FORVM, No. 230/231
März
1973

Und lesbisch die Praxis

Wir müssen uns ein neues Selbstverständnis schaffen. Das Fehlen eines realistischen Selbstgefühls bei uns liegt darin begründet, daß unsere Identität eine von Männern bezogene Identität ist. Nur Frauen können sich gegenseitig einen neuen Sinn ihres Selbst geben. Wir haben diese Identität in bezug auf uns Frauen und nicht in bezug auf den Mann zu entwickeln.

Dieses Bewußtsein ist die revolutionäre Kraft, aus der alles andere folgen wird, unsere Revolution ist eine organische Revolution. Indem die primären Beziehungen nur noch solche sind, die von Frau zu Frau entstehen, indem wir uns so ein neues Bewußtsein von Frauen schaffen, entsteht der Grund jeder Frauenbefreiungsbewegung und die Basis einer kulturellen Revolution.

In unserer aktuellen Gesellschaft wird sich eine Frauenbefreiungsbewegung, die mehr will als nur optimale Reformen innerhalb des patriarchalisch-kapitalistischen Systems (oder auch in anderer Form innerhalb des partriarchalisch-sozialistischen) auf die Dauer nicht halten können, wenn ihre emotionalen Antriebskräfte nicht überdurchschnittlich stark sind. Diese Stärke kann eben u.a. dadurch erreicht werden, daß die oben angesprochenen Primärbeziehungen zwischen Frauen bewußt dafür eingesetzt werden.

Die „Radical Lesbians“ gehen so weit zu sagen, daß Lesbianismus per se gleichzusetzen sei mit einer Avantgarde-Position des „radikalen Feminismus“, dessen Ziel es u.a. ist, für ein völliges Verschwinden des Geschlechtsrollensystems zu kämpfen.

Die Radical Lesbians sagen dazu: „Wir verwarfen Männer und Geschlechtsrollen, bevor es die Frauenbewegung gab.“ Man muß sich allerdings fragen, ob radikaler Feminismus wirklich bedeutet, den Mann völlig zu verwerfen und ob (weibliche wie männliche) Homosexualität schon Abschaffung der Geschlechtsrollen bedeutet.

Wir meinen, daß sich auch in homosexuellen Beziehungen das Geschlechtsrollensystem — weiblich-männlich — reproduzieren kann, auch in Beziehungen wirklicher Homosexueller. Nicht dadurch, daß eine Frau homosexuell ist, hat sie auch schon männerfixierte Verhaltensweisen überwunden. Es kann sogar sein, daß sie in homosexuellen Verhaltensweisen solche Männerfixierung doppelt auslebt, indem sie sich selbst ganz und gar als Mann fühlt und gegenüber Frauen dominierend verhält.

Ähnlich wie sich die heterosexuellen Frauen in einem Emanzipationsprozeß von den einengenden Rollenfixierungen „männlich-weiblich“ und den damit verbundenen Vorstellungen von Subordinations- und Dominationsverhältnissen — auch in den psychisch-sexuellen Prozessen — befreien müssen, so müssen dies sicherlich auch viele weibliche Homosexuelle tun.

Wie es unter den heterosexuellen Gruppen der Frauenbefreiungsbewegung solche gibt, die sich vorwiegend mit Theorie und Praxis gesellschaftlicher Emanzipation beschäftigen und solche, die sich mit persönlicher Emazipation mit Selbstfindung und Selbstbewußtseinsbildung befassen, so wird es auch unter den homosexuellen Frauen diese zwei Gruppierungen geben.

In dem Moment aber, wo die weiblichen Homosexuellen es fertigbringen, ihre Sozialisierungszwänge zu verlassen, in dem Moment werden auch sie für alle, die auf eine progressive Veränderung der Gesellschaft hinzielen, zu wertvollen Verbündeten. Damit ist dann die Sache der weiblichen Homosexuellen zu einem Faktor in einem übergreifenden, nicht mehr individuellen, sondern gesellschaftlichen Anliegen geworden.

Eine wirklich emanzipierte heterosexuelle Frau nimmt heute schon eine revolutionärere Haltung gegenüber der derzeitigen Gesellschaft ein als ein emanzipierter Mann — eine emanzipierte homosexuelle Frau würde jene u.U. durch die besondere Dynamik ihrer revolutionären Haltung noch übertreffen.

In dem Moment, wo die wirklich homosexuellen Frauen durch sich selbst und andere nicht mehr vorwiegend aufgrund der Wahl ihres Sexualobjekts definiert werden, sondern sich ein kollektives, gesellschaftsbezogenes Selbst- und Fremdverständnis ergibt, beginnt auch der gesellschaftliche Integrationsprozeß.

efa/Zeitschrift der neuen Frauenbewegung
5 Köln 51, Samariterstraße 8

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