Café Critique, Jahr 2002
September
2002

To know the worst

Über den kategorischen Imperativ Adornos im Zeitalter des suicide bombing

Das Ganze ist das Unwahre bedeutet das Gegenteil von: alles ist eins. Nicht von ungefähr hat Adorno dem zweiten Teil der Minima moralia das Motto (von F. H. Bradley) vorangestellt: „Where everything is bad / it must be good / to know the worst.“ Der kategorische Imperativ, den Adorno später in der Negativen Dialektik formulierte: Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, ist in dieser zweifachen Weise zu verstehen. Zum einen fordert er die Wendung gegen das Ganze – da es die Bedingung der Möglichkeit von Auschwitz ist; zum anderen, unter dieser Bedingung („im Stande der Unfreiheit“, sagt Adorno), solange sie währt, the worst, die Realisierung der Möglichkeit, zu verhindern. Das eine ist aber nie vom anderen zu isolieren: nur wer begreift, daß das Ganze das Unwahre ist, wird nicht verdrängen, daß es das Furchtbarste darin allein geben kann, weil alles im Schlechten verharrt - der es ausspricht eingeschlossen.

Zur Kritik der reinen Analogie

Die Analogie darf den Zusammenhang nicht verstellen: Je williger die islamistischen Selbstmordattentäter sich erweisen, Auschwitz zu wiederholen, desto weniger beziehen sie ihre Motive aus dem Koran - was immer sie auch daherbeten mögen. Und im gleichen Maß bleiben sie bei ihrer Umsetzung, sobald sie über punktuelle Massaker hinausgehen werden, wenn nicht (mehr) im Technischen, so jedenfalls weiterhin im Politischen auf Unterstützung jener Welt angewiesen, die einmal Mein Kampf herausgebracht hat. Von dieser Beziehung hängt alles ab.

Entscheidend ist also die Frage, in welchem Verhältnis Denken und Handeln, die Voraussetzungen des Denkens wie des Handelns – nicht allein gewisse ideologische Inhalte, sondern auch die politisch-ökonomische Konstellation ihrer Formen - zu den Bedingungen von Auschwitz stehen. Bedingung der Möglichkeit von Ideologiekritik wäre, daß nicht alles Ideologie ist.

Die sogenannten Selbstmord-Attentate fanden bisher in den USA oder Israel statt. In Europa aber und insbesondere in Deutschland ist man mit ihrer Interpretation befaßt: sie werden in moralischer Hinsicht vor allem als „Verzweiflungstaten“ oder übertriebene, aber irgendwie bewundernswerte Formen des Heroischen; in ästhetischer Hinsicht was New York betrifft auch als etwas „Erhabenes“ – wenn nicht gar als „Gesamtkunstwerk“ - gedeutet. Im Falle des Anschlags auf das World Trade Center wird immer wieder die Frage gestellt, was daran antisemitisch sein könne, schließlich hätten die beiden Türme nicht in Tel Aviv gestanden. Die einen fragen nach Beweisen für den antisemitischen Charakter des Anschlags auf das World Trade Center – die anderen bezweifeln, daß selbst die fortwährenden Attentate in Israel antisemitisch seien.

Die Annahme, daß die Menschen, die im World Trade Center arbeiteten oder an der Ostküste leben, den Tätern darum als Feinde gelten, weil sie – einer pathischen Projektion zufolge – entweder zum Judentum gehören oder das Judentum unterstützen, ist aber prinzipiell nicht zu widerlegen. Zu fragen wäre, worin oder wodurch Antisemitismus überhaupt beweisbar sein kann, schließlich handelt es sich hier nicht um eine mathematische Gleichung, sondern um eine pathische Projektion. Die Shoa ist ein Resultat; die Menschen, die ermordet wurden, bezeichneten sich selbst als Juden oder wurden von anderen als solche identifiziert. Allein darum, weil das Identifizieren selbst dem wahnhaften Bewußtsein entspringt, ist die Suche nach den Motiven immer mehr als eine detektivische Aktivität; als ideologiekritisches und zugleich psychoanalytisches Verfahren kann sie von einem spekulativen Moment nicht absehen – selbst dort, wo wirklich alles manifest geworden ist. Man denke nur an eine Figur wie Eichmann, bei dem bekanntermaßen von ernsthaften Zeugen (z.B. Hannah Arendt) ernsthaft in Frage gestellt wurde, daß er ein Antisemit gewesen sei, seine Taten mit antisemitischem Bewußtsein verübt habe. Es kommt auf den gesamten Zusammenhang an, aus dem die einzelne Tat resultiert.

Was zunächst herausgearbeitet werden kann, ist ein bestimmtes Verhältnis von Täter, Mittel und Opfer. Die Attentate in Israel und in den USA folgen einer Logik – der nicht gerecht wird, wer bloß von Attentaten oder gar Terrorismus spricht. (Die Bezeichnung Terrorismus ist überhaupt Abstraktion im schlechtesten Sinn: wie geschaffen, um von dem abzusehen, was für die Selbstmord-Massaker konstitutiv ist. Darum ist es für die Feinde Israels ein leichtes, den Spieß umzudrehen und von Staatsterrorismus zu sprechen.) Die verschiedenen Gruppen, die sich der neuen Form der Gewalt bedienen, mögen im einzelnen durchaus unterschiedliche Ziele haben. Das Ziel, das sich allein aus dem Mittel ergibt, ist aber immer dasselbe: möglichst viele Menschen zu vernichten – und da die Attentate in Israel und in den USA stattfinden und für Synagogen in aller Welt geplant werden: möglichst viele Israelis, US-Amerikaner und Besucher von Synagogen. Das Mittel ist die Botschaft, und wer sich seiner bedient, ist von ihm schon besessen. (Die naheliegenden Selbstmordattentate der Tamil Tigers richten sich – ähnlich wie die japanischen Kamikaze-Piloten - gezielt auf militärische Einrichtungen oder politische Entscheidungsträger; jene in Kaschmir und in Tschetschenien jedoch sind – von solchen militärisch-politischen Funktionen abgesehen - letztlich auch auf Israel ausgerichtet: „Nach Kaschmir gehen wir Palästina befreien“ – und: die Russen seien „die Brüder der Juden“, lassen die Organisatoren dort verlauten.)

Die Logik kann im einzelnen als Fortsetzung des Pogroms mit anderen technischen Mitteln, im ganzen als Privatisierung staatlicher Vernichtungsaktionen betrachtet werden; die Intention wird ohne direkte Verfügung über das Gewaltmonopol des Staates verfolgt – so hat die Aktion selbst den Anschein von Ohnmacht und bietet sich der Deutung als „Verzweiflungstat“ an. (Auch die ‚klassischen‘ Pogrome wurden übrigens stets als Handlungen von desperaten, verschuldeten und hungernden Handwerkern und Bauern gedeutet, wobei die Betonung des verzweifelten Charakters der Taten deren tiefes Einverständnis mit den repressivsten Interessen des Staats verdecken sollte.) Das moderne Selbstmord-Racket braucht auch – von kleinen Sendern und Videoproduktionen abgesehen - kein Propagandaministerium, denn seine Taten sind selbst identisch geworden mit Propaganda und nutzen nach außen die internationalen Medien als Reklameapparat; wie ja auch im übrigen die Palästinenser - soweit sie sich als Volk verhalten, d.h. den Staat verinnerlicht haben - ähnlich wie die Albaner den Maßgaben dieser Medien auf neue und unmittelbare Weise zu entsprechen suchen: sie sprengen z.B. ihre Häuser in die Luft, um den „Vernichtungskrieg“, den die deutsche Öffentlichkeit den Israelis bereits als Vorhaben unterstellt hat, dann auch glaubhaft zu vermitteln.

Selbstmord-Attentäter realisieren jeder für sich, eingebunden in Gruppen, aber relativ unabhängig von den wirklich existierenden Staaten, was einmal die deutsche Volksgemeinschaft mit dem eigenen Staat vollkommen verwachsen umzusetzen wußte: Vernichtung um jeden Preis als Antwort auf die Krise. Die Voraussetzungen jedoch könnten verschiedener nicht sein - und hier liegt das Wahrheitsmoment jenes von den vernichtenden „Märtyrern“ am eigenen Leib vorgeführten Ausdrucks von Ohnmacht im Vergleich zur totalen Macht des nationalsozialistischen Vernichtungsapparats: auf der einen Seite eine im Ökonomischen einzigartig homogen strukturierte Nation auf dem Sprung zur Weltmacht, mit einem industriellen Potential und einer Produktivität ohnegleichen: Deutschland vor den beiden Weltkriegen – auf der anderen Seite: eine kaum zu überschätzende Heterogenität in und zwischen Staaten, die allesamt außerhalb der Metropolen des Kapitals situiert sind - von denen jedoch einige vor allem aufgrund der Bedeutung der Erdölproduktion ziemlich weit oben, die anderen aber weit unten auf der Stufenleiter des Reichtums stehen. So sehr die gesellschaftliche Lage in den Heimatländern von politischem Islamismus und deutscher Ideologie differiert, so sehr hat sich die Konstellation von Weltmarkt und Nationalstaat überhaupt gewandelt.

Der Schlüssel, der hier Gemeinsamkeit und Differenz kenntlich machen könnte, liegt vermutlich in diesem Begriff des Rackets. Racket bedeutet ursprünglich „Erpresserbande“ ebenso wie „Selbsthilfegruppe“ und „Wohltätigkeitsverein“. Was aber Max Horkheimer (in seinen Aufzeichnungen zur Dialektik der Aufklärung) bewogen hat, den Begriff seinerzeit auf die mit dem Nationalsozialismus anbrechende Ära anzuwenden, ist die Politisierung dieser Bandenstruktur, ihre Legierung mit staatlicher Herrschaft – „als der echte Leviathan“, missing link für die kritische Theorie des Staats: Der Nationalsozialismus, der auf der einen Seite wie ein monolithisch strukturiertes „Staatssubjekt Kapital“ (Heinz Langerhans) erscheint, ein vollkommen integriertes und alles integrierendes Gebilde totaler Durchstaatlichung, enpuppt sich auf der anderen Seite als in sich vollkommen Zerfallenes, als ein „Unstaat“ und „Chaos“ (Franz Neumann), worin die Rackets in rasenden Konkurrenzkämpfen die Vernichtung vorantreiben.

Im Sucide bombing kulminiert hingegen eine gesellschaftliche Ordnung, in der jene Seite des integrierten Staatssubjekts zur Gänze weggefallen scheint: das macht es den westlichen Ideologen so schwer, den Totalitarismusbegriff weiter anzuwenden wie einst im Kalten Krieg; darum muß George Bush dumpf moralisierend vom Krieg gegen das „Böse“ schwadronieren, wenn er Bin Ladens Al-Qaida-Racket ins Auge faßt (und angesichts von eher disparatet, statt totalitär homogenisierter Strukturen von „Schurkenstaaten“ sprechen). Aber in Wahrheit handelt es sich um eine Art Inversion: was einmal als totaler Staat behauptet werden konnte, ist in den Rackets aufbewahrt: als gemeinsames inhaltliches Telos jeder einzelnen Handlung, die nunmehr aber in privatisiert vereinzelter Form vollzogen wird – sei’s von Hisbollah, Hamas, Al-Qaida oder wie diese NGOs der Vernichtung alle heißen. Soweit sich die Rackets überhaupt zum Gewaltmonopol des Staats zusammenschließen und verallgemeinern können, fehlt ihnen das ökonomische Potential, die Vernichtungsanstrengung als Staat nach außen hin fortzusetzen – und so sieht sich ein solcher Staat darauf reduziert, wieder nur einzelne Rackets zu unterstützen, die außerhalb des eigentlichen Gewaltmonopols, aber in z.T. sehr enger Verbindung mit der Bevölkerung („Wohltätigkeitsverein“!) operieren. Bei einem technischen Standard allerdings, der kleine Massenvernichtungswaffen herzustellen erlaubt, ist dieser doch fundamentale gesellschaftliche Unterschied zum nationalsozialistischen Vernichtungsstaat auf Dauer jedenfalls wenig beruhigend. Suicide bombing ist das Furchtbarste in kleinen Dosen. Aber die Dosis kann eben jederzeit erhöht werden. Wie die Shoah nicht auf die industrielle Menschenvernichtung reduziert werden darf (Goldhagens Studie hat darauf nachdrücklich aufmerksam gemacht), so falsch wäre es, prinzipiell davon auszugehen, daß die Wiederholung von Auschwitz in denselben Formen stattfände – und das heißt auch: im selben Zeitraum. Gerade der schleichende Charakter, für den das Selbstmord-Attentat steht, verdunkelt alles.

Von dieser Phänomenologie des Selbstmord-Attentats aus erscheint die islamische Religion selbst eigenartig nachgeordnet. Das vielberedete Paradies mit den Jungfrauen, wohin sich der Selbstmord-Attentäter qua Vernichtung transferieren möchte, ist sekundär. Primär ist das Mittel: die Vernichtung – gemeinsames Programm aller Rackets im Kampf gegen Israel, seien sie nun ursprünglich religiös motiviert oder nicht. Der Erlösungsglauben ist, ähnlich wie im Verhältnis von Christentum und Nationalsozialismus, von der positiven Religion in gewisser Weise verselbständigt – und geht in der Vernichtungsaktion selber auf: suicide bombing müßte sacrifice bombing heißen. Um aus dem gegenwärtigen Zustand der Not erlöst zu werden, gilt es dem Wahn zufolge, einen metaphysischen Feind physisch zu vertilgen, denn dieser Feind verkörpert die ungreifbare Herrschaft des Kapitals, die nicht zu Bewußtsein kommen darf. Der positive Zustand, der erreicht werden soll, verliert demgegenüber an Gewicht: die physische Vernichtung wird wichtiger als der metaphysische Zweck: darin haben die neuen Märtyrer den historischen Islam hinter sich gelassen. Daß die Vernichtung keine Grenzen kennt, die Erlösung nichts als Vernichtung beinhalten könnte, kalkuliert diese negative Form der Heilserwartung von Anfang an ein und bestätigt es in der Bedeutung, die der Planung bei der Opferung der eigenen Person zukommt: statt ins Paradies kommt sie aufs Videoband. Allah ist nur mehr eine Arabeske für das Nichts.

Der Islam ist aber nicht zufällig geeignet, zur Alltagsreligion des suicide bombing zu werden. In seiner Genese dem Christentum eng verwandt, was die Abwehr des Judentums betrifft, aber dafür disponiert, die Religion von Gemeinwesen zu werden, die massenhafte Armut nicht mildern oder gar beseitigen, sondern nur verwalten und legitimieren können, bietet er die besten Voraussetzungen für den Export des Antisemitismus aus dem Abendland an die Peripherie und die Fortsetzung der Vernichtung mit anderen Mitteln. So gemäßigt ursprünglich sein antisemitisches Potential im Vergleich zum Christentum erscheint, so wenig Widerstand kann er in seiner fundamentalen, das Christentum noch übertreffenden Entwertung des Diesseits dem Vernichtungswahn entgegensetzen, der ihm vom Nationalsozialismus angetragen wird.

Der Antisemitismus leistet wie immer die entscheidende Vermittlung. Denn die islamische Religion läßt sich nur durch den verallgemeinerten Judenhaß zum konsequenten Antizionismus zurichten; das als metaphysischer Feind phantasierte Judentum stiftet allein die innigen Beziehungen der konkurrierenden Banden zueinander und zu den existierenden Staaten, der Rackets und Regierungen zur jeweiligen Staats-Bevölkerung, der reichen Bürger zu den armen Massen, der stabilen Staatsgebilde zu den zerfallenden Semi-Staaten. Mit einem Wort: der Antisemitismus schafft jene Identität, die alle Gegensätze der Region unter sich vereint, die Einheit in der Zersplitterung. Er schafft sie, indem er sie wie ein Waffe auf Israel und dessen Schutzmacht ausrichtet.

Nachtrag zur Totalitarismustheorie

Wenn Antiimps und Neonazis einander näher kommen und bestimmte Artikel aus der Jungen Welt bei der Jungen Freiheit Lob erhalten – dann scheint die Totalitarismustheorie sozusagen post festum Plausibilität zu gewinnen. Die späte Selbsterkenntnis, daß Linke Antisemiten sein können, hat ja auch den Staatskommunismus ins rechte Licht gerückt: die antisemitischen Tendenzen nach der Oktoberrevolution wären als Folge davon zu begreifen, daß die erhoffte Weltrevolution ausblieb; daß dieser Sozialismus den Staat eben nicht abschaffen wollte oder konnte. Das stellt ihn aber noch nicht mit dem Nationalsozialismus auf eine Stufe.

Der Antifaschismus garantierte hier vielmehr eine beschränkte Form von Rationalität, der jener auf totale Vernichtung angelegte NS-Staat von Anfang an gespottet hat - und die sich zuletzt in dessen Niederschlagung bewährte. Dem Bündnis mit den westlichen Alliierten folgte der Kalte Krieg gegen sie, der jedoch wie eine Art negatives Bündnis wirkte: die Prämissen jener restringierten, weil staatlich vermittelten Vernunft wurden unter der beständigen Drohung, Konflikte mit atomaren Massenvernichtungsmitteln auszutragen, beibehalten. Anders gesagt: der Wahn, der auch im sozialistischen Staat den Staatsbürger erfassen und im Pogrom kulminieren konnte, fand bestimmte Grenzen, die durchaus mit den Notwendigkeiten einer staatlichen Ordnung zusammenhingen – einer Ordnung, die eben nicht auf totale Vernichtung ausgerichtet war, sondern kontinuierliche Reproduktion zu sichern suchte. Auf diese Weise konnte die Sowjetunion bei aller Unterstützung der Aggressionen gegen Israel innerhalb der arabischen Welt ein gewisses Gegengewicht zum politischen Islamismus bilden, der sich am Erbe des Nationalsozialismus immer sehr interessiert zeigte; die realsozialistische Macht mit ihrem Bündnissystem erlaubte in bestimmten Grenzen die Regulierung der Konflikte; Kriegshandlungen wurden zwar keineswegs verhindert, konnten aber immer wieder eingedämmt werden; Intifada bedeutete Steinewerfen, nicht suicide bombing. Das Paradox des „Sozialismus in einem Lande“ also lautete: die Existenz des Staates, deren Legitimierung auf Antisemitismus nicht verzichten konnte, setzte ihm selbst auch - nach außen wie nach innen hin - gewisse Schranken. All das hat sich nach 1989 erledigt: Da der Sozialismus (so gut wie) keinen Staat mehr besitzt, droht tatsächlich die einst entscheidende Differenz zu verschwinden. Und die totalitarismustheoretische Gleichsetzung, so falsch sie ist für die Periode zwischen 1917 und 1989, so wahr ist sie als Menetekel der Linken - Zeichen dafür, was diese Linke im Begriff ist zu werden: eine Hilfstruppe des Vernichtungswahns.

Allerdings hat sich damit ebenso die Position des Westens verändert: die Rationalität der zunächst antifaschistischen, dann antikommunistischen Supermacht kann sich unter den neuen Bedingungen ihrerseits nicht einfach ungebrochen fortsetzen. Meint die Solidarität mit Israel in der Identifikation mit den Vereinigten Staaten vollständig aufgehoben zu sein, so ist sie nicht mehr bedingungslos und überschätzt tendenziell die dem Westen noch mögliche Rationalität. Denn diese Berechenbarkeit war eben auch gebunden an eine historische Konstellation, an das Bündnis und die Feindschaft mit der Sowjetunion. Das extreme Schwanken der US-amerikanischen Außenpolitk im Falle Jugoslawiens in den neunziger Jahren kann jedem das Gruseln lehren, der bereit ist, in die Situation der im Kosovo lebenden Roma sich hineinzudenken.

Einer Linken, die solchermaßen jeden Halt verliert, bleibt der kategorische Imperativ Adornos ein Stein des Anstoßes, weil er den Bezug auf Auschwitz unabdingbar festhält. Wer sich darauf beruft, dem wird unterstellt, dem sinnlosen Morden nachträglich einen Sinn zu geben. Dabei ist den Opfern der Sinn längst unterzogen - indem „Nie wieder Auschwitz“ als Rechtfertigung für Staat und Kapital in Dienst genommen wird. Jeder müßte wissen, daß es aus diesem Zusammenhang keine Ausflucht gibt, wenn auch keineswegs alle in gleicher Weise in ihn verstrickt sind - und die eingebildete Schuld des überlebenden jüdischen Opfers wie die Lage des weiterhin vom Antisemitismus Betroffenen mit der tatsächlichen Schuld des nazistischen Täters und der Position des sekundären Antisemiten an keinem Punkt zusammenfällt. Die von diesem Zusammenhang nur etwas ahnen, sich aber hüten, ihn bewußt zu machen, werden regelmäßig wütend, wenn jemand ihn ausspricht. So wie der linke Antisemit zwangsläufig bei Israel rabiat wird, da dessen bloße Existenz den Zusammenhang zwischen der Vernichtung der Juden und der Gesellschaft von heute evident werden läßt.

Über Auschwitz sprechen, heißt immer: sich der Gefahr aussetzen, dem, was das Wort bezeichnet, Sinn zu geben. Und eine wirkliche Befreiung der Gesellschaft wäre erst eine, die vom Zwang, den Opfern Sinn zu geben, befreit – aber dennoch in der Erinnerung an sie, im „Eingedenken“ (Walter Benjamin), ihr Bewußtsein gewinnt. Sie scheint heute ferner denn je. Ein Denken allerdings, das sich seiner Voraussetzungen bewußt werden soll, müßte wenigstens in der Realität selbst diesen Zwang zum Sinn erkennen – etwas also, das von ihm nicht einfach durchgestrichen und weggeschwiegen, sondern nur darin negiert werden kann, daß es in seiner Notwendigkeit für das falsche Ganze kenntlich wird.

In der deutschen Linken gab es kaum je einen Versuch, jenen aus der postfaschistischen Konstellation notwendig entspringenden Selbsthaß in eine Form zu bringen, die Reflexion ermöglicht; die Schuldgefühle nicht abzuwehren, sondern in Selbstmißtrauen zu verwandeln, wie Jean Améry es einmal forderte – und mit dieser Forderung ganz allein blieb. Stattdessen entwickelt man verschiedene Formen der Rationalisierung: Dem Bewußtsein soll dabei stets die Illusion vermittelt werden, entweder restlos außerhalb des von ihm betrachteten Zusammenhangs zu stehen, so daß es auch den Widersprüchen darin enthoben wäre und von Parteinahme erlöst – oder, was dasselbe ist: ganz in ihm unterzugehen. Soviel Einerlei war nie: sei’s unter dem Begriff der Globalisierungsfalle, des imperialistischen Weltpolizisten oder der finalen Krise der Warenproduktion.

Wo diese Linke auch hinsieht, sie erkennt immer nur dasselbe und begreift am Ende nichts. Gegen ein solches Sein im Einerlei wäre strikt darauf zu beharren, daß unter dem Gesichtspunkt von Auschwitz Unterscheidungen ebenso möglich wie notwendig sind, daß also der kategorische Imperativ Adornos wirklich einen Sinn hat, ohne Auschwitz darum einen Sinn zu geben.

zuerst erschienen in konkret 9/2002