FORVM, No. 301/302
Januar
1979

stille post

ein gedichthaufen

Heidi Pataki: stille post. Gedichte, Edition Neue Texte, Linz 1978, 50 Seiten, öS 96,— DM 13,—

Heidi Pataki

Heidi Pataki betitelt ihre Gedichtsammlung: „stille post“. Stille Post ist ein Kinderspiel, bei dem die Kinder (oder die Epochen) in einer Reihe stehen. Ein Kind sagt dem andern einen Satz ins Ohr; am Ende der Reihe kommt dieser Satz verstümmelt an. Was das letzte Kind laut sagt, ist Unsinn. Wie fremd das Allervertrauteste, die Sprache, auf einmal wirkt!

Den metaphysischen Schreck, der einem dabei in die Glieder fährt, hat die Autorin bereits in ihren „Elf Thesen über Lyrik“ von 1968 formuliert: „Wir leiden nicht am Unverständnis, sondern am Mißverständnis. Jeder Satz, den wir noch sagen können, ist schon tausendmal ausgesprochen worden. Darüber ist die Bedeutung verlorengegangen: der Gebrauch zerstört die Bedeutung.“ Als Kritik am logischen Positivismus wurde hier das berühmte Diktum Wittgensteins vom Gebrauch, der erst die Bedeutung schafft, auf den Kopf gestellt. Der letzte Satz, der bei Heidi Patakis Stiller Post herauskommt, ist ein schnoddriger Vorsatz, oder ein Auftrag:

meinetwegen
wälz ihn weiter, den gedichtehaufen:
platz da für mensch maier!
(mayer ?)
meier.

In einem Aufsatz über die Autorin stehen die Worte „kalt und bös und heftig; verächtlich, aggressiv, satirisch ...“ Weit gefehlt. Ich spüre hinter ihren Gedichten eine sehr verletzte Liebe zur Kunst heraus. Heidi Pataki vermeidet den Jammer, aber sie stellt zum Vergleich.

Zum Beispiel „À une passante“ von Baudelaire. Sie schreibt ein Gedicht, das sie ebenso betitelt — „à une passante“ — und das den gleichen Inhalt hat. Eine Unbekannte, ein Mensch in der Menge fällt bestürzend auf, ein Appell ergeht an Solidarität, Betroffenheit, Sex! Bei Baudelaire ist diese Unbekannte eine vornehme Witwe, bei Pataki ist es eine Zuhälterin; doch preisgegebene Individuen sind alle beide, verloren im Gewühl der Straße wie im Dunkel der bürgerlichen Gesellschaft. Neu und ungewöhnlich daran ist: zwischen Frauen entzündet sich nun Baudelaires „Blitz vor der Finsternis“.

Lyrik zweier Jahrhunderte — Emotion und vor allem Tradition und deren Abwandlung: Innenwelt und Außenwelt. Manche von Heidi Patakis Gedichten, wie „off limits“, „stilleben“, „hosianna“, variieren und paraphrasieren diese Begriffe. Nach einem Wort Mallarmés ist jedes Gedicht ein Geheimnis, dessen Schlüssel der Leser suchen muß. Deshalb nur so viel: Es sind Beispiele für ein bewußt artifizielles Verfahren, den souveränen Umgang mit Gedichtzitaten. Was diese Montagen im innersten zusammenhält, ist nicht länger die Bedeutung; ihr Zusammenhang ergibt sich aus dem Rhythmus, dem Klang, den Assoziationen. „off limits“ etwa ist in Terzinen-Form angeordnet, eine Anspielung auf die berühmtesten Terzinen der deutschen Dichtung, „Über Vergänglichkeit“ und die „Ballade des äußeren Lebens“ von Hofmannsthal. „Damit begibt sich der Text kühn in den Ausstrahlungsbereich jener Modelle, fordert sie heraus und schnorrt zugleich von ihrer Aura ...“ (W. Gerstenlauer).

Diese Kunstfertigkeit, der effektvolle Gebrauch von Zitaten, Phrasen und Paraphrasen kommt aus einem ganz bestimmten Reservoir — dem der gründlichen, lyrischen Bildung. Und aus einem Gefühl! Man zerstört nicht ohne Leidenschaft, und man stößt Fallendes nicht kalt. Die pure Ästhetik der Montage, des Ornaments, ebenso genossen wie verachtet, hat immer noch die Hoffnung der Variation:

wälz ihn weiter, den gedichtehaufen!

Am Schluß des Bandes findet sich Heidi Patakis programmatische Bemerkung zu den Texten: „konfusion — das ist das stilprinzip des gedichts. anarchie ist die ordnung unseres lebens. sie ist die ordnung des gedichts ... verzicht auf alles private, emotionale, differenzierte ...“

Ich übernehme das nicht ganz. Ich weiß dazu ein Zitat aus Walter Benjamins Aufsatz über Baudelaire. Darin heißt es: „Die Frage meldet sich an, wie lyrische Dichtung in einer Erfahrung fundiert sein kann, der das Schockerlebnis zur Norm geworden ist.“ Als Antwort bietet sich mir Heidi Patakis Lyrik an. „Die Emanzipation von Erlebnissen!"

ô innenwelt ô binnenbild ô flucht tut not
kein hahn kräht mehr nach dieser klostersuppe

schrieb die Autorin in ihrem ersten Gedichtband „schlagzeilen“.

„Innenwelt“ — als ob es eine solche ohne Außenwelt gäbe! Es gibt nur die Flucht in die spezifische Reaktion auf die Außenwelt. Heidi Pataki sucht diesen persönlichen Rückzug nicht. Sie gibt sich der ganzen Fülle der Eindrücke hin, und da sie offen und — man kann sagen, eine femme des lettres — ist, erstrecken sich ihre Emotionen auf das bereits Formulierte. Sie verfremdet es zu Bausteinen für die Gegenwart. Da kann es zu Aggression und Agitation ebenso kommen wie zu Witz, Nonsens und Chanson.

Da erst die begriffene Welt das Wirkliche ist und die vielen bereits gefundenen poetischen Formulierungen des Begrifflichen, durch die Jahrhunderte abgenützt, eine unübersehbare Auswahl von Klischees anbieten, die als begriffene Welt die Wirklichkeit bedeuten, bleibt der Lyrik nichts anderes übrig (soweit sie nicht naiv ist), als damit artistisch zu verfahren. Das ist es, was Heidi Pataki kenntnisreich tut. Sie tritt mit ihrem Werk aus der „Idylle des Sinnzusammenhangs“ und benützt die Zitate als „Motti aus dem Buch der Schöpfung“ (Benjamin).

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