Streifzüge, Heft 1/1996
März
1996

Subjekt und Geschichte

Eine kleine abendländische Individualkunde

1.

Was ist ein Ich? Ein Ich ist ein In-Sich. Ein Sich ist ein An-Sich, ein Ich ist ein Für-Sich. Um zu einem Ich, einem Für-Sich zu werden, muß der Mensch In-Sich gehen, das An-Sich ansehen und erken­nen. Das besondere Subjekt ist das Ich, das Indi­viduum für sich, das Begreifen und der Begriff von einem selbst. Ich bin, sagt der Mensch. Und Ich bin ich, meint er. Dies ist ein Fundamental­bekenntnis bewußter Existenz. (Ob dieses Bekenntnis als Erkenntnis standhält, ist freilich eine weitergehendere Frage.) Hegel bezeichnete das Subjekt als „ein in sich Reflektiertes.“ Nur der Mensch kann erkennen, weil sich erkennen. Nur der Mensch hat eine Potenz zum Ich.

2.

Subjekt meint also ein denkendes Für-Sich, nicht bloß ein denkendes An-Sich. Erst die bürgerli­chen Ichs begreifen sich nicht nur als Exemplare einer Masse, sondern sie bestätigen sich als indi­viduell, als einzeln, als mit einem freien Willen ausgestattet. Erst im bürgerlichen Individuum vermeint der Mensch sich als Subjekt, er ist sich nicht mehr bloß reflexives Objekt, sondern reflektiertes Subjekt. Das einst undenkbare Ich wird häufiger, ja so geläufig und inflationär, daß man glauben könnte, es sei schon verwirklicht, seine Vollendung sei erreicht. Das wird auch gemeinhin unterstellt.

3.

Das Verhältnis der Menschen zu allen anderen Objekten läßt sich vielleicht so beschreiben: Sie sind unterwerfende Unterworfene, nicht bloß sich unterwerfende Unterworfene. Das sich unterwerfende Unterworfene unterwirft sich nicht nur selbst, es unterwirft auch untereinan­der und gegenüber der ersten Natur. Diese subjektiven Absichten sind nicht gänzlich als Fol­gen objektiver Notwendigkeiten dechiffrierbar, da sie von den Zuständen theoretisch abstrahie­ren und praktisch repellieren könnens

4.

Mensch sein, heißt sich den Notwendigkeiten zu stellen, ihre Not aber zu wenden, sie zurückzu­drängen. Es gilt, Not abzuwenden anstatt anzu­wenden. Emanzipation besteht vorerst in der Negierung der Notwendigkeiten als Zwänge, in der Erweiterung der Möglichkeiten in eben jenen. Aus der konstatierten „Einsicht in die Notwen­digkeiten“ (Engels sehr frei nach Hegel) läßt sich mehr als eine bloße Aussicht auf diese abzuleiten. Jene ist kritisch, nicht affirmativ, sie ist Bedin­gung, nicht Aufgabe oder gar Ziel.

5.

Das bürgerliche Subjekt kommt erst a posteriori zu sich, eben vermittelt durch den Wert und seine Formprinzipien, es ist also nicht wie das bürger­liche Denken unterstellt, a prori bei sich. Das Subjekt ist somit nicht „souveränes Bewußtsein“ (Foucault), sondern bloß unsouveränes. So gilt es einerseits die Subjektillusion in der Warengesell­schaft zu desavouieren, andererseits aber die Subjektwerdung der Menschen — es ist noch gar nicht solange her, daß das Subjekt überhaupt gedacht wird — voranzutreiben, ihre Voraussetzungen und Bedingungen zu diskutieren. Das Subjekt ist zu fördern und zu leugnen.

6.

Bürgerliche Subjektkonstitution und Subjektil­lusion sind eins. Die normierten Abweichungen von der Norm werden ideologisch unterfüttert mit einem freien Willen, obwohl dieser nichts anderes darstellt als eine Realisierungsform vor­gegebener Determinanten. Die unterstellte Frei­heit suggeriert eine Möglichkeit jenseits der Notwendigkeit, wo es doch gerade darum ginge, eben diese Notwendigkeit zu erkennen, ohne sie jedoch nun zu affirmieren. Gerade eine kritische Kritik des Notwendigen wendet sich gegen das Eskamotieren und dessen falsche Auflösungen in Möglichkeiten, zwischen denen grundsätzlich und souverän zu wählen wäre.

7.

Subjekt und bürgerliche Freiheit gehören zusam­men. Das Subjekt ist die notwendige menschliche Erscheinungsform der bürgerlichen Freiheit. Diese Freiheit ist ihr bedingender wie unhinter­fragter Bestandteil. Historische Subjektwerdung bedeutet somit Befreiung hin zur Form, nicht jedoch von der Form, wie sie heute erst ansteht. Die Kritik des Subjekts ist nun dahingehend auf­zufassen, daß auch diese Kategorie ihrer ontolo­gischen Härte entkleidet werden muß und histo­rische Einordnungen erfährt. Die Kritik des Sub­jekts schreit so nicht nach anderen Subjekten.

8.

Mit dem Abschied vom Klassenkampf als trans­zendierender Form emanzipatorischer Praxis, ist freilich die Frage nach den Praktikern der Revo­lution nicht gleich mitbeseitigt. Sie stellt sich dringlicher denn je, soll die Transformation sich nicht als bloße Destruktion gestalten. Natürlich kann die Systemtransformation nicht selbstläufig erfolgen, sondern bedarf auch eines kollekti­ven Wollens, das eben den Übergang vom bür­gerlichen Willenssubjekt über es hinaus darstellt. Sie wird aber nicht (mehr) einer bestimmten sozialen Klasse oder Schichtung zugeordnet sein, sondern liegt jenseits der Klassenfrage. Sie kennt keine Träger in klassischer Form. Ihr Instru­mentarium ist nicht der Klassenkampf. Emanzi­pation ist klassenunspezifisch, ja klassenlos geworden.

9.

Das Betonen der gesellschaftlichen Determinanz unter dem Kapitalismus ist nicht als ehernes Ein­betonieren der menschlichen Entwicklung auf­zufassen. Es darf nicht als ontologische Kon­stante dechiffriert werden, sondern als histori­sche Resultante. Emanzipation bedeutet dahin­gehend gerade Überwindung der Determiniert­heit, sie ist (mit Marx) als Sprung von der menschliche Vorgeschichte in die Geschichte zu verstehen. Dahingehend macht das Gerede vom Ende der Geschichte wieder einen Sinn, aber einen ganz anderen als der Postmodernismus unterstellt.

10.

Begreifen und Eingreifen gehören zusammen. Jede Tat bedeutet Negation des Daseins in seiner konkreten Existenz. Jeder Griff ist ein Eingriff, jeder Gang ein Zugang, jedes Handeln ein Behan­deln. Eine emanzipatorische Praxis ist nur bestimmbar und leistbar, wenn sie sich als Mög­lichkeit versteht und veranstaltet, wenn die Inter­ventionen als Aktionen, nicht bloß als Reaktio­nen aufgefaßt werden, wenn sie die Wirklichkeit anreichern, nicht bloß Abklatsch dieser sind. Das muß auf der Bewußtseinsebene gewährleistet sein, um die notwendige Motivation zu sichern. Auch auf die Gefahr hin, daß sich im Nachhinein diese Möglichkeiten als überschätzte erweisen sollten.