Grundrisse, Nummer 36
November
2010

Über die Zurichtung von Arbeitskraft im Zeitalter des Neoliberalismus

Oder: Was haben „Bologna-Prozeß“ und Hartz IV gemein?

I: Vorbemerkung

Im Sommer vergangenen Jahres erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel, in dem Gustav Seibt sich mit der Frage befaßt, ob die „Bologna-Prozeß“ genannte Hochschulreform nicht dem gleichen „Geist“ (Seibt 2009) entstammt wie die Hartz-IV-Reform. Seibts Antwort ist ein unmißverständliches Ja. Und doch ist sie etwas unbefriedigend, da er sein Ja mehr assoziativ denn systematisch begründet, was aber nicht heißt, daß Seibts Überlegungen nicht Plausibilität für sich in Anspruch nehmen können. Im Gegenteil. Sobald man sich der Mühe unterzieht, sich mit Seibts These etwas intensiver auseinanderzusetzen, kommt man nicht umhin einzugestehen, daß zwischen der Hochschul- und Arbeitsmarktreform ein innerer Zusammenhang existiert. Die hierbei interessierende Frage ist allerdings, worin genau die Gemeinsamkeiten beziehungsweise der Zusammenhang von „Bologna-Prozeß“ und Hartz IV besteht und wie sich die Existenz des inneren Bandes, das beide Reformen verbindet, erklären oder, genauer formuliert, begründen läßt. Die nachfolgenden Ausführungen sind zu verstehen als ein erster und vorläufiger Versuch, eine systematisch angelegte Antwort auf die aufgeworfene Frage zu geben, der seine Unabgeschlossenheit weder leugnen kann noch will.

Wenn die hier angestellten Überlegungen den Titel „Über die Zurichtung von Arbeits­kraft im Zeitalter des Neoliberalismus“ tragen, so um zu signalisieren, daß die Beantwor­tung der Frage nach den Gemeinsamkeiten von „Bologna-Prozeß“ und Hartz IV nicht auf direktem Wege zu haben ist durch einen Vergleich beider Reformen. Das Gegenteil ist der Fall. Denn wer die Umbruchstendenzen in der Bildungs- und Sozialpolitik adäquat erfassen und ausreichend erklären will, wird dies nicht können ohne Rückgriff auf die markt- und produktionsökonomischen Restrukturierungsprozesse in den Unternehmen und auf die sie begleitenden politisch-ideologischen Begründungen, wie sie von Seiten der Apologeten des Neoliberalismus geliefert werden. Darüber hinaus ist es erforderlich, sich etwas eingehender mit der Frage zu befassen, inwieweit den veränderten Formen der Arbeits- und Betriebsorganisation auch eine veränderte Subjektivierungsform korrespondiert, worunter hier das Geformtwerden und das Sich-selbst-Formen der Subjekte verstanden werden soll. Und last but not least ist es selbstverständlich unabdingbar, sich der Frage zu widmen, welche Funktion der Bildungs- und Sozialpolitik im Rahmen marktvermittelter Vergesellschaftung zukommt. Mit dem letztgenannten Punkt soll begonnen werden, wobei es allerdings ratsam erscheint, nur auf jene Aspekte einzugehen, die im hiesigen Kontext von Relevanz sind.

II: Bildungs- und Sozialpolitik

In einer nach dem Prinzip kapitalistischer Warenproduktion organisierten Ökonomie ist die Sicherung der individuellen Existenz der Arbeitskraftbesitzer strukturell mit Lohnarbeit als dem normalen Modus der Arbeitskraftreproduktion verknüpft. Das heißt, in der Regel sind Arbeitskraftbesitzer gehalten, ihre Arbeitskraft auf einem eigens dafür vorgesehen Markt, dem Arbeitsmarkt, zu verkaufen, um über den Weg des Tausches Arbeitskraft gegen Lohn ihre Reproduktion sicherzustellen. Aus diesem Grund erscheint ihnen die Gefährdung der Tauschvoraussetzungen etwa wegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Behinderung, Alter oder fehlender Qualifikation auch als Gefährdung der Arbeitskraftreproduktion selbst. Da nun, soziologisch gesehen, wenig dafür spricht, daß subsistenzmittellose Individuen ihre Arbeitskraft gewissermaßen spontan oder aber allein aufgrund des „stumme[n] Zwang[s] der ökonomischen Verhältnisse“ (Marx 1977: 765) auf dem Arbeitsmarkt zum Kauf anbieten, ist die Lohnarbeiterexistenz eine sozial und kulturell äußerst voraussetzungsvolle Form menschlicher Existenz. Deswegen muß sie auch, wenn sie eine zentrale Rolle bei der Organisation der persönlichen Existenz spielen soll, in aufwendigen Prozessen auf der Ebene der Sozialintegration als „Pflicht normiert“ und auf der Ebene der Systemintegration als „Zwang installiert“ (Offe 1983: 51) werden.

Mit Bezug auf diesen Hintergrund können Bildungs- und Sozialpolitik begriffen werden als politisch institutionalisierte Reaktion auf das für kapitalistisch-marktförmig verfaßte Gesellschaften stets prekäre Problem der gesellschaftlichen Verallgemeinerung des Lohnarbeitsverhältnisses. Dieses Problem hat zwei Seiten: Zum einen geht es um die Herstellung der Warenförmigkeit der Arbeitskraft und um die Sicherstellung ihrer Austauschbarkeit, was im sozialwissenschaftlichen Jargon „Kommodifizierung“ genannt wird. Dies geschieht a) dadurch, daß Kenntnisse und Fertigkeiten (Stichwort „Qualifikation“) vermittelt werden, die auf den konkreten Arbeits- und Produktionsprozeß ausgerichtete sind. Und es erfolgt b) dadurch, daß jene individuellen Verhaltensdispositionen und Einstellungen (Stichwort „Sozialisation“) erzeugt werden, die die Arbeitskraftbesitzer zu ihrer sozialen Integration in das System der gesellschaftlichen Arbeit benötigen. Zum anderen geht es um die Rücknahme der Warenförmigkeit, also den der Kommodifizierung entgegengesetzten Prozeß, kurz „De-Kommodifizierung“ genannt. Dieser zielt erstens darauf, die Marktgängigkeit von Arbeitskraft wegen vorübergehender Beschädigung (sprich Krankheit) oder wegen unzureichender Qualifikation wiederherzustellen beziehungsweise beständig aufrechtzuerhalten. Und er zielt zweitens darauf, dem Verkaufszwang von Arbeitskraft wegen zeitweiliger oder dauerhafter Entbehrlichkeit (sprich Arbeitslosigkeit beziehungsweise Alter) oder wegen anderweitigem gesellschaftlichen Bedarfs (sprich Aufzucht von Kindern) institutionelle Grenzen zu setzen.

Mit anderen Worten: Kommodifizierung und De-Kommodifizierung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille und tragen gemeinsam zur Bewältigung des Problems der Kon­stitution und kontinuierlichen Reproduktion des Lohnarbeitsverhältnisses bei, und zwar indem sie einerseits die marktförmige Verausgabung von Arbeitskraft ermöglichen und erzwingen und andererseits selektiv Dispens vom Verkaufszwang erteilen. Da dies jeweils mit Mitteln und in Formen und Ausmaßen geschieht, die dem Wandel der politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen geschuldet sind, bedeutet dies, daß sich Bildungs- und Sozialpolitik in Wellen bewegen a) der Ermöglichung beziehungsweise Erzwingung des Tausches Arbeitskraft gegen Lohn (sprich Kommodifizierung), b) der zeitweiligen Aussetzung des Tausches Arbeitskraft gegen Lohn (sprich De-Kommodifizierung) und schließlich c) der Rückkehr zur Erzwingung (sprich Re-Kommodifizierung) des Tausches Arbeitskraft gegen Lohn.

Obwohl Bildungs- und Sozialpolitik konstitutiv für die gesellschaftliche Verallgemeinerung des Lohnarbeitsverhältnisses sind, sind sie, vor allem wegen ihrer de-kommodifizierenden Funktion, den Kritikern des Wohlfahrtsstaats stets ein Dorn im Auge gewesen. Denn sie behaupten, die zeitweilige Entbindung vom Verkaufszwang der Ware Arbeitskraft stelle eine Schutzbastion dar gegen Wettbewerb und Leistung, weswegen diese auch ge­schliffen werden müsse. Dies zeigt sich in aller Deutlichkeit, wenn man die letzten ungefähr vier Jahrzehnte Revue passieren läßt, die in den Sozialwissenschaften für viele der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften beschrieben werden als Übergang vom „keynesianischen Welfare State“ zum „schumpeterianischen Workfare State“. Es würde im Rahmen des vorliegenden Essays zu weit führen, die Entwicklung dieses Umbruchsprozesses detailliert zu rekonstruieren. Gleichwohl sind zum besseren Nachvollzug der hier aufgestellten These einige wenige diesbezügliche Bemerkungen unabdingbar.

III: Vom Welfare State zum Workfare State

Für die 1970er Jahre wird infolge der Internationalisierung der ökonomischen Krisenerscheinungen von den Sozialwissenschaften gemeinhin ein Strukturbruch in dem bis dahin existierenden Vergesellschaftungsmodus diagnostiziert. Dieser Strukturbruch brachte zum Ausdruck, daß die Wachstumsdynamik des sogenannten fordistischen Akkumulationsregimes im Rahmen der keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Regulationsweise an seine Grenzen gestoßen war.

Mit dem als „Fordismus“ bezeichneten Vergesellschaftungsmodus ist jene Gesellschaftsformation angesprochen, die sich in etwa datieren läßt von den 30er Jahren bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts. In ökonomischer Hinsicht betrachtet, beruhte das sie charakterisierende Akkumulationsregime auf einer tayloristischen, das heißt hochgradig arbeitsteilig und technologisch effizient organisierten industriellen und standardisierten Produktion von Massenkonsumgütern durch relativ gering qualifizierte Arbeitskräfte. Diese wurde infolge der Verallgemeinerung des Lohnarbeitsverhältnisses begleitet durch eine entsprechende Massenkonsumtion. Unter diesen Bedingungen von Massenproduktion und -konsumtion entwickelte sich eine spezifische Regulationsweise beziehungsweise Form des Staates heraus, der unter dem Etikett „keynesianischer Welfare State“ von sich reden machte und dessen wesentlichen Merkmale insbesondere die folgenden sind:

  • hohes Wirtschaftswachstum,
  • nationalstaatlich relativ geschlossener und regulierter Finanzsektor,
  • stetige Steigerung des Reallohneinkommens,
  • Existenz starker Gewerkschaften,
  • Etablierung korporatistischer Arrangements zwischen Staat, Kapital und Arbeit, insbesondere zur Begrenzung von Lohnkämpfen im Hinblick auf die Sicherung von Vollbeschäftigung,
  • staatliche Sicherstellung von Vollbeschäftigung durch Umverteilung zugunsten der Nachfrageseite zum Zwecke der Anregung der Massenkaufkraft,
  • kontinuierliche Erweiterung von wohlfahrtsstaatlichen Sicherungs- und Unterstützungssystemen,
  • fortschreitende De-Kommodifizierung der Ware Arbeitskraft durch eine zunehmende Institutionalisierung sozialer Bürgerrechte,
  • mit Nachdruck betriebener Ausbau der Beschäftigung im öffentlichen Dienst.

Die krisenhafte Zuspitzung der ökonomischen und politischen Widersprüche des fordistischen Akkumulationsregimes bündelte sich in einem Syndrom aus einer anhaltenden ökonomischen Wachstumsschwäche mit hoher Massenarbeitslosigkeit, einem deutlichen Legitimationsschwund des politischen Systems und einer mit sozialen Ausgrenzungsprozessen einhergehenden Vertiefung sozialer Ungleichheiten. Dies hatte zur Folge, daß sich der enge Zusammenhang von Akkumulation, Wohlfahrtsstaat und Massenkonsumtion, der das „goldene Zeitalter“ des Fordismus kennzeichnete, zunehmend auflöste. Dies wiederum führte in weiten Kreisen von Politik und Sozialwissenschaft zu der Einsicht, daß eine Restrukturierung des Verhältnisses von Akkumulationsregime und Regulationsweise erforderlich war, wenn die Voraussetzungen geschaffen werden sollten für einen erneuten langfristigen ökonomischen Aufschwung. Vor diesem Hintergrund erwuchs das Projekt der neoliberalen Rekonstruktion der Gesellschaft, dessen Konturen in den 1980/90er Jahren immer deutlicher wurden und das sich im öffentlichen Diskurs erfolgreich präsentierte als ein aus der Logik der kapitalistischen Entwicklungsdynamik resultierender unabwendbarer „Sachzwang“.

Der von den neoliberalen Apologeten als „Lösung“ propagierte Vergesellschaftungsmodus unterscheidet sich in zentralen Punkten von dem an seine Grenzen geratenen fordistischen Modell der Vergesellschaftung. In ökonomischer Hinsicht besteht die „Lösung“ hinsichtlich des Akkumulationsregimes in einer enorm flexibilisierten und spezialisierten Produktion von Massenkonsumgütern durch sowohl hochqualifizierte Arbeitskräfte in den Kernbereichen als auch geringqualifizierte Arbeitskräfte in den Randbereichen der Produktion. Hierdurch wird einerseits die Möglichkeit eröffnet zur schnellen Anpassung an sich verändernde Konsumentenmärkte und andererseits die Voraussetzung geschaffen für eine in Teilbereichen steigende konsumtive Nachfrage. Dieser Restrukturierungsprozeß vollzieht sich im Kontext der „Globalisierung“ genannten Internationalisierung von Produktion und Finanzmärkten auf der Basis sukzessiv deregulierter und liberalisierter Waren-, Dienstleistungs-, Finanz- und Kapitalmärkte. Ergebnis dieser weltweiten Entgrenzung der Wirtschaftsräume ist, daß der noch immer als Nationalstaat verfaßte und damit nach innen gerichtete Wohlfahrtsstaat gezwungen wird, sich in einen Staat umzuwandeln, dessen vorrangige Aufgabe darin besteht, den inter- und transnational operierenden Unternehmen durch Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen, sprich „Standortpolitik“, günstige Verwertungsvoraussetzungen zu schaffen. Und das heißt, dem global immer flexibler agierenden Kapital das zu bieten, was es sucht: niedrige Steuern, Sozialabgaben und Löhne.

Will man den neoliberalen Marktfundamentalisten Glauben schenken, so stellt in der globalisierten Standortkonkurrenz der Nationalstaaten der Staat alter Prägung, insbeson­dere wegen seiner wohlfahrtsstaatlichen Sicherungs- und Unterstützungssysteme, einen kostspieligen Wettbewerbsnachteil dar. Aus diesem Grunde werden die „Evangelisten des Marktes“ (Dixon 2000) nicht müde, unter dem Zeichen der Globalisierung einen Staat zu fordern, der sich aus der Sphäre der Ökonomie vor allem als regulierender und intervenierender Staat zurückzuziehen und sich auf die Gewährleistung optimaler Verwertungsbedingungen zu beschränken habe. Konkret heißt dies, Märkte zu deregulieren, öffentliche Leistungen und Funktionen zu privatisieren, wohlfahrtsstaatliche Ausgaben zu senken und individuelle Rechtsansprüche zu beschneiden, um nur einige der angepriesenen politisch-therapeutischen Antidots zu nennen. Unter diesen Bedingungen bildete sich in den letzten Jahren eine neue Regulationsweise beziehungsweise Form des Staates heraus, der im sozialwissenschaftlichen Diskurs unter dem Kürzel „nationaler Wettbewerbsstaat“ (Hirsch 1998) beziehungsweise „schumpeterianischer Workfare State“ (Jessop 1994) analysiert wird. Kennzeichnend für diese neue Form des Staates sind folgende Merkmale:

  • schwaches bis mittleres Wirtschaftswachstum,
  • deregulierte und globalisierte, das heißt nationalstaatlich entgrenzte Finanzmärkte,
  • real sinkende Masseneinkommen,
  • Existenz geschwächter Gewerkschaften,
  • teilweise politische Ausgrenzung der Gewerkschaften und deren Stilisierung zu Sündenböcken für die miserable Wirtschafts- und Beschäftigungslage,
  • Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und Prekarisierung der Lohnarbeitsverhältnisse,
  • fortschreitender Abbau von wohlfahrtsstaatlichen Sicherungs- und Unterstützungssystemen,
  • verstärkte (Re-)Kommodifizierung der Ware Arbeitskraft durch Aushöhlung sozialer Bürgerrechte,
  • Verschlankung des Staates durch Reorganisations- und Privatisierungs- beziehungs­weise Vermarktlichungsmaßnahmen.

Mit diesen knappen Bemerkungen sind zwar nun in Umrissen die Veränderungen beschrieben, die mit dem Übergang von der fordistischen zur postfordistischen Gesellschaftsformation einhergehen, über die politisch-ideologischen Grundlagen des neoliberalen Projekts wissen wir allerdings noch relativ wenig. Deswegen soll im Folgenden versucht werden, diese Lücke mit ein paar ergänzenden Bemerkungen zu schließen.

IV: Ökonomisierung des Sozialen

Zentral mit Blick auf das hier behandelte Thema ist festzuhalten, daß die „Logik“ des Neoliberalismus darauf hinausläuft, erstens den Markt als universales Modell der Vergesellschaftung einzurichten und zweitens den Wettbewerbsmechanismus zu verallgemeinern. Begreift man den Neoliberalismus als die „reine Form“ des Kapitalismus im Zeitalter der Globalisierung, dann zeigen sich deutlich Unterschiede sowohl zum Frühliberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts als auch zum deutschen Ordoliberalismus des 20. Jahrhunderts, die sich insbesondere in einer Neudefinition des Verhältnisses von Staat und Ökonomie Ausdruck verschaffen. Gemeinsam ist diesen Liberalismen allerdings ihre negative Stoßrichtung gegen ein Zuviel-Staat und gegen ein Zuviel-Regieren. Deswegen gelten ihnen denn auch staatliche Eingriffe in den Markt als verantwortlich für ökonomische Fehlentwicklungen.

Was den Neoliberalismus im Vergleich zu anderen Liberalismen auszeichnet, ist die Ausweitung und Radikalisierung der Wettbewerbslogik zu einem allgemeinem Beschreibungsmodell menschlichen Handelns. Hierdurch werden nunmehr auch jene Lebensbereiche zum Gegenstand des Ökonomischen, die traditionell nicht der Sphäre der Ökonomie zugerechnet werden. Aus diesem Grund wird der Neoliberalismus auch zurecht bezichtigt, einen „ökonomischen Imperialismus“ (Becker) zu betreiben. Was darunter zu verstehen ist, ist im folgenden kurz zu erläutern.

In der ökonomischen Theorie des Neoliberalismus wird der Mensch modelliert als ein rational handelnder homo oeconomicus, dessen Sinnen und Trachten alleinig darauf ausgerichtet ist, die eigenen Handlungen an Kosten-Nutzen-Kalkülen auszurichten. Alles menschliche Handeln stellt demnach eine Wahl dar zwischen mehr oder minder attraktiv empfundenen Alternativen, die alle ihren Preis haben, wenn auch nicht unbedingt ausdrückbar in Geld. So etwa die Entscheidung für oder gegen eine Ehe, für oder gegen Kinder, für oder gegen Weiterbildung, für oder gegen gesunde Ernährung und so weiter und so fort. Das heißt, die eine Sache zu tun oder zu haben, bedeutet, auf eine andere zu verzichten. Folglich bestehen die Kosten einer jeden Handlung in der besten Alternative, auf die man verzichtet, indem man sich für die andere Alternative entscheidet. Die morali­sche Implikation dieser Denkweise ist, daß den handelnden Subjekten ihre Entscheidungen als eigenverantwortliche nach dem Motto „Selbst daran schuld!“ zugeschrieben werden können: Wer Opfer eines Verbrechens wird, hätte sich um seine Sicherheit mehr kümmern sollen; wer krank wird, hat sich nicht genug um seine Gesundheit gesorgt; wer nach dem Studium keine Stelle findet, der hat dann wohl die falsche Studienwahl getroffen.

Wichtig in dem Zusammenhang mit der Entgrenzung des Ökonomischen ist noch ein weiterer Aspekt, der die neoliberale „Kunst des Regierens“ (Foucault 2000; 2006a; 2006b), sprich „Gouvernementalität“ (ebd.), anbelangt. Wenn die handelnden Subjekte, so wie es die Grundannahme der ökonomischen Theorie des Neoliberalismus formuliert, stets ihren Nutzen zu maximieren suchen, dann kann man deren Handlungen steuern, indem man über die Steigerung oder Senkung der Kosten der Handlungen das Kosten-Nutzen-Kalkül verändert. Aus einer gouvernementalen Perspektive bedeutet dies, daß der homo oeconomicus des Neoliberalismus ein Subjekt darstellt, das sich nicht nur unentwegt entscheidet, sondern das auch in eminenter Weise regierbar ist. Und eben dies versucht das politische Projekt des Neoliberalismus sich zu eigen zu machen, indem es die Subjekte anhält, sich als Unternehmer ihrer selbst zu begreifen und alle ihre Handlungen als Investi­tion in das eigene „Humankapital“ zu betrachten.

Bevor nun die Aufmerksamkeit auf die Gemeinsamkeiten von „Bologna-Prozeß“ und Hartz IV gerichtet werden soll, ist es für die Argumentation dienlich, an dieser Stelle noch einen kleinen Moment zu verweilen und einen kurzen Blick auf die Subjektivierungsform des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) zu werfen beziehungsweise auf den „Arbeitskraftunternehmer“ (Voß/Pongratz 1998) als dem Leitbild der neoliberalen Arbeitsgesellschaft.

V: Subjektivierungsform „Unternehmerisches Selbst“

In der sozialwissenschaftlichen, aber auch in der politisch-programmatischen Diskussion werden im Leitbild des „Arbeitskraftunternehmers“ spezifische Anforderungen an die Sub­jektivität des Arbeitskraftbesitzers gebündelt, die in der Figur des „unternehmerischen Selbst“ ihren Höhepunkt finden. Diese Subjektivierungsfigur verdichtet sowohl ein höchst wirkungsmächtiges normatives Menschenbild wie auch eine Vielzahl von Selbst- und Sozialtechnologien, deren gemeinsamer Kern in der Ausrichtung der gesamten Lebensführung am Verhaltensmodell der Entrepreneurship, sprich des Unternehmertums, besteht.

Mit dem Rückgriff auf den Unternehmergeist, der in vielfältige gouvernementale Programme eingebettet ist, werden die Subjekte aufgefordert, ihr eigenes Handeln so auszurichten, daß es dem Typus des Unternehmers möglichst nahekommt. Damit werden unterschiedliche Verhaltensdispositionen angesprochen: das unablässige Suchen und fin­dige Nutzen von Gewinnchancen, das Aufspüren und kämpferische Durchsetzen von Neuerungen und die Bereitschaft für die Übernahme von Risiken und das Handeln unter Ungewißheit. Konkret heißt dies: Angetrieben vom Mechanismus der Konkurrenz, hat das „unternehmerische Selbst“ sowohl ein kalkulierender Betriebswirt des eigenen Lebens zu sein als auch ein Motivationsexperte, der unablässig danach strebt, aus sich Höchstleistungen herauszukitzeln und Ideenfeuerwerke zu produzieren. Und da jedes „unternehmerische Selbst“ nur für einen Augenblick seine Position im Wettbewerbskampf und in Relation zu seinen Konkurrenten behaupten kann, darf es sich bei Strafe seines Untergangs nie­mals auf dem einmal Erreichten ausruhen. Ein beliebter Spruch unter sogenannten Ich-AGs beschreibt diesen Sachverhalt sehr treffend: Selbständige heißen so, weil sie erstens selbst und zweitens ständig arbeiten.

Mit der Vorstellung des „unternehmerischen Selbst“ als normatives Modell individueller Lebensführung, wie es die Apologeten der neoliberalen Umgestaltung der Gesellschaft propagieren, wird der Wahlspruch der Aufklärung geradezu von den Füßen auf den sozialdarwinistischen Kopf gestellt, wie Masschelein/Simons mit ihrer Neuformulierung von Kants „Sapere aude!“ (Kant 1988: 53) eindringlich zeigen: „Unternehmerisch sein ist der Aus­gang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unproduktivität. Unproduktivität ist das Unvermögen, sich seines menschlichen Kapitals ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unproduktivität, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel an Humankapital, sondern am Mangel an Entschlossenheit und Mut liegt, sich seines Humankapitals ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Also: „‚Wage es, das Selbst zu mobilisieren!‘ ‚Habe den Mut, dich deines eigenen Kapitals zu bedienen!‘“ (Masschelein/Simons 2005: 84f.)

VI: Reformen aus einem Geist

Rekapitulieren wir kurz den bisherigen Gang der Argumentation: Im ersten Schritt wurde dargelegt, daß Bildungs- und Sozialpolitik konstitutiv mit dem Lohnarbeitsverhältnis verbun­den sind, weil erst durch deren Maßnahmen die menschliche Arbeitskraft zur Ware wird und der Besitzer von Arbeitskraft zum Lohnarbeiter. Sodann wurde im zweiten Schritt aufgezeigt, daß mit dem Erschöpfen des fordistischen Vergesellschaftungsmodus der Wohlfahrtsstaat zunehmend unter Druck geriet und in Richtung Workfare State restrukturiert wurde, weil er gedeutet wurde als Haupthindernis in der internationalen Konkurrenz um Standortvorteile. Und schließlich wurde im dritten Schritt auf die Bedeutsamkeit des Neoliberalismus für den beschriebenen Formwandel des Staates eingegangen und dabei herausgestellt, daß diese Bedeutsamkeit im staatlich vorangetriebenen Ausgreifen der Markt- und Wettbewerbsmechanismen auf alle sozialen Beziehungen besteht, einschließlich der Beziehung des einzelnen Subjekts zu sich selbst. Damit wurde gewissermaßen der hintergrundinformatorische Bogen gespannt, um sich der Gemeinsamkeiten von „Bologna-Prozeß“ und Hartz IV zuwenden zu können. Hierbei kann zwischen drei Ebenen unterschieden werden: zwischen der Ebene der Gesellschaft (1), der Ebene der Organisation (2) und der Ebene der Subjekte (3).

Ad 1) Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten kann mit Bezug auf die Ebene von Gesellschaft an dieser Stelle bloß noch ergänzend auf ein paar Gemeinplätze hingewiesen werden. So wäre zu allererst ganz allgemein zu nennen, daß der „Bologna-Prozeß“ und Hartz IV eine spezifische Form der Anpassung an den Prozeß der Globalisierung darstellen, in dem qualifizierte Arbeitskräfte und das Thema „Bildung“, genauer gesagt „Beschäftigungsfähigkeit“, neudeutsch auch „employability“ genannt, für die Nationalstaaten wesentliche Faktoren im inter- und transnationalen Standortwettbewerb sind. Dies zeigt sich unverhohlen, wirft man einen Blick auf die „Lissabon-Strategie“ aus dem Jahr 2000. Mit dieser Strategie haben sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union das Ziel gesetzt, diese zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen, indem Prozesse der Entrepreneurialisierung von (Erwerbs-)Arbeit be- und gefördert werden. Hierzu eignet sich in besonderer Weise der Bereich der Bildungs- und Sozialpolitik, da beide, es wurde oben bereits erwähnt, mit der Herstellung der Warenförmigkeit von Arbeitskraft befaßt sind. Insofern bildet das Jahr 2010 auch nicht zufällig die gemeinsame Zielmarke der europäischen und deutschen Reformprogramme, die gemeinhin unter den Stichworten „Bologna 2010“ und „Agenda 2010“ bekannt sind und mit denen auf der Grundlage der ökonomischen Theorie des Neoliberalismus das gesamte soziale Leben so gesteuert und staatlich organisiert werden soll, daß jeder Arbeitskraftbesitzer sich mit sei­nen Potentialen möglichst freiwillig und reibungslos in den auf Ausbeutung beruhenden kapitalistischen Prozeß der Mehrwert- und Reichtumsproduktion einbringt. Und dies heißt, das Selbst als menschliche Ressource zu begreifen, unternehmerisch zu erschließen, zu mobilisieren und zu rationalisieren.

Ad 2) Wenn die Logik der Ökonomie zur alles bestimmenden Rationalität der Gesellschaft wird, werden selbstverständlich auch die staatlichen Apparate entsprechenden strukturellen Veränderungen unterworfen und den politischen Programmatiken und Programmen angepaßt. Soll heißen, daß die veränderte gouvernementale Art des Regierens darauf zielt, auch die mit der Bildungs- und Sozialpolitik befaßten Organisationen so umzugestalten, daß deren Wettbewerbsfähigkeit, Effektivität und Effizienz durch eine Vermarktlichung oder auch Verbetriebswirtschaftlichung nach innen wie nach außen gesteigert wird. Dies ist sowohl an den Hochschulen wie auch bei der Arbeitsverwaltung, sprich an der Bundesagentur für Arbeit und deren nachgeordneten Organisationen, zu beobachten.

Werfen wir zuerst einen Blick auf die Hochschule, die nach dem Willen ihrer Erneuerer in ausdrücklicher Opposition zum traditionellen Humboldtschen Typus nach dem Vorbild eines privatwirtschaftlich organisierten und marktförmig operierenden Dienstleistungsunternehmens reorganisiert werden soll, das seine Produkte, nämlich Forschungsleistungen sowie Aus- und Weiterbildung von Studierenden, auf einem Wissenschafts„markt“ an eine kaufkräftige Nachfrage absetzen muß. Ergebnis dieser Vermarktlichung der Hochschule ist nicht, wie so oft von deren Protagonisten und Profiteuren behauptet, eine Vergrößerung der Autonomie der Hochschule durch deren Loslösung von staatlicher Gängelei, sondern vielmehr ihre Heteronomisierung, also ihre Fremdbestimmung vermittels ihrer Unterwerfung durch sogenannte „Rankings“ unter die Logik eines marktförmigen Wettbewerbs, der, wie sollte es anders sein, sich auch nach innen auf die Hochschule überträgt, und zwar in dreierlei Weise: erstens

  • inhaltlich als fachidiotisierende Schmalspurausbildung ohne Freiräume für Erfahrung, Kreativität und Reflexivität, so daß vom Menschenrecht auf Bildung nicht mehr übrig bleibt als der Studierenden Qualifizierungspflicht zur Ausrichtung ihres Studiums an den Anforderungen des Arbeitsmarkts einerseits und deren lebenslänglichen Weiterbildungspflicht andererseits; zweitens
  • studienorganisatorisch als Aushöhlung und Verschulung des Studiums, bei der die Studierenden unter der faktischen Vorenthaltung der Erfahrung einer freien, akademischen, wissenschaftlich orientierten Diskussion nicht hinausgelangen über die mechanische Aneignung und Reproduktion von Wissen, wovon die „inszenierte Idiotisierung“ (Narr 2004) in Form der Modularisierung der Studiengänge beredtes Zeugnis ablegt; und schließlich drittens
  • arbeitsorganisatorisch als verschärfte Konkurrenz zwischen Fachbereichen, Studiengängen und auch den Lehrenden einerseits und der Etablierung autokratischer Verwaltungs- oder, neudeutsch formuliert, Managementstrukturen andererseits, so daß die grundgesetzlich geschützte Wissenschaftsfreiheit immer weniger der Selbstbestimmung der Lehrenden und Lernenden anvertraut wird, womit die akademische Selbstverwaltung zur Leerformel degeneriert.

Vergleichbares findet sich auch bei Arbeitsveraltung, also der Bundesagentur für Arbeit beziehungsweise den ARGEn, die mit der Umsetzung des SGB II, umgangssprachlich auch Hartz IV genannt, betraut sind und entsprechend den Empfehlungen der Hartz-Kommission umgebaut wurden zu modernen, wettbewerbsorientierten Dienstleistungsunternehmen am Arbeitsmarkt. Und zwar mit all jenen aus der Betriebswirtschaftslehre stammenden und bekannten Instrumenten und Verfahren zur erhofften Steigerung der Effektivität und Effizienz: durch den Abschluß von Zielvereinbarungen, die Umstellung von Input- auf Outputorientierung, die Einführung von Controlling- und Berichtssystemen, Fremd- und Selbstevaluationen, Rankings beziehungsweise Benchmarkings, den Abbau staatlicher Zuständigkeiten und deren Ersetzung durch private Anbieter oder Agenturen (bei den ARGEn zum Beispiel Personalserviceagenturen, bei den Hochschulen Akkreditierungsagenturen). Und selbstverständlich gehört hierzu auch, wie könnte es anders sein, die definitorische Umwandlung der hilfebedürftigen Arbeitslosen (beziehungsweise der Studierenden) in „Kunden“, womit eine weitere marktwirtschaftliche Basisideologie in solche Bereiche personenbezogener Dienstleistungen Einzug hält, die einer Kommerzialisierung im Grunde nicht oder nur in einem äußerst begrenzten Maße zugänglich sind. Und zwar aus dem ganz einfachen Grund, weil es ihnen in der Regel an der elementaren Voraussetzung des Kundenstatus von Teilnehmern am realen Wirtschaftsgeschehen mangelt: der Verfügung über Zahlungsfähigkeit, sprich Geld.

Ad 3) Es soll an dieser Stelle nicht weiter auf die Dümmlichkeit der Rede von der Kundenorientierung in der Bildungs- und Sozialpolitik eingegangen, sondern die Kundenmetaphorik lediglich zum Anlaß genommen werden, um nun von der Ebene der Organisation auf die der Subjekte zu wechseln. Wenn oben darauf hingewiesen wurde, daß in der ökonomischen Theorie des Neoliberalismus der Mensch modelliert werde als ein rational handelnder homo oeconomicus, so ist es nur konsequent, auch Studierende und hilfebedürftige Arbeitslose als Kunden (sprich Nachfrager) oder Unternehmer (sprich Anbieter) zu beschreiben, je nachdem, auf welcher Seite welchen Marktes sie agieren. Allerdings ist das zugrundegelegte Menschenbild ein „halbiertes“, weil das politische Projekt des Neoliberalismus darauf zielt, eine soziale Realität herzustellen, die es in seiner Theorie zugleich als existierend voraussetzt. Oder anders formuliert: Auf der Seite der Theorie, besser sollte man sagen der Ideologie, existiert ein Menschenbild, das keine reale Entsprechung auf der Seite der Empirie hat beziehungsweise nur in Form einer Negation. Dies wäre nicht weiter von Übel, wenn nicht die Theorie zu einer materiellen Gewalt sich ausgewachsen hätte, der die Subjekte, also hier die Studierenden und Hartz-IV-Betroffenen, im Namen der Freiheit, jedoch nicht der eigenen, sondern der des Marktes, nun bedingungslos unterworfen werden.

Um es konkret zu machen: An dem Handeln der neoliberalen Protagonisten in der Bil­dungs- und Sozialpolitik offenbart sich in aller Klarheit, welches Bild sie von den Studieren­den und den Hartz-IV-Betroffenen haben. So wird den Studierenden prinzipiell unterstellt, sie seien Bummelstudenten und insofern studierunwillig, sie seien relativ wenig wißbegierig sowie desorientiert und überfordert. Den Hartz-IV-Betroffenen hält man vor, sie seien arbeitsscheu und suchten sich deswegen überhaupt keine Arbeit. Das einzige, worauf sie sich verstünden, sei, den Wohlfahrtsstaat auszubeuten, das heißt, Leistungen in Anspruch zu nehmen, die ihnen im Grunde nicht zustünden, da sie arbeiten könnten, wenn sie denn nur wollten. Daraus folgt: Die maßgeblichen Akteure sowohl im „Bologna-Prozeß“ als auch bei Hartz IV rechnen bei den Betroffenen mit dem Schlimmsten – und setzen deswegen mehr auf Kontrolle und Zwang statt auf Anreize und Angebote. Infolgedessen entlarvt sich auch der Handlungsgrundsatz des „Fördern und Fordern“, der das Hauptkennzeichen des „aktivierenden Sozialstaats“ darstellt, als pure Ideologie.

Der totalitäre Zugriff auf die menschliche Subjektivität erfolgt allerdings auf sehr subtile Weise, indem die Betroffenen einerseits über die Zuschreibung von Eigenverantwortung als autonome Subjekte angerufen werden, während man sie andererseits zugleich in spezifische Kontroll- und Sicherungsstrategien einbindet, damit die abverlangte „Autonomie“ nicht aus dem Ruder läuft. So zielt zum Beispiel, bei den Studierenden, die Verkürzung und Straffung der Studienzeiten, die Vervielfachung und Verstetigung von Prüfungen, die Einführung von Studiengebühren oder das Ausloben von Studienpreisen auf die Herstellung einer spezifischen Haltung, nämlich einer kalkulierenden Denkungsart, die dem Habitus der Selbstvermarktung entspringt. Die Studierenden sollen sich mithin als unternehmerische Subjekte, als „Arbeitskraftunternehmer“, verstehen lernen, die sich selbst, also „autonom“, verwalten und managen. Hierbei sind sie aufgefordert, den Kauf von Bildungsgütern als Investition in sich selbst zu begreifen und immer größere Lernanstrengungen zu erbringen, um die Verwertungsbedingungen ihres eigenen „Humankapitals“ zu erhöhen. Kurz: Sie sollen freiwillig einwilligen in die Kommodifizierung nicht nur ihrer Arbeitskraft, sondern aller Dimensionen ihrer Biographie unter dem Gesichtspunkt der optimalen Verwertbarkeit und sollen so ihre eigene Subjektivierung zum „unternehmerischen Selbst“ und ihre Unterwerfung unter die Bedingungen kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Rationalität und die Erfordernisse politischer Machterhaltung betreiben.

Da die Anhänger des Marktradikalismus jedoch selbst Zweifel zu haben scheinen an der Wirksamkeit ihrer moralischen Einflußnahme auf den Willen und das Verhalten der Studierenden und Arbeitslosen, flankieren sie ihre auf „Autonomie“ abstellenden Programme mit Zwangsprogrammen. Denn wer es an der geforderten Eigeninitiative, Anpassungsfähigkeit, Mobilität und Flexibilität fehlen läßt, der zeigt, aus Sicht der neoliberalen Eiferer, objektiv seine Unfähigkeit, ein freies und rational-kalkulierendes unternehmerisches Subjekt zu sein, das sich gegenüber sich selbst und der Gesellschaft ökonomisch und moralisch verantwortungsbewußt verhält. Doch dem wird staatlicherseits abzuhelfen versucht durch eine konsequente Beachtung der asymmetrisch ausgestalteten Maxime des „Fördern und Fordern“. Dies zeigt sich am klarsten wohl bei Hartz IV, das gewissermaßen das Kleingedruckte zur Bildungspolitik enthält. Auf der Grundlage dieser Maxime wird den Betroffenen nämlich durch Zwang auferlegt, „autonom“ zu sein, aber selbstredend nur in den Grenzen, die ihnen durch die staatlichen Vorgaben gesetzt sind.

Bei dem Text handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung des Manuskripts zu einem Vortrag, den ich anläßlich der vom Runden Tisch Hochschulpolitik Koblenz veranstalteten Alternativen Ringvoresung Sommersemester 2010 zum Thema »Privatisierung der Bildung« am 01.06.2010 gehalten habe. Der Duktus des gesprochenen Wortes wurde weitgehend beibehalten. – Es versteht sich von selbst, daß die vorgetragenen Überlegungen von einer Vielzahl von Arbeiten anderer Autoren inspiriert worden sind. Um den Text aber nicht unnötig mit einem wissenschaftlichen Apparat in Form von mehr oder minder ausführlichen Fußnoten zu befrachten, habe ich mich dafür entschieden, nur auf die Texte jener Autoren explizit zu verweisen, aus denen von mir wortwörtlich zitiert wurde. Ich hoffe, auf diese Weise dem Kriterium ›wissenschaftlicher Redlichkeit‹ einigermaßen gerecht zu werden.

Der Aufsatz »Über die Zurichtung von Arbeitskraft im Zeitalter des Neoliberalismus oder Was haben ›Bologna-Prozeß‹ und Hartz-IV gemein?« ist zuerst in der Internet-Zeitschrift »Kritiknetz« am 23.08.2010 und die Rezension von Freybergs Buch »Tantalos und Sisyphos in der Schule. Zur strukturellen Verantwortung der Pädagogik« als Online-Flyer Nr. 264 am 25.08.2010 in NRhZ - Neue Rheinische Zeitung erschien.

Literatur:

  • Bröckling (2007) — Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M.: Suhrkamp
  • Dixon (2000) — Keith Dixon: Die Evangelisten des Marktes. Die britischen Intellektuellen und der Thatcherismus, Konstanz: UVK
  • Foucault (2000) — Michel Foucault: Die »Gouvernementalität«, in: Bröckling, U. et al. (Hrsg.), Gouvernemen­talität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 41-67
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  • Marx (1977) — Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 1. Band, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, 12. Aufl., Berlin (DDR): Dietz
  • Masschelein/Simons (2005) — Jan Masschelein/Maarten Simons: Globale Immunität oder Eine kleine Karto­graphie des europäischen Bildungsraums, Zürich/Berlin: diaphanes
  • Narr (2004) — Wolf-Dieter Narr: Studienordnung als Erziehungsinstrument. Zur Beseitigung von Wissenschaft an der FU Berlin, in: Forum Wissenschaft, H. 11, online unter URL (19.11.2004) http://www.bdwi.de/forum/fw3-04-6.htm
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  • Seibt (2009) — Gustav Seibt: Reformen aus einem Geist, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.07.2009, online unter URL (21.07.2009) http://www.sueddeutsche.de/jobkarriere/243/480721/text/print.html
  • Voß/Pongratz (1998) — G. Günther Voß/Hans J. Pongratz: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, H. 1, S. 131-158
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