische Auseinandersetzungen, sachliche Meinungsverschiedenheiten, Entscheidungsträgheit, diverse Ängste usw. usw. Beliebig sich aufschaukelnde Wechselwirkungen sind denkbar.

Den berühmten „schlechten Tag“ könnte aber auch jemand bei Wartungsarbeiten haben, z.B. einer, der alle Ventile überprüft, Pumpen zusammenbaut (in Brokdorf fehlten jahrelang unbemerkt Dichtungsringe bei den Reservepumpen).

Selbst wenn man die Berechnung der Eintrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten durch den Ausfall technischer Geräte bedingten Störfalls als richtig annähme, wäre das Ergebnis unrichtig durch die Vernachlässigung der menschlichen Eingriffsmöglichkeit, angefangen von Planung, Herstellung, Prüfung, Wartung, Betrieb bis zur Handhabung unvorhergesehener Situationen.

Die Festlegung von Abläufen solcher „hypothetischer Störfälle“, die den Rechnungen zugrunde gelegt werden, ist für sich gesehen eine Art Lottogriff in einen Riesenkorb mit möglichen Kombinationsmöglichkeiten möglicher Fehler.

Bei den bisherigen Unfällen traten immer Verhaltensweisen oder Defekte auf, zu denen es hieß, daß so etwas undenkbar gewesen sei. Für jeden solchen gewählten Störfallablauf müssen dann die Einrrittswahrscheinlichkeiten der in Betracht gezogenen Defekte, Fehlfunktionen, Ausfälle usw. abgeschätzt und deren Überlagerungen über Fehlerbäume berechnet werden. Wie viele unüberprüfbare Annahmen in dieses Verfahren einfließen, kann auch der Laie erahnen. Jedes solche Ergebnis setzt außerdem voraus, daß alle anderen Systemteile einwandfrei arbeiten und die Belegschaft fehlerlos agiert und reagiert. Anhand eines Beispiels soll die Vorgangsweise bei der Abschätzung der Versagenswahrscheinlichkeit einer Komponente eingehender aufgezeigt werden:

Der Reaktordruckbehälter (RDB), das Herzstück des Reaktors, beinhaltet nicht nur das brisante radioaktive Inventar, sondern ist noch dazu nicht-redundant, d.h. bei Versagen kann auf kein Reservesystem zurückgegriffen werden. Sein Bersten wäre gleichbedeutend mit dem Einsetzen der Katastrophe. Aus den bisherigen praktischen Erfahrungen eine Versagenswahrscheinlichkeit zu berechnen, wäre nicht nur statistisch unsinnig, sondern ergäbe wegen der geringen Statistik auch einen „zu hohen Wert“ von 2-3 x 10-4, d.h. 2-3 berstende Kessel in 10.000 Kesseljahren. Das Statistik-Defizit rechtfertigt den Rückgriff auf größere statistische Erfahrungen mit nichtnuklearen, konventionellen Dampfkesseln. Im Grunde genommen sind aber alle diese Kessel nicht mit dem RDB vergleichbar, sie sind alle wesentlich unkomplizierter, kleiner und weniger hoch beansprucht (Druck, Temperatur, Strahlung).

Fig. 1: Kirk and Sell
Bild: IAEA-SM-169/6

In einer solchen Untersuchung für die Deutsche Risikostudie Phase A werden aus der großen Statistik geborstener Dampfkessel die meisten Zerknalle als „nicht risikorelevant“ ausgeschieden, insbesondere solche, bei denen der Zerknall nachweislich oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen war (Tschernobyl wäre demnach als nicht risikorelevant einzustufen!).

Die nach solchen obskuren Auswahlverfahren verbleibenden Zerknalle liefern in der erwähnten Studie die Versagenswahrscheinlichkeit konventioneller Druckbehälter von 0,88 x 10-5 (bedenkt man die beschriebene, mit willkürlichen Ausgrenzungen gespickte Berechnung dieses Wertes, dann wirkt der auf mehrere Dezimalen angegebene Zahlenwert einigermaßen belustigend).

Die Briten bewiesen da etwas mehr Vorsicht und Übersicht: Sie rechnen mit 10-3 bis 10-4 Zerknallen pro Kesseljahr, (d.h. von 10.000 Kesseln zerknallen zwischen 1 und 10 Kessel innerhalb eines Betriebsjahres, Marshall Bericht 1982).

Von diesem Versagenswahrscheinlichkeitswert für konventionelle Kessel ausgehend berufen sich die Autoren der Deutschen Risikostudie auf die gegenüber konventionellen Kesseln bessere Stahlqualität, die genauere Konstruktion, die sorgfältigere Herstellung samt Überwachung, die genauere Betriebsprüfung und die begleitenden wissenschaftlichen Untersuchungen, um daraus ohne weiteres auf eine 100fach geringere Versagenswahrscheinlichkeit zu schließen, also kleiner als 10-7 pro Kesseljahr, was unter dem üblichen Restrisikowert von einem Millionstel liegt und flugs ist ein Kesselbersten nicht mehr zu erwarten, also auch weiter nicht mehr in Betracht zu ziehen.

Abgesehen von der erstaunlichen Behauptung einer 100fach größeren Sicherheit auf Grund sorgfältiger Herstellung (werden z.B. Kessel für die chemische Industrie etwa nicht sorgfältig hergestellt?) lohnt es sich, ein paar genauere Blicke auf die einzelnen Argumentationspunkte zu werfen: Wie der erste europäische Druckbehälter in Calder Hall (ein gasgekühlter graphit-moderierter Reaktor) gebaut wurde, beschreibt K. Jay (1957, S. 107):

Ein Behälter von den erforderlichen Ausmaßen war offenbar zu groß, um von der Fabrik des Herstellers zum Bauplatz transportiert zu werden. Er mußte deshalb an Ort und Stelle aus Platten zusammengefügt werden, und beim Entwurf ging man deshalb von der Maximaldicke der Stahlplatten aus, die unter solchen Bedingungen geschweißt werden konnten. Auf Grund ihrer Erfahrungen entschieden Whessoe Ltd., daß eine Platte von 5 cm die dickste war, die man mit Sicherheit bearbeiten konnte. Auf dieser Grundlage berechneten sie, daß die Behälter einen Gasdruck von 7 atm aushalten würden.

Die Vorgangsweise baut auf ingenieursmäßige Erfahrungen auf, jedes auftretende Problem wird durch „engineeres safeguards“ (vergl. Radkau) gelöst, wobei selbstverständlich bei allen Sicherheitsüberlegungen der Wirtschaftlichkeit ein Hauptaugenmerk gilt.

Die Deutschen Kesselstähle, wie sie die Amerikaner verwendeten — auch wenn sich später herausstellte, daß die Schweißbarkeit nicht den angeblich höchsten Ansprüchen gerecht wurde, sondern ganz im Gegenteil schlecht war. Kußmaul, der Materialpapst aus der Materialprüfanstalt Stuttgart wetterte 1977 in einem Brief an den Vorsitzenden der RSK (Reaktorsicherheitskommission) Prof. Birkhofer:

Unverständlich ist es mir, daß ein RSK-Mitglied, das den Sachverhalt kennen müßte, von ‚Behältern bester Qualität‘ spricht, abgesehen davon, daß bezüglich Konstruktion und Prüfbarkeit hier bereits komplexe Verhältnisse vorliegen. Bei diesem Sachverhalt halte ich es für erforderlich, ähnlich wie bei UA RDB (Unterausschuß Reaktordruckbehälter, I. T.), allen RSK-Mitgliedern mehr Informationen über die sprödbruchanfälligen Feinkornbaustähle zukommen zu lassen.

Daß die Konstruktion genauer sein muß als bei einfacheren konventionellen Kesseln, ist bei der riesigen Dimension, der komplizierten Struktur, den vielen ingenieursmäßig äußerst problematischen, weil hoch belasteten und dadurch hochgradig gefährdeten Stellen nicht weiter erstaunlich, sondern eher eine Selbstverständlichkeit. Schließlich sind die Kessel inzwischen bei einem Durchmesser von bis zu 7 m bis zu 20 m hoch, 14 cm dick (Siedewasserreaktoren), bei Druckwasserreaktoren, die 170 bar (SWR 70 bar) aushalten müssen, sind die Kessel etwas kleiner, die Wandstärken über 20 cm. Daß man bei solchen Riesendingern mit den enormen Anforderungen an die Schweißtechnik etwas mehr nachdenkt, ist gewiß schon erforderlich, um die auch bei konventionellen Kesseln erwartete Qualität zu erreichen, garantiert aber keineswegs eine vielfache Sicherheit.

Bei diesen unglaublich dicken Schweißnähten ist deshalb auch eine genauere Überprüfung nötig; wie aus dem Jay-Zitat erkennbar ist, landete man ja längst weit jenseits der fundierten ingenieursmäßigen Erfahrung. Die genauere Überprüfung ist also eine schlichte Notwendigkeit und keine Zusatzsicherheit. Ebenso ist die Überprüfung während des Betriebs (alle vier Jahre!) wegen der gigantischen Dimensionen und der sich daraus ergebenden vielfältigen Fehlstellenmöglichkeiten eigentlich eine Selbstverständlichkeit — in Anbetracht des Gefahrenpotentials verblüfft eher der 4-Jahres-Abstand. Daraus eine vielfach größere Sicherheit zu folgern, wird endgültig zur Frage, wenn man erfährt, daß viele der hochbelasteten Stellen einer Überprüfung gar nicht zugänglich sind. Man behilft sich mit dem rechnerischen Nachweis, daß dort nichts passieren könne ...

Die sogenannten begleitenden Untersuchungen über die Strahlenschädigung des Kesselmaterials hätten mit Blick auf die neue Qualität an Gefährdung durch diese Technologie eigentlich durch vorherige Grundlagenforschung vorweggenommen werden sollen, gerade weil es sich um absolutes Neuland handelte. Man baute aber sofort — mit Hinweis auf begleitende Untersuchungen in der Zukunft. Heute — nach 30 Jahren Reaktorbau — scheint sich herauszustellen, daß die gesamte Sicherheitsphilosophie dieser Untersuchungen („Voreilproben“) in sich zusammenbricht: die zugrundeliegenden Annahmen waren ganz einfach falsch. Die neuen Erkenntnisse deuten darauf hin, daß das Problem der Strahlenversprödung bei weitem größer ist, als bisher von den ärgsten Pessimisten befürchtet.

Es ist erschreckend, daß bei genauerer Betrachtung die für die 100fach größere Sicherheit nuklearer Kessel ins Feld geführten Argumente jeweils ins Gegenteil umschlagen.

An dem herausgegriffenen Beispiel des Kessels wird deutlich, daß die Abschätzung einer Versagenswahrscheinlichkeit der einzelnen Komponenten an vielen Ecken hakt und das Ergebnis letztendlich je nach Annahmen um viele Zehnerpotenzen differieren kann. Man denke sich nun diese Variationsbreite für alle möglichen Komponenten (was weiß man aber schon, ob man an alle gedacht hat ...), stelle sich vor, wie viele Störfallabläufe denkbar sind, wie viele Überlagerungen von Fehlern mit welchen Folgen man sich ausdenken kann usw. usw., wie viele Rechenmodelle anwendbar sind, in welcher Weise sich Streubreiten der angenommen Versagenswahrscheinlichkeiten fortpflanzen — und bedenke zum guten Schluß, daß in einem etwaigen Endergebnis der unberechenbare, unabschätzbare Faktor Mensch überhaupt nicht enthalten ist.

Um die Absurdität des probabilistischen Sicherheitsgeredes auf die Spitze zu treiben, folgende Tatsache: Eine Versagenswahrscheinlichkeit von 10-6 (Restrisiko) bedeutet nur, daß aus dem Blickwinkel einer sehr langen Zeit (viele Jahrmillionen) im Mittel ein Supergau in jeder Million Jahre passierte. Selbst wenn morgen 10 Kraftwerke hochgehen oder das nächste erst in 10 Jahren, es würde alles in diesen Wert des Restrisikos passen. Es würde genau so passen, wenn das Restrisiko 10-3 oder 10-9 wäre.

Daß Tschernobyl hinter uns liegt (und weit genug weg war), bedeutet gar nichts, egal welche Versagenswahrscheinlichkeit berechnet wurde. Der nächste Supergau kommt bestimmt — er wird jedes probabilistische Ergebnis bestätigen.

Literatur

  • J. Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, Rowohlt, 1980
  • E. Bagge, K. Diebner, K. Jay, Von der Uranspaltung bis Calder Hall, Rowohlt 1957
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