Heft 8/2002 — 1/2003
März
2003

Suicide Bombing

Über die neuen Formen des Antisemitismus — und ihren Zusammenhang mit den alten

Für die Analyse der neuen Formen wie für die der alten gilt eine Art Antinomie, die immer mitzudenken wäre: Antisemitismus soll zwar durchsichtig werden — seine ideologischen Mechanismen und psychologischen Voraussetzungen —, aber die Tatsache, dass einer Antisemit ist, hat so unerklärlich zu bleiben, wie der Umstand, dass es das falsche Ganze überhaupt gibt, das den Antisemitismus stets aufs Neue hervorbringt. So wie sie im Innersten zusammengehören — der Antisemit und die Gesellschaft, die ihn hervorbringt —, darf ihnen keine Gelegenheit gegeben werden, sich wechselseitig zu entlasten.

Auf Exkulpierung läuft jedoch fast alles hinaus, was heute über die Selbstmord-Anschläge gesagt wird. Sie werden meist als bloßes Mittel betrachtet, das mit bestimmten Zwecken nicht unbedingt etwas zu tun habe. Etwa mit dem Zweck, die Juden zu vernichten. Sie seien ein Mittel, zu dem die Attentäter eben in ihrer Verzweiflung über die soziale und politische Lage greifen würden. So fragt man also auch, was an den Anschlägen auf das World Trade Center beweisbar antisemitisch gewesen sein könne? Man fragt: Wie denn diese Attentate mit jenen in Israel, nur weil sie sich derselben Mittel bedienen, auf einen Nenner zu bringen wären? Schließlich hätten die beiden Türme des World Trade Centers ja nicht in Tel Aviv gestanden. Beziehungen zwischen al-Qaida, Hamas und Hisbollah werden als Spekulationen bezeichnet und die Hinweise auf die Weltanschauung eines der Selbstmord-Piloten von New York über die Juden einfach ignoriert. Für Mohammed Atta — so wird von einem, der ihn kannte, berichtet — waren die Juden „die reichen Strippenzieher der Medien, der Finanzwelt, der Politik, und natürlich steckten auch hinter dem Einsatz der Amerikaner am Golf die Juden, hinter den Kriegen auf dem Balkan, in Tschetschenien, überall. Wer waren die Täter in Ägypten, die die Architektur, die Kultur, letztlich den gesamten Islam ausrotten wollten? Klar, die Juden. Und ,das Zentrum des Weltjudentums‘, so sah es Atta, war New York. Atta wünschte sich einen Gottesstaat vom Nil bis zum Euphrat, frei von Juden, und sein Befreiungskrieg musste in New York beginnen.“ [1]

Soweit solche Aussagen überhaupt zur Kenntnis genommen werden, setzt sich die Meinung durch, die Attentate seien gewissermaßen eben auch ein bisschen antisemitisch. Aber über die Täter und ihre Motive, wisse man im übrigen viel zu wenig, außer dem natürlich, dass die bittere Erfahrung von Ohnmacht und Unterlegenheit ausschlaggebend sei für die Tat, Ohnmacht und Unterlegenheit zu beseitigen ihre Absicht. Nur bediene man sich eben falscher Mittel. Wenn auch ich hier von solchen unmittelbaren Hinweisen auf die Weltanschauung der Attentäter und die Zusammenhänge der Gruppen einmal absehe, so behaupte ich dennoch: Die Annahme, dass die Menschen, die im World Trade Center arbeiteten oder an der Ostküste leben, den Tätern darum als Feinde gelten, weil sie — in den Augen der Täter — entweder zum Judentum gehören oder das Judentum unterstützen, ist prinzipiell nicht zu widerlegen.

So wie man abwehrt, die Anschläge vom 11. September als antisemitisch zu bezeichnen, so wenig hat sich — trotz aller zeitgeschichtlichen Forschungsarbeit — durchgesetzt, den Angriff des Dritten Reichs auf die Sowjetunion als antisemitisch zu bezeichnen — und dennoch war er es in doppeltem Sinn: ideologisch, weil der Bolschewismus nach dem Muster einer jüdischen Weltverschwörung als Feindbild geprägt war — praktisch, weil im Zuge diese Angriffskrieges die Vernichtung der europäischen Juden vollständig in die Tat umgesetzt werden konnte. Es kommt auf den gesamten Zusammenhang an, aus dem die einzelne Tat resultiert.

NGOs der Vernichtung

Was zunächst aber herausgearbeitet werden kann, ist ein bestimmtes Verhältnis von Täter, Mittel und Opfer. Die Selbstmord-Attentate folgen einer Logik — der nicht gerecht wird, wer bloß von Attentaten oder gar Terrorismus spricht. (Die Bezeichnung Terrorismus ist überhaupt Abstraktion im schlechtesten Sinn: wie geschaffen, um von dem abzusehen, was für die Selbstmord-Massaker konstitutiv ist. Darum ist es für die Feinde Israels ein leichtes, den Spieß umzudrehen und von Staatsterrorismus zu sprechen.) Die verschiedenen Gruppen, die sich der neuen Form der Gewalt bedienen, mögen im einzelnen durchaus unterschiedliche Ziele haben. Das Ziel, das sich aus dem Mittel ergibt, ist aber immer dasselbe: mit dem eigenen Tod möglichst viele Menschen zu vernichten — nicht irgendwelche, obwohl es auf den einzelnen nicht ankommt, sondern Menschen, die im Kopf der Attentäter auf einen bestimmten Punkt bezogen werden. Dieser Bezug kann direkter oder indirekter sein: das tschetschenische Selbstmord-Kommando, das da in Moskau aus einem Theater blitzschnell ein Lager gemacht hat, ist von diesem Punkt weiter entfernt als der Suicide Bomber in Tel Aviv; aber der Bezug selbst ist auch hier vorhanden: die Russen seien „die Brüder der Juden“ lassen die Tschetschenischen Freiheitskämpfer sich vernehmen [2] — und die Befreiung Tschetscheniens hat wie die von Afghanistan in letzter Instanz den Fluchtpunkt in der Zerstörung Israels als der Zufluchtsstätte aller Juden.

Die Logik, um die es beim Selbstmord-Attentat der Massenmörder geht, kann im einzelnen als Fortsetzung des Pogroms mit anderen Mitteln, im ganzen als Privatisierung staatlicher Vernichtungsaktionen betrachtet werden; die Intention wird ohne direkte Verfügung über das Gewaltmonopol des Staates verfolgt — so hat die Aktion selbst den Anschein von Ohnmacht und bietet sich der Deutung als „Verzweiflungstat“ an. (Auch die ‚klassischen‘ Pogrome wurden übrigens stets als Handlungen von desperaten, verschuldeten und hungernden Handwerkern und Bauern gedeutet, wobei die Betonung des verzweifelten Charakters der Taten deren tiefes Einverständnis mit den repressivsten Interessen des Staats verdecken sollte.) Das moderne Selbstmord-Racket braucht auch — von kleinen Sendern und Videoproduktionen abgesehen — kein Propagandaministerium, denn seine Taten sind selbst identisch geworden mit Propaganda und nutzen nach außen die internationalen Medien als Reklameapparat. Über 90 Prozent der Kameraleute, die in Gaza und Westbank arbeiten, sind Palästinenser; sie arbeiten im Auftrag westlicher Stationen und Agenturen, die sich auf diese Weise die gefährliche und teure Recherche vor Ort ersparen. [3]

Der Sender al-G’azira, der diese Aufgabe im arabischen Raum mit besonderem, an CNN geschultem Geschick erfüllt, realisiert auf diese Weise eine Einheit, die im eigentlich Politischen allen panarabischen und pan-islamistischen Bewegungen immer misslang. Diese Rackets des heutigen Islamismus sind von der Hoffnung auf Vernichtungswaffen förmlich beseelt: vom Sprengstoff, den die Märtyrer der Massenvernichtung am Körper tragen, basteln sich ihre vielen Anhänger Attrappen aus Pappkarton, die sie sich und ihren Kindern umhängen als wären es Glücksbringer; ebenso sind die Massenvernichtungswaffen für ein Staats-Racket wie das Baath-Regime im Irak geradezu identitätsstiftend: sie heimlich herzustellen und vor der internationalen Öffentlichkeit erfolgreich zu verstecken — mit all den Unternehmungen, die dazu kontinuierlich notwendig sind und Mobilisierung bedeuten: der ständige Transport von einem Ort zum anderen, die stets neu zu entwerfenden Pläne zur Tarnung usw. —, all das verschafft dem Regime eine Art Aura der Illegalität inmitten des eigenen Staats. Der permanente Ausnahmezustand erscheint hier in einer „karnevalistischen Atmosphäre“ (Kanan Makiya); [4] der baathistische Staat tritt als fortwährender „Ereignisschöpfer“ auf (Bachtyar Ali). [5]

Die Existenz der Massenvernichtungswaffen und die gegen die Kurden, Schiiten und Iraner bewiesene Bereitschaft, sie einzusetzen, sind Garant dafür, dass der permanente Ausnahmezustand aufrecht bleibt; die Fixierung auf sie stiftet die Einheit des Ganzen: „Komplizenschaft ist der Beweis, den ein Iraker erbringen muss, um zum ‚Volk‘ zu gehören, das im ba’thistischen Idealfall über allen anderen Loyalitäten steht, Stämme, politische Organisationen und selbst Familien durchschneidet.“ [6] In bestimmter Weise gilt das natürlich auch für die Volksgemeinschaft des Dritten Reichs und die Rackets der Nazis — nur dass hier in der Herstellung der Vernichtungswaffen, mit denen man über die Welt herfiel, die ganze Bevölkerung sich integrierte, die Arbeitslosigkeit aufgesogen und die Krise bewältigt werden konnte — und zwar in der Vorbereitung von totalem Krieg und Massenmord an den Juden. Im Irak machen die Vernichtungswaffen auf andere Weise Arbeit, handelt es sich doch hier um einen schlanken Staat der Elendsverwaltung — noch perfektioniert durch die notwendig gewordene Einstellung auf die Sanktionen nach dem zweiten Golfkrieg. [7]

Der permanente Ausnahmezustand, in dem sich der Irak gegenüber den USA und der UNO einrichtet, ist ein anderer als der im Dritten Reich: Er schafft keine Arbeitsplätze, sondern soll sie ersetzen; er erlaubt nicht die Mobilisierung zum totalen Vernichtungskrieg, sondern nur die zum regionalen Vernichtungskrieg; er lässt den Staatsführer nicht an der Spitze einer Macht auftreten, die Weltherrschaft glaubhaft beanspruchen kann, sondern nur als heroischen Partisanenführer im Kampf gegen die Globalisierung. Saddam Hussein zeigt sich gerne mit der Knarre in der Hand und schießt in die Luft: auf seinem Kopf der Hut des Zivilisten (ein Modell wie es etwa der Spießer in Mitteleuropa gerne trägt). Ein passendes Bild für die privatisierte Form, die der Vernichtungswahn angenommen hat. Ein Staat wie der Irak scheitert darin, die Vernichtung als Gewaltmonopol auch nach außen zu tragen und den totalen Krieg nicht nur anzukündigen und anzuzetteln, sondern auch zu Ende zu führen. Dort wo er scheitert, treten die Selbstmord-Attentäter in Aktion. Sie realisieren jeder für sich, eingebunden in Gruppen, aber relativ unabhängig von den wirklich existierenden Staaten, was einmal die deutsche Volksgemeinschaft mit dem eigenen Staat vollkommen verwachsen umzusetzen wusste: Vernichtung um jeden Preis als Antwort auf die Krise.

Die Voraussetzungen jedoch könnten verschiedener nicht sein — und hier liegt eben auch das Wahrheitsmoment jenes von den vernichtenden „Märtyrern“ am eigenen Leib vorgeführten Ausdrucks von Ohnmacht, es liegt im Vergleich zur totalen Macht des nationalsozialistischen Vernichtungsapparats: auf der einen Seite eine im Ökonomischen einzigartig homogen strukturierte Nation auf dem Sprung zur Weltmacht, mit einem industriellen Potential und einer Produktivität ohnegleichen: Deutschland vor den beiden Weltkriegen — auf der anderen Seite: eine kaum zu überschätzende Heterogenität in und zwischen Staaten, die allesamt außerhalb der Metropolen des Kapitals situiert sind — von denen jedoch einige vor allem aufgrund der Bedeutung der Erdölproduktion ziemlich weit oben, die anderen aber weit unten auf der Stufenleiter des Reichtums stehen. So sehr die gesellschaftliche Lage in den Heimatländern von politischem Islamismus und deutscher Ideologie differiert, so sehr hat sich die Konstellation von Weltmarkt und Nationalstaat überhaupt gewandelt. Gemeinsamkeit und Differenz ließen sich vielleicht mit diesem, schon verwendeten, aber noch nicht bestimmten Begriff des Rackets aufschlüsseln. Er bedeutet ursprünglich „Erpresserbande“ ebenso wie „Selbsthilfegruppe“ und „Wohltätigkeitsverein“. Was aber Max Horkheimer (in seinen Aufzeichnungen zur Dialektik der Aufklärung) bewogen hat, den Begriff auf die mit dem Nationalsozialismus anbrechende Ära anzuwenden, ist die Politisierung dieser Bandenstruktur, ihre Legierung mit staatlicher Herrschaft — „als der echte Leviathan“. Er war so etwas wie das missing link für die kritische Theorie des Staats: Der Nationalsozialismus, der auf der einen Seite wie ein monolithisch strukturiertes „Staatssubjekt Kapital“ (Heinz Langerhans) erscheint, ein vollkommen integriertes und alles integrierendes Gebilde totaler Durchstaatlichung, entpuppt sich auf der anderen Seite als in sich vollkommen Zerfallenes, als ein „Unstaat“ und „Chaos“ (Franz Neumann), worin die Rackets in rasenden Konkurrenzkämpfen die Vernichtung vorantreiben.

Im Suicide bombing kulminiert hingegen eine gesellschaftliche Ordnung, in der jene Seite des integrierten Staatssubjekts zur Gänze weggefallen scheint: das macht es den westlichen Ideologen so schwer, den Totalitarismusbegriff weiter anzuwenden wie einst im Kalten Krieg; darum muss George Bush dumpf moralisierend vom Krieg gegen das „Böse“ schwadronieren, wenn er Bin Ladens al-Qaida-Racket ins Auge fasst, und angesichts von eher disparaten, statt homogenen autoritären Gesellschaften von „Schurkenstaaten“ sprechen. Aber in Wahrheit handelt es sich um eine Art Inversion: was einmal als totaler Staat behauptet werden konnte, ist in den Rackets aufbewahrt: als gemeinsames inhaltliches Telos jeder einzelnen Handlung, die nunmehr aber in privatisiert vereinzelter Form vollzogen wird – sei’s von Hisbollah, Hamas, al-Qaida oder wie die Selbstmord-NGOs alle heißen. Soweit sich die Rackets überhaupt zum Gewaltmonopol des Staats zusammenschließen und verallgemeinern können, fehlt ihnen das ökonomische Potential, die Vernichtungsanstrengung als Staat nach außen hin fortzusetzen — und so sieht sich ein solcher Staat längerfristig darauf reduziert, wieder nur einzelne Rackets zu unterstützen — mit Geld und Waffen —, die außerhalb des eigentlichen Gewaltmonopols, aber in z.T. sehr enger Verbindung mit der Bevölkerung („Wohltätigkeitsverein“!) operieren.

Nur den Islamexperten erscheint es „paradox“, dass „ausgerechnet jene Gruppen, die das umfassendste Sozialprogramm bieten auch jene sind, die Selbstmordattentate forcieren.“ [8] Jede Bande organisiert ein kleineres oder größeres Netzwerk der Wohlfahrt, das sich ökonomisch aus verschiedenen Quellen speist: von den Einnahmen aus dem Ölgeschäft der reicheren arabischen Staaten, von Spendengeldern der NGOs und GOs aus aller Welt und Beiträgen aus dem Topf der EU- und UNO-Organisationen. Auf dieser Basis verwirklichen die Rackets relativ unabhängig vom Staat die Anforderungen, die heute aus der Sicht der Finanzmärkte und der Weltbank an den Staat in einer Armutsregion gestellt werden: Sie verwalten die Armut und bleiben privat. Der schlankeste Staat ist die Verbrecherbande. Aber Bande ist nicht gleich Bande — so wie Religion nicht gleich Religion. Die NGOs der Vernichtung, die im arabischen und islamischen Raum in Aktion getreten sind, verbinden die Organisation der Wohlfahrt, die sie im kleinen gewähren können, mit dem Selbstopfer im Großen. Während etwa die Mafia von den Leuten Schutzgeld verlangt, verbunden mit Morddrohungen, die auch wahrgemacht werden, treiben die Selbstmord-Rackets umgekehrt in den Familien das Recht auf das Leben der Söhne und Töchter ein, und zahlen hinterher dafür ganz beachtliche Summen; organisieren aber auch einen regelrechten, massenmedial wie traditionell vermittelten Kult, um den Verlust des Familienmitglieds wie einen Kredit zurückzuzahlen: in Zeitung, Rundfunk, Fernsehen werden die Namen der Märtyrer gepriesen und von ihren Taten und ihrem Tod berichtet; die Prediger in den Moscheen halten sie den Lebenden als Beispiel vor, eigene Formen der Feier werden institutionalisiert, eine besondere Kleidung entworfen und spezielle Begriffe geprägt, so erhalten die Witwen der Märtyrer eigens geschaffene offizielle Titel. Zugleich wissen sich die Hinterbliebenen und alle, die sich mit der Vernichtungstat identifizieren in einem Netz von sozialen Organisationen aufgehoben, zu dem ebenso Kindergärten und Schulen wie Krankenhäuser und Verbraucher-Genossenschaften zählen.

Ohne die Einheit von Partei und Staat schaffen diese weitverzweigten Gruppen, was im Dritten Reich KdF und Arbeitsfront, Wehrmacht und HJ leisteten: die Unterordnung aller Aspekte der individuellen Reproduktion unter das gemeinsame Ziel der Vernichtung. Je mehr sie von der individuellen Reproduktion in ihre Hand bekommen, desto schwieriger ist es für den einzelnen, dem auf Vernichtung ausgerichteten gesellschaftlichen Zusammenhang zu entgehen — ganz abgesehen von der unmittelbaren Gewalt, die rücksichtslos gegen diejenigen angewandt wird, die als Verräter, Kollaborateure gelten oder auch nur andere Lebensformen als die von den politischen Banden vorgeschriebenen für sich selbst durchsetzen möchten. Die Rackets versprechen eine individuelle Krisenlösung für die jeweilige Familie, wenn deren Mitglieder bereit sind, dafür zu geben, worauf der Staat immer schon Anrecht erhob: „Die politische Einheit muß gegebenenfalls das Opfer des Lebens verlangen.“ (Carl Schmitt) Bei einem technischen Standard, der kleine Massenvernichtungswaffen herzustellen erlaubt, ist jedoch diese Verschlankung des Vernichtungsstaats auf Dauer wenig beruhigend. Wie die Shoah nicht auf die industrielle Menschenvernichtung reduziert werden darf (Goldhagens Studie hat darauf nachdrücklich aufmerksam gemacht), so falsch wäre es, prinzipiell davon auszugehen, dass eine mögliche Wiederholung von Auschwitz in denselben Formen stattfände — und das heißt auch: im selben Zeitraum.

Gerade der schleichende Charakter, für den das Selbstmord-Attentat steht, verdunkelt alles. Alltagsreligion des Selbstmordattentats Der Konstellation des Selbstmord-Attentats gegenüber erscheint die islamische Religion selbst eigenartig untergeordnet. Das vielberedete Paradies mit den Jungfrauen, wohin sich der Selbstmord-Attentäter qua Vernichtung transferieren möchte, ist sekundär. Primär ist das Mittel: die Vernichtung — gemeinsames Programm aller Rackets im Kampf gegen Israel, seien sie nun ursprünglich religiös motiviert oder säkular ausgerichtet. Der Erlösungsglauben ist, ähnlich wie im Verhältnis von Christentum und Nationalsozialismus, von der positiven Religion in gewisser Weise verselbständigt — und geht in der Vernichtungsaktion auf: suicide bombing müsste sacrifice bombing heißen. Um aus dem gegenwärtigen Zustand der Not erlöst zu werden, gilt es dem Wahn zufolge, einen metaphysischen Feind physisch zu vertilgen, denn dieser Feind verkörpert die ungreifbare Herrschaft des Kapitals, die als Verhältnis nicht zu Bewußtsein kommen darf. Der positive Zustand, der erreicht werden soll, verliert demgegenüber an Gewicht: die physische Vernichtung wird wichtiger als der metaphysische Zweck: darin haben die neuen Märtyrer den historischen Islam hinter sich gelassen.

Dass die Vernichtung keine Grenzen kennt, die Erlösung nichts als Vernichtung beinhalten könnte, kalkuliert diese negative Form der Heilserwartung von Anfang an ein und bestätigt es in der Bedeutung, die der Planung bei der Opferung der eigenen Person zukommt: statt ins Paradies kommt sie aufs Videoband. Allah ist nur mehr eine Arabeske für das Nichts. Der Islam ist aber nicht zufällig geeignet, zur Alltagsreligion des suicide bombing zu werden. In seiner Genese dem Christentum eng verwandt, was die Abwehr des Judentums betrifft, aber dafür disponiert, die Religion von Gemeinwesen zu werden, die massenhafte Armut nicht mildern oder gar beseitigen, sondern nur verwalten und legitimieren können, bietet der Islam die besten Voraussetzungen für den Export des Antisemitismus aus dem Abendland an die Peripherie. So gemäßigt ursprünglich sein antisemitisches Potential im Vergleich zum Christentum erscheint, so wenig Widerstand kann er in seiner fundamentalen, das Christentum (ab einem bestimmten historischen Zeitpunkt) noch übertreffenden Entwertung des Diesseits dem Vernichtungswahn entgegensetzen, der ihm vom Nationalsozialismus angetragen wird. Der Islam kann auch insofern als Alltagsreligion des Suicide bombing sich behaupten, als er mit der Kriegsvorstellung des Gùihad die geeignete Ideologie und mit der Sharia die passende ‚Rechtsform‘ für die Rackets ausgebildet hat — in einem ähnlichen Sinn, wie das Christentum (in seiner europäisch-katholischen und deutsch-lutherischen Ausprägung) als ideologische Voraussetzung des Nationalsozialismus zu begreifen ist.

Der „Heilige Krieg“ des Islam meint keinen Krieg im gewöhnlichen, traditionellen Verständnis, obwohl er diesen nicht ausschließt. Der Staat ist für die konkrete Durchführung des G’ihad nicht unbedingt erforderlich — zu ihm können Privatleute ebenso wie Repräsentanten des Gewaltmonopols aufrufen. Der Kampf, der das Selbstopfer als Selbstmordattentat immer schon einschloss, dient immer der Erweiterung der muslimischen Gemeinschaft und der Ausdehnung ihrer Macht. Das islamische Recht wiederum entwickelten die Theologen und Gelehrten, die ulama, im Unterschied zu den Rechtsgelehrten des Okzidents in relativer Unabhängigkeit von staatlichen Autoritäten. Darum ist das System der Sharia besonders stark in allen Bereichen des Alltagslebens ausgeprägt (Familie und Ehe, Sittlichkeit im engeren Sinne, Gebräuche des Alltags etc.), weniger jedoch in den im engeren Sinn staatlichen Domänen, die in der Moderne maßgebend geworden sind: Verwaltung und Fiskus. In modernen Termini ausgedrückt: es konzentriert sich auf das Gebiet des Privatrechts. Auf diese Weise ist prinzipiell ein Nebeneinander mit dem modernen europäischen Recht relativ reibungslos möglich.

Das Recht der Sharia wurde als Privatsache nicht wie Privatrecht, sondern gewissermaßen wie Religion gehandhabt. So konnte es im Religiösen überwintern, musste auch nicht von staatlicher Seite reformiert werden, da es jederzeit sich sozusagen ins ganz Private zurückziehen konnte, wo es vom Gewaltmonopol nicht als wirkliche Konkurrenz wahrgenommen werden musste — um von da aus erneut ins Öffentliche des Staatslebens vorzudringen. Die Sharia richtet die Individuen im Alltag zum Selbstopfer zu. Das beinhaltet die besondere Erniedrigung der Frauen, die in geschlechtliche Leibeigenschaft gezwungen sind, und die absolute Ächtung der Homosexualität. Die bekannten Strafen, die für Frauen und Homosexuelle vorgesehen sind und in immer umfangreicherer Form praktiziert werden, haben wie die Verhältnisse, für die sie einmal erfunden worden waren, ihren barbarischen Charakter durchaus gewandelt: Die Menschen, die der Sharia zuwiderhandeln, werden nicht mehr allein darum verstümmelt und zu Tode gebracht, weil sie gegen ein Recht verstoßen haben, das ist gewissermaßen der Anlass; sie werden gefoltert und müssen sterben, weil an ihrem Leid und ihrem Tod die Gemeinschaft erlebt, der kollektive Narzissmus ausagiert werden kann. Ein Erlebnis, das die durch die bürgerliche Gesellschaft verwandelten staatlichen Formen nicht mehr ohne weiteres bieten können. So organisiert die Sharia im Alltagsleben unmittelbare Identität auf andere Weise als der Nationalsozialismus:

Während dieser unmittelbar in die Arbeitsgesellschaft eingreift (auf dem Markt das Recht des Warenhüters, seine Ware frei zu verkaufen, schrittweise zurücknimmt, im Arbeits- und Wehrdienst einerseits und in der Einführung der Zwangsarbeit andererseits ganz aufhebt), setzt der Islamismus bereits jenseits der bürgerlichen Gesellschaft und der Warenzirkulation, auf der Ebene der Elementarform des Staates, der Familie, an. Während der Nationalsozialismus noch gewaltige Massen von Arbeitern integrieren musste und integrieren konnte, um sein Vernichtungswerk in Gang zu setzen, brauchen diese politischen Banden bloß Nachwuchs für permanentes Sucide bombing. Der Arbeitsdienst entfällt: von der Familie direkt in den G’ihad. Die Volksgemeinschaft erlebt der vereinzelte G’ihad-Genosse nur noch, wenn er Gelegenheit zum Lynchmord an einer Ehebrecherin bekommt oder wenigstens bei ihrer öffentlichen Hinrichtung zusehen kann — oder eben wenn al-G’azira über ein Selbstmord-Attentat berichtet. Die Zugehörigkeit zur islamistischen Gemeinschaft ist — im Unterschied zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft — vom Einsatz der Arbeitskraft von vorneherein so gut wie unabhängig. In ihr fühlt sich gebraucht und nicht überflüssig, wer keinerlei Aussicht mehr auf einen Arbeitsplatz hat: Was ihn aber außerhalb dieser ideellen Gemeinschaft und reellen Bande bedroht und der Überflüssigkeit preisgibt, die kapitalistischen Verhältnisse, oder besser gesagt: das Kapitalverhältnis, also das, was heute mit dem Begriff der Globalisierung verschleiert wird, projiziert er auf eine andere ‚Rasse‘, ein Gegen-Volk.

Und hier trifft sich die islamistische Gemeinschaft wieder mit der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Wie sah es doch Mohammed Atta, der Selbstmord-Pilot vom 11. September: die Juden, das seien „die reichen Strippenzieher der Medien, der Finanzwelt, der Politik, und natürlich steckten auch hinter dem Einsatz der Amerikaner am Golf die Juden, hinter den Kriegen auf dem Balkan, in Tschetschenien, überall.“ Sie stecken dahinter und sie sind überall. Wie im Nationalsozialismus die rückwärtsgewandte Blut- und Boden-Ideologie durchaus mit der Verherrlichung und Anwendung von modernster Technologie zusammengehen konnte, wenn nur die abstrakte, ungreifbare Seite des Kapitalverhältnisses in der Gestalt des Juden personifiziert wurde, so konformiert die Blut- und Öl-Ideologie des Islamismus einschließlich Sharia durchaus mit einer konkreten Beteiligung der Rackets an den Finanzmärkten, soweit die Juden als Personifikation jeder negativen Auswirkung dieser Märkte auf die Länder des Islam phantasiert werden.

Zur Geschichte des Suicide Bombing

Das reale Bündnis zwischen Nationalsozialismus und Islam blieb aber bekanntlich ein prekäres Bündnis — und das hat mit der strukturellen und ideologischen Verschiedenheit der Bewegungen zu tun. Die Nazis konnten nicht über ihren eigenen Schatten springen und ihre Rassentheorie im Falle der Araber aufgeben, die nun einmal als minderwertige ‚Rasse‘ festgeschrieben waren: Für sie stellten die Araber kaum mehr als eine Manövriermasse im Kampf gegen die Juden dar; die Islamisten wiederum hatten immer einen religiösen Begriff von Volksgemeinschaft: die umma als Gemeinschaft aller gläubigen Muslime, der die Deutschen eben nicht angehörten. Was beide vereinte, war derselbe Begriff von einem Gegenvolk: wenn dieses Volk vernichtet würde, wäre die eigene Gemeinschaft erlöst. Im Koran sind die Juden zwar zusammen mit den Polytheisten als die feindlichste Gruppe der Ungläubigen gekennzeichnet — aber sie sind eben nur eine feindliche religiöse Gruppe, so wie sie in Palästina zunächst nur eine bestimmte Gruppe von Einwanderern und Kolonisatoren waren. Der Kampf gegen sie mag eine Priorität gebildet haben — er war aber nicht die Voraussetzung für die Erlösung der Muslime aus der Knechtschaft. Dazu wurde er erst in einer bestimmten Konstellation, worin sich die ideologischen Prozesse im Europa der frühen Neuzeit auf der Grundlage des modernen Kolonialismus — unter dem direkten Einfluss deutscher Ideologie — wiederholten: der Konfrontation mit der Obrigkeit — feudalabsolutistischer Staat oder britische Kolonialmacht — konnte ausgewichen werden, indem man die Juden als Verkörperung dessen phantasierte, was hinter den negativ empfundenen Erscheinungen der neuen Verhältnisse steckt.

Das Bündnis zwischen Islamismus und Nationalsozialismus war darum am festesten dort, wo es um die Vernichtung der Juden ging. Dafür steht der seit Beginn der zwanziger Jahre amtierende Mufti von Jerusalem Amin el-Husseini, der ebenso mit der Muslimbrüderschaft wie mit den irakischen Putschisten verbrüdert war. Er ist — und darauf macht Matthias Küntzel nachdrücklich aufmerksam — die zentrale politische Integrationsfigur des Islamismus von der Gründung der Muslimbrüderschaft bis zum Werdegang Jassir Arafats. Seine direkte Beteiligung an der Judenvernichtung ist inzwischen gut dokumentiert [9] (— was aber nichts daran ändern konnte, dass sie innerhalb der Linken und der deutschen Islamwissenschaften weiterhin ignoriert wurde [10]) — weniger gut ist dokumentiert, dass er dafür nach dem Untergang des Nationalsozialismus weder von der westlichen noch von der östlichen Siegermacht zur Rechenschaft gezogen wurde.

Beim Mufti von Jerusalem war es die konventionelle religiöse Funktion seines Amtes, die ihm seine Unabhängigkeit von den real existierenden Staaten ermöglichte und darum auch erstaunliche politische Flexibilität in der kontinuierlichen Verfolgung antisemitischer Ziele. In Organisationen des Gùihad wie der Muslimbrüderschaft aber wuchs eine Form des Rackets heran, die gerade auf jene Unabhängigkeit und Flexibilität hin strukturell ausgerichtet war. Die Muslimbrüderschaft ging nicht im Staat auf wie die NSDAP, sie operierte unabhängig vom Gewaltmonopol mit ihrer eigenen Rechtssprechung. So stellte sie zwar aus ihren Reihen die Mehrheit der Offiziere, die in Ägypten putschten, darunter den neuen Staatsführer Nasser selbst. Als dieser aber unter den Einfluss der Sowjetunion geriet, konnten die islamistischen Kräfte ihre NGO-Strukturen weiter entwickeln, ihre Racketformen erproben und ihre Unterwanderungsaktivitäten entfalten. Diese Konstellation von Bruderschaft und Staatsführung, NGO und GO, kehrt ständig wieder: im Verhältnis von Fatah und PLO ebenso wie in dem von Hamas und PLO: immer aber trägt längerfristig die NGO den ideologischen Sieg davon und prägte die wenigstens ansatzweise säkular orientierte Organisation um. Das sacrifice bombing, mit dem die Hamas 1994 begann, war das entscheidende Mittel, sich gegenüber der PLO zu profilieren: Es wurde von den anderen, ursprünglich nicht unbedingt religiös dominierten Organisationen übernommen. So ist es nur logisch, dass sich die PLO-Kämpfer Fida’ijjin nennen: die Sich-Opfernden. Ähnliches gilt in modifizierter Form sogar für das Verhältnis der beiden Staaten Iran und Irak: Während dieser seit dem Machtantritt der Baath-Partei am nationalsozialistischen Führerstaat ausgerichtet war, erschien jener zunächst wie eine kurzfristig unter der Leitung des Ayatollah Khomeinis zustande gekommenes Arrangement verschiedener Rackets. Keinem der beiden gelang es, im konventionellen Sinn zu triumphieren und den Gegner niederzuzwingen. Dafür aber gewannen beide mehr und mehr Halt darin, einerseits die Formen des Selbstopfers und des Einsatzes von Vernichtungswaffen ideologisch zu verwerten und andererseits die NGOs der Vernichtung mit Geld und Waffen im Kampf gegen Israel zu unterstützen. Aus den Gegnern wurden Konkurrenten im Kampf gegen den Zionismus. Selbstopfer und Antisemitismus Wenn also Attentate, wie die von New York, Moskau und Bali, in letzter Instanz ihren Fluchtpunkt in der Zerstörung Israels als der Zufluchtsstätte aller Juden haben, so sind sie doch nicht gleichzusetzen mit den Anschlägen auf und in Israel selbst. [11]

Das ist das Zentrum, und wer sich hier befindet oder wer, weil er Jude oder Jüdin ist, mit Israel identifiziert wird, sieht sich dem Vernichtungswahn unmittelbar wie niemand sonst ausgeliefert. Und insofern unterscheiden sich die Anschläge in New York und Tel Aviv dann doch, obwohl sie im Innersten zusammengehören: Dieser steht ganz für sich selbst, während jener immer erst auf das Judentum bezogen werden muss und auf verschiedene Weise auch bezogen werden kann: So ist ja auch die Legende weitverbreitet, der israelische Geheimdienst habe den Anschlag verübt und rechtzeitig alle Juden gewarnt, die im World Trade Center arbeiteten. Es war immer ein Kennzeichen des Antisemitismus, dass er einerseits in der Praxis der Verfolgung ganz präzise auf seine Opfer zielt, andererseits aber nur sehr undeutliche Hinweise auf deren Identität gibt, die jeder als Anregung zur Weiterentwicklung des Wahns aufgreifen soll.

Mit der Gründung des Staates Israel hatte sich die Konstellation des Antisemitismus gewissermaßen verkehrt und war doch identisch geblieben: denen man immer vorwarf, dass sie keinen Staat hatten und auch nicht haben könnten, weil sie zum Opfer für den Staat nicht fähig seien, gerade sie bauten nunmehr einen einheitlichen Staat auf, den sie auch erfolgreich gegen alle Angriffe von außen verteidigten; die den Hass auf die Juden jetzt am meisten schürten, konnten hingegen das erstrebte homogene, alle Antisemiten der Region umfassende Staatsgebilde nicht hervorbringen, sondern immer nur einzelne Staaten, die entweder mit äußerster innerer Gewalt zusammengehalten werden oder in Bandenkriegen zerfallen, und untereinander kein stabiles Bündnis zusammenbringen. Im Vergleich zum deutschen Nationalismus kommt es zu keiner wirklichen Homogenisierung. (Jenes nationale ‚Sein‘, das unabhängig von der staatlichen Verfassung und den legalen Institutionen gedacht und gefühlt wird, bleibt in sich selbst deutlich gespalten: Sunniten und Schiiten bilden im islamischen Raum einen unvergleichlich schärferen Gegensatz als Protestanten und Katholiken innerhalb Deutschlands oder Europas; die Gemeinschaft des Glaubens hat es auch nicht vermocht, arabische und nichtarabische Nationalismen zu verschmelzen: Araber, Perser und Türken stehen sich entschieden fremder gegenüber als einmal Bayern, Preußen und Österreicher — und heute Deutsche, Franzosen und Italiener.) Gerade das in sich Zerfallene, das Nation nicht erreichen und Homogenität nicht herstellen kann, aber auf Homogenität und Nation umso fanatischer zielt, ist auf eine neue, intensive Weise auf Antisemitismus ausgerichtet. Diese eine Projektion ist noch imstande, die entscheidende Vermittlung zu leisten. Das als metaphysischer Feind phantasierte Judentum ermöglicht die innigen Beziehungen der konkurrierenden Banden zueinander und zu den existierenden Staaten, der Rackets und Regierungen zur jeweiligen Staats-Bevölkerung, der reichen Bürger zu den armen Massen, der stabilen Staatsgebilde zu den zerfallenden Semi-Staaten. Mit einem Wort: Der Antisemitismus schafft jene Identität, die alle Gegensätze der Region unter sich vereint, die Einheit in der Zersplitterung. Er schafft sie, indem er sie wie ein Waffe auf Israel und dessen Schutzmacht ausrichtet. Diese eigenartige Konstellation im Islamismus führt umgekehrt auch dazu, dass jenes absolute Feindbild, das allein Einheit stiften kann, selbst nicht mehr so homogen erscheint und genau definiert wird, wie es den modernen europäischen Antisemitismus kennzeichnet.

Es gibt keinen „Arierparagraphen“ und keine „Nürnberger Gesetze“ — denn auf dieser organisatorisch kodifizierten und staatlich rechtlichen Ebene operieren die islamistischen Rackets gar nicht. Der Feind ist derselbe, die Bedrohung wird anders phantasiert: Die Not führt man nicht auf die Assimilation der Juden zurück wie im europäischen Antisemitismus, denn die Juden haben inzwischen einen eigenen Staat. Was immer dieser Staat auch unternimmt, er ist es, der die Not in der Region und in der ganzen Welt herbeiführt. Aber dieser phantasierte Staat wird sozusagen in jedem einzelnen Juden verfolgt und bekämpft. Durch die Zuordnung zu Israel erübrigt sich jede weitere Definition des Judentums. Rassenkunde wird eingespart; nebenher bezeichnet man die Juden des öfteren als Affen und Schweine, das genügt. Von einem rein religiösen Judenhass zu sprechen, worin sich die Islamisten von den Nationalsozialisten positiv unterscheiden würden, verkennt damit das Wesentliche: die Ausrichtung islamistischer Ideologie auf die physische Vernichtung der Juden, die an den Nationalsozialismus unmittelbar anschließt. [12] Sie allein lehrt, dass die rassistische Festlegung auch dort am Werk ist, wo von Ungläubigen statt von Rasse gesprochen wird; dass hier vielmehr die frühen religiösen Formen des Judenhasses mit den eliminatorischen unmittelbar zusammenfallen.

Die Selbstmord-Rackets wollen — im Unterschied zum traditionellen Islam — nur noch mit dem Tod missionieren. Wenn Carl Schmitt 1932 formuliert, dass die „politische Einheit gegebenenfalls das Opfer des Lebens verlangen“ müsse, dann enthält dieser Satz bereits die Drohung der Vernichtung: Wer zum Opfer nicht bereit ist, dessen Vernichtung wird dem Selbstopfer Sinn geben, wenn die politische Einheit gewaltsam geltend gemacht werden soll. Festgestellt muss da nur noch werden, wer im einzelnen zum Opfer nicht bereit ist und genauer auch: warum. Religiöse Denkformen haben längst bestimmt, um wen es sich hier handelt. Die Juden gelten dem Christentum als das Volk, das sich nicht mit dem sich selbst opfernden Jesus identifizieren wollte; die emanzipierten Juden gelten der deutschen Nation als jene Individualisten, die sich auch dem Anspruch des Staates auf das Leben seiner Bürger entziehen.

Soviel Juden auch von den Freiheitskriegen gegen Napoleon bis zum Ersten Weltkrieg ‚für Deutschland‘ gefallen sind, die in der religiösen Denkform eingebrannte Projektion konnte von solchen Tatsachen nicht korrigiert werden, bildete sie doch bereits das einheitsstiftende Prinzip der Nation. Der Deutsche, der sich opfert, wird nach Fichtes Reden an die Nation erst zum wahren Staatsbürger — er geht damit aber in jene Ewigkeit des Volkes ein, in die er schon immer hineingeboren ward. „Dies ist seine Liebe zu seinem Volke (...) mit der Abstammung daraus sich ehrend.“ [13] Es ist „Göttliches“ in ihm erschienen, und „das Ursprüngliche hat dasselbe gewürdigt, es zu seiner Hülle und zu seinem unmittelbaren Verflößungsmittel in die Welt zu machen; es wird darum auch ferner Göttliches aus ihm hervorbrechen. Sodann tätig, wirksam, sich aufopfernd für dasselbe. Das Leben, bloß als Leben, als Fortsetzen des wechselnden Daseins, hat für ihn ja ohnedies nie Wert gehabt, er hat es nur gewollt als Quelle des Dauernden; aber diese Dauer verspricht ihm allein die selbständige Fortdauer seiner Nation; um diese zu retten, muß er sogar sterben wollen, damit diese lebe, und er in ihr lebe das einzige Leben, das er von je gemocht hat.“ [14] Im „Gemüte“ dieses Bürgers „lebt die Liebe des Ganzen, dessen Mitglied er ist, des Staates und des Vaterlandes, und vernichtet jede selbstische Regung.“ [15]

In der Verweigerung des Opfers aber, die man den Juden unterstellte, sah man nicht zuletzt das Beweisstück, dass die Juden nicht konkrete Deutsche werden konnten, dass die Assimilation scheitern musste. Die Juden erfüllten nach ihrer politischen Emanzipation als einzige Gruppe in Europa die Bestimmung von Staatsbürgerschaft als rein politischer Abstraktion — denn ihnen wurde das Entscheidende abgesprochen, das sie einzig zu konkreten Deutschen machen konnte: der Wille zum Nichts. Christentum und Islam unterscheiden sich wesentlich vom Judentum gerade in der Frage des Opfers — in der Frage, den Opferkult am eigenen Leib und zugleich vergeistigt zu reaktivieren: im Christentum durch die Gestalt des Sohn Gottes, der sich opfert und dessen Opferung die christlichen Märtyrer und Asketen nacheifern. Im Islam, der ja den Status von Jesus als Sohn Gottes nicht anerkennt, kehrt dessen Selbstopfer unter anderem Namen wieder im Märtyrertod des Gùihad, der die sofortige Erlösung des sich Opfernden bringt und die Entwertung des irdischen Lebens voraussetzt. [16] Die Schwäche der Juden, so hört man aus den Reihen der Hamas, bestehe darin, dass sie das Leben mehr als irgendwelche anderen Leute lieben und es vorziehen, nicht zu sterben. [17]

Die Märtyrer der Suicide-Rackets und die Soldaten der Israel Defense Army, islamistische Selbstmordattentate und israelische Verteidigungspolitik markieren demnach den äußersten Gegensatz – und darin spitzt sich die Geschichte der politischen Gewalt zu: Während die einen die Erlösung aus der irdischen Not für sich selbst wie für ihr „Volk“ in der Vernichtung suchen, suchen die anderen nichts, als das Schlimmste zu verhindern. Und das Schlimmste zu verhindern ist die unbedingte Voraussetzung dafür, dass einmal im Konkreten und Irdischen wirkliche Versöhnung möglich wäre.

[1Spiegel 36/2002, S. 117

[2„(...) Wir versprechen, daß, inschallah, man bald davon hören wird, was wir mit den Brüdern der Juden, den Russen, tun werden als Rache für al-Aqsa. (...)“ Statement des Militärkommandos der tschetschenischen Mudschaheddin vom 7. 10. 2001; in: Reuven Paz: The Chechen Islamists and the Palestinian Intifada. Herzliya 2000; zit. n. Christoph Reuter: Mein Leben ist eine Waffe. Selbstmordattentäter – Psychogramm eines Phänomens. München 2002, S.339

[3Vgl. Esther Schapira: Wer erschoß den Jungen Mohammed Al Dura? In. Frankfurter Rundschau, 12.1.2002

[4Kanan Makiya: Republic of Fear. London 1990 [91 ???], S. 52; Zit. n. Arras Fatah: Der postkoloniale Staat Irak und der Ba’thismus als Nationsbildungsprojekt. In: Thomas von der Osten Sacken/Arras Fatah (Hg.): Saddam Husseins letztes Gefecht? Der lange Weg in den III. Golfkrieg. Hamburg 2002, S.66

[5Bachtyar Ali: Vom Willen des Mordens zum Willen der Vernachlässigung. Eine Untersuchung über die Quellen der Anfal-Operationen. In: Rahand. Zeitschrift für Theorie, Kultur und Analyse. (Stockholm) 7/1999, S.175

[6Thomas von der Osten-Sacken/Thomas Uwer: Ideologie und Terror. In: Thomas von der Osten Sacken/Arras Fatah (Hg.): Saddam Husseins letztes Gefecht? Der lange Weg in den III. Golfkrieg. Hamburg 2002, S.118

[7„Während eine atomisierte und durch Sanktionen ausgepumpte Bevölkerung den Großteil ihrer Zeit mit der Jagd nach Brot verbringt, funktioniert ein ineffektiver Verwaltungsapparat dank der Sanktionen zu niedrigen Kosten; ein Zeichen der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des irakischen Staats an die veränderten Zeiten und Umstände. Diese Flexibilität ist nicht das Produkt irgendeiner bewußten staatlichen Politik. Sie ist eine Überlebensstrategie. Zum einen hat die drastische Reduzierung des Einkommens der Beamten zu weitverbreiteter Abwesenheit und Landesflucht geführt. Das Resultat ist eine weniger kostspielige Verwaltung (...) Außerdem hat der Revolutionäre Kommandorat, unter dem Vorwand, sich auf die Sanktionen einzustellen, die Praxis der Selbstfinanzierung eingeführt, selbst für solche Institutionen wie staatliche Krankenhäuser und Kliniken, weiterführende Schulen und Institutionen, die grundlegende Dienste bereitstellen.“ (Isam al-Khafaji: Der Mythos vom Ausnahmefall Irak. In: Thomas von der Osten Sacken/Arras Fatah (Hg.): Saddam Husseins letztes Gefecht? Der lange Weg in den III. Golfkrieg. Hamburg 2002, S.171f.

[8Christoph Reuter: Mein Leben ist eine Waffe. Selbstmordattentäter – Psychogramm eines Phänomens. München 2002, S.108

[9Vgl. hierzu Klaus Gensicke: Der Mufti von Jerusalem Amin el-Husseini und die Nationalsozialisten. Frankfurt am Main 1988

[10Vgl. hierzu Matthias Küntzel: Djihad und Judenhaß. Über den neuen antijüdischen Krieg. Freiburg 2002, S.151 ff.

[11Auf diese notwendige Differenzierung haben mich Simone Dinah Hartmann und Florian Markl nachdrücklich aufmerksam gemacht.

[12Vgl. hierzu die vielen Fakten, die Robert Wistrich bereits in seinem Buch Der antisemitische Wahn. Von Hitler bis zum Heiligen Krieg gegen Israel (Ismaning bei München 1987) gesammelt hat.

[13Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. [1808] Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Berlin 1845/46, Bd. VII, S.383

[14Ebd.

[15Ebd. S.431

[16„Und glaubet nicht, die für den Pfad Gottes getötet worden sind, seien tot; nein, sie sind lebend, bei ihrem Herrn werde sie versorgt.“ (Sure 2, 163) „Den Tod kostend ist jede Seele und euer Lohn soll euch vergolten werden am Tag der Auferstehung (...) Nichts weiter ist das Leben hinieden als ein trügerisches Gerät.“ (Sure 2, 182) El Koran das heißt Die Lesung. Die Offenbarungen des Mohammed ibn Abdallah des Propheten Gottes. Zur Schrift gebracht durch Abdelkaaba Abdallah Abu-Bekr übertragen durch Lazarus Goldschmidt im Jahre der Flucht 1334 oder 1916 der Fleischwerdung. 2. Aufl. Wiesbaden 1995, S.82f.

[17So der Hamas-Sprecher Ismail Haniya gegenüber der Washington Post. Zit. n. Thomas Friedman: Suicidal Lies. New York Times, 31.3.2002

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