Streifzüge, Heft 2/2001
Juli
2001

Über die Geburt der „internationalen Staatengemeinschaft“ aus dem Geist von Auschwitz

Der Kosovokrieg hat mit manchem Tabu, das sich dem Zweiten Weltkrieg und den Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus verdankt, aufgeräumt und damit gezeigt, daß er auch als ein Liquidator jener Ereignisse begriffen, in ihrer Tradition interpretiert werden muß.

„Von deutschem Boden soll kein Krieg mehr ausgehen“: dieses mangels genauerer Einsichten, zur Sicherheit quasi, pauschal verhängte Verbot ist aufgehoben worden, und die dadurch möglich gewordene Kriegsbeteiligung Deutschlands ist in der Tat in sich, das heißt speziell für die Beteiligten, so unverständlich, daß dies nur als eine direkte Folge des Verbots aufgefaßt werden kann. Offenbar war der so sicher erscheinende Schwur, der Deutschland auch an jenen bösen Taten hindern sollte, die es nicht sogleich als solche auffaßte, ein Schwur, mehr die Vergangenheit als die Zukunft betreffend: die erstere ruhen zu lassen, auch wenn die letztere dafür sich vollends verrätselt. Wenn heute, nicht zuletzt von den unmittelbar kriegführenden deutschen Instanzen und den sie unterstützenden Medien, die Irrationalität jenes Tabus — das in der Tat nicht anders als irrational sein kann — hervorgehoben und auf seine mangelnde Vereinbarkeit mit der Rationalität des neuerstarkten Deutschlands hingewiesen wird, so enthält dieser Hinweis neben seiner trivialen Wahrheit auch einen groben Fehler: den nämlich, das Tabu, bloß weil es ein Verbot, dazu ein pauschales und also irrationales ist, für einen simplen Störenfried, ein Artefakt in der Welt positiver Fakten zu halten und nicht selbst als ein positives Faktum, ein wichtiges Glied in der Verkettung der Ereignisse anzuerkennen, auf das sich alles Nachfolgende zwangsläufig mit bezieht.

Die unmittelbarste Folge dieses Fehlers ist natürlich die Kriegsbeteiligung selbst. Das haben Tabus so an sich, daß sie nur gebrochen werden können, indem man sie bricht. Eine mittelbare Folge, die aber allseits empfunden wird und deren Spuren in sämtlichen Äußerungen zu finden sind, ist der Zwang zur Überschätzung der Rationalität des neuen Deutschlands. Während die atlantischen Partner lediglich auf die militaristische Seite ihrer Identität zurückgreifen müssen, um über ein ernstzunehmendes Kriegsmotiv zu verfügen, das niemand in Frage stellt, muß die Bundesrepublik, durch den Nationalsozialismus um diese Seite gebracht, um auch nur ein bißchen Krieg führen zu dürfen, unerbittlich im Recht sein. Das Recht kann man indessen aus keinem Krieg herauspressen, aus dem im Kosovo schon gar nicht. Aus diesem Grund aber wird in Deutschland mit einem erheblichen intellektuellen Aufwand Kriegsrechtfertigung betrieben, und es ist kein Wunder, daß in die Mühle der Rationalisierung speziell jene Argumente geraten, die bei dem soeben aufgehobenen Kriegstabu eine Rolle spielten und die jetzt, indem man sie praktisch widerlegt, theoretisch bekräftigt werden. Kernpunkte jener Bestätigung, die zugleich das alte Bild von Deutschland korrigiert: Die Bundesrepublik führt einen gerechten Krieg, und — dies beileibe keine Nebensächlichkeit — sie führt ihn gemeinsam mit den ehemaligen Gegnern des nationalsozialistischen Deutschlands; schon allein aus diesem Grund kann ihr Krieg kein gestriger sein.

Was die direkte rhetorischeVerwicklung des Holocaust in den Rechtfertigungszusammenhang des Kosovokrieges betrifft, so ist die Bundesrepublik dagegen an ihr bloß beteiligt, keineswegs federführend. Schon rein logisch ist diese Verwicklung das Vorrecht republikanisch verfaßter Nationen, Frankreichs zum Beispiel, die die Menschenrechte auf ihr Panier geschrieben haben, während in Deutschland, das von jeher Kritik der Aufklärung betrieb, darüber nämlich wer, wo und warum als Exemplar und Inbegriff der Humanität zu schützen und zu verteidigen sei — eine große Unsicherheit und auch theoretische Unentschlossenheit herrscht. Aber auch praktisch ist die rhetorische Integration des Holocaust in den Zusammenhang des Kosovokrieges das Anliegen eher der, mit Ausnahme Deutschlands, in alter Formation wiederangetretenen NS-Gegner: Während das erstere, von der Last seiner förmlich gutachterlich-politischen Bewährung bereits erdrückt, vor der schroffen, diametralen Umkehrung der ehemaligen Verhältnisse durch eine Identifizierung des Schicksals der Kosovo-Albaner mit dem der europäischen Juden noch zurückschreckt — zumindest merkt man das Erschrecken —, treten die ehemaligen Gegner Hitlers bewußt als Wiederholende auf. Während es in Deutschland Hemmungen gibt, sich selbst, den ehemaligen Spezialisten für Genozid, zu einem zu allem entschlossenen Retter von Völkern zu erklären — wodurch die faktische Beteiligung wie gesagt zu enormen rhetorischen Anstrengungen antreibt —, sind sich die ehemaligen Gegner Deutschlands bewußt, daß, wenn hier der Wiederholungsfall gilt, sie sich vor allem enthemmen müssen. Ideologisch verlieren können sie übrigens nicht groß: Haben sie Erfolg — wobei der, so wie die Dinge stehen, schon gar nicht mehr in vernünftigen Begriffen auszudrücken ist —, dann haben sie aus dem Holocaust gelernt; haben sie bei größter Anstrengung keinen, dann können sie auch damals nicht so viel falsch gemacht haben.

Diese Debatte wird in den Nachbarländern nicht unbedingt staatlicherseits geführt — wenn ein „normaler Staat“ Krieg führt, stellt man nicht zuletzt von hier aus neidisch fest, braucht er nicht zu debattieren —, es ist eine Debatte der Intellektuellen. Bodentruppen einzusetzen ist eine Forderung jener, die entschlossen sind zu beweisen, daß sie aus dem Holocaust gelernt haben, genauer, daß man aus dem Holocaust lernen kann. Gelernt haben wir freilich schon immer: wie er passierte. Jetzt wollen sie zeigen, nicht, was wir gelernt haben, vielmehr, daß Lernen nicht bloß ein theoretisches, sondern auch ein hoffnungsvolles praktisches Tun ist, gewissermaßen stärker als Theorie.

Bereits als der jugoslawische Staat zerfiel, waren die französischen Intellektuellen aufgeschreckt, hatten sie angesichts der ethnischen Säuberungen — zielbewußt ins Werk gesetzten staatlichen Unrechts, exekutiert an als Volksgruppen ausgegrenzten Bevökerungsteilen — die Stunde Null erkannt: jenen Moment, da das in der nachträglichen Konfrontation mit dem Holocaust gegebene Versprechen eingelöst werden mußte: dergleichen nie wieder zuzulassen. Anders als der Satz „Von deutschem Boden soll nie wieder ein Krieg ausgehen“ verhält der kollektive Schwur aller Wohlmeinenden, einer Wiederholung von Auschwitz zu wehren, nicht zu Besonnenheit, bewußter Zögerlichkeit: ein solches Verhalten hatte Hunderttausende, Millionen Juden das Leben gekostet. Er verhält vielmehr zu Wachsamkeit und raschem Entschluß. Auf der Basis dieser Tugenden hatten die französischen Intellektuellen — Peter Handke macht es heute man möchte sagen in der Variante typisch deutscher Gestörtheit nach — alle nur denkbaren Todsünden gegen die Vernunft begangen, nur die eine nicht: wegzugucken. Sie hatten Bescheid gewußt, wo sie doch keine Ahnung hatten; Partei ergriffen, wo das Haarspalterische der Parteibildung selbst auf der Hand lag; Recht gesprochen, wo sie doch selbst Partei waren. Ausgehend von der an sich schon intellektuellen Sünde, der Sünde qua Intellektualisierung, daß bei Auschwitz nicht eingegriffen, sondern zugeschaut, im besten Fall beobachtet, im harmlosesten abgewartet worden war — vom Verdacht des Voyeurismus, der Sekundärbefriedigung zu schweigen —, hatten sie gewissermaßen beschlossen, am heiklen Punkt der Stunde Null nicht mehr Intellektuelle zu sein; obwohl, das ganze Gewicht ihres Aufschreis gründete auf diesem Ruhm, und so bestand der nachweisbare Effekt des Engagements auch wesentlich in der Unruhe, den es stiftete im magischen Dreieck zwischen dem berühmten Namen, der verhängnisvollen Partei, die er ergriff, und der Berufung auf Vernunft.

Den Schaden trägt Auschwitz. Das heißt, wir alle, die wir gemeint haben, aus Auschwitz in irgendeiner nicht bloß rekonstruktiven, nicht bloß analytischen, nicht bloß intellektuellen Weise lernen zu können, in einer Weise, die uns in irgendeiner Form von Schuld und Verantwortung befreit, diese anderen zuweist, können jetzt die Scherben zusammenfegen: Aus Auschwitz kann man nicht lernen, und niemand, indem er antistaatlich und antivölkisch ist und die beiden essentiellen Bestandteile der Genoziddefinition damit vermeidet, ist aus dem Schneider; das Vermiedene holt ihn ein, falsche Einschätzungen da, wo nun mal Fehler passieren, seiner eigenen fundamentalistischen Einschätzung nach aber nicht passieren dürfen, stellen ihn bloß, geben ihn im besten Fall der Lächerlichkeit preis.

Versuchen wir unter diesen trüben Auspizien die Geschichte vom Standpunkt der jüngsten Ereignisse ein bißchen neuer, ein bißchen anders, ein bißchen zeitgemäßer zu begreifen, dann müssen wir uns an die keineswegs mehr junge Behauptung erinnern, der Nationalsozialismus sei kein Rückfall, sondern ein Vorgriff, ein Modernisierungsschub, ja vielleicht sogar in wesentlichen Momenten eine Antizipation gewesen, an deren Realisierung wir immer noch, wenn auch unbewußt und unfreiwillig arbeiten. Daß diese Behauptung in vieler Hinsicht ohnmächtig blieb, wäre in der neuen Perspektive kein Wunder, waren wir doch noch mit der Realisierung dessen beschäftigt, was man bekanntlich erst nachträglich begreifen kann. Was heute im Kosovo und damit erneut im Herzen Europas, da wo es nach den Maßstäben der gemeinen Vernunft nicht stattfinden dürfte, passiert, ist denn auch ein Teil der Realisierung von Auschwitz. Und zwar nicht nur in seiner von allen Parteien vielbeschworenen materiellen Natur, daß es um Völkermord geht. Viel mehr noch in formeller Hinsicht: Im Licht der aktuellen militärischen Strategien stellt sich die Vernichtung der europäischen Juden als nicht nur Mord an einem Volk, sondern zugleich als Herausforderung gegenüber jener ominösen Instanz dar, die in den letzten Jahren als „internationale Staatengemeinschaft“ in Erscheinung getreten ist und gar nichts anderes sein kann als das idealisierte Abbild dessen, was sie hervorgebracht hat. Auschwitz war die zur Bestialität entartete Sonderform eines Universalismus, der seinerseits an eine universelle Instanz appellierte, wie wir sie heute zu beklagen haben. Seine Normalformen, seine Alltagsformen, seine materiellen und ideologischen Differenzierungen hatte dieser Universalismus damals noch gar nicht hervorgebracht; geschweige denn, daß die faschistische Konstruktion des Juden als eines zugleich machtvollen Gegners und erbärmlichen Opfers, eines Kosmopoliten und zugleich stigmatisierten „Volkszugehörigen“ — Angehörigen einer bis in die letzte Filiation zu erkennenden und bis in den letzten Winkel zu verfolgenden „Rasse“ — bereits begriffen beziehungsweise die Konsequenz dieser einzigartigen, für das aufklärerische Rechtsbewußtsein verheerenden Ineinanderblendung von Täter und Opfer realisiert worden wäre. Kein Wunder, hätte zu einem hinreichenden Verständnis doch die Kenntnis der Zukunft gehört, zumindest die zur intimen Erfahrung geronnene Erwartung, sie werde mit Auschwitz zu tun haben, in exakt dem Maß, wie letzteres rätselhaft erschien.

Seit geraumer Zeit haben wir mit dieser Zukunft zu tun; das nachhinkende Verständnis der zuallererst herzustellenden Zusammenhänge bleibt nicht aus. Uns scheint aufregend normal, eben modern, was die Nazis nur in einem irrationalen Gewaltakt vorwegnehmend demonstrieren konnten: daß heute kein Verfolgter mehr seinem Verfolger entgeht und, auf der Basis eines zum Universalrecht gemauserten Volksempfindens, kein Verfolger seinem. Es hat daher unendlich wenig Sinn, wenn wir zum Zweck einer wie auch immer gearteten Unterscheidung, im abgrenzenden oder im vereinnahmenden Sinn auf Auschwitz verweisen: in seinem Bann handeln wir allesamt, mit seiner kleinschrittigen Ausführung, getreu dem Motto „Begreifen durch Nachmachen“, sind wir ausnahmslos befaßt.

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