FORVM, No. 233
Mai
1973

Unproduktive Fließbandarbeit

Gespräch
  • (CFDT = Conféderation Française Democratique de Travail, ehemals christlicher nun linkssozialistischer Gewerkschaftsverband.)
  • (CGT=Conféderation Générale de Travail, Gewerkschaftsverband der KPF.)
Frage: Die CFDT hatte lange Zeit ernste Vorbehalte gegen das „Gemeinsame Programm“ der traditionellen Linken, der sie vorwarf, auf Wahlen fixiert zu sein und den Kampf der Abstimmung unterzuordnen. Dann aber haben Sie die Arbeiter aufgerufen, für diese Parteien zu stimmen. Und jetzt?

Krumnov: Wir haben nie Wahlboykott betrieben. Wir haben immer gesagt, daß in einem Land wie Frankreich der Kampf um die Macht sich auch der Parlamentswahlen bedienen muß — sie sind ein wichtiges Moment dieses Kampfes. Aber wir haben stets hinzugefügt: Wahlen sind nicht alles, die Strategie der antikapitalistischen Kräfte darf ihnen niemals die Aktion und die Mobilisierung der Massen, namentlich in den Betrieben, opfern. Denn vor allem der Kampf der Arbeiter beeinflußt das Kräfteverhältnis und hebt das politische Bewußisein.

Wenn die Oppositionsparteien die Bedeutung der Wahlen und des Gemeinsamen Programms betonten, war dies nicht nur ihr Recht, sondern auch ihre Pflicht. Darüber gab es keinen Streit. Doch wenn dieselben Parteien ihr Regierungsprogramm als Lösung aller Probleme hinstellen und die Arbeiter auffordern, den Kampf durch den Stimmzettel zu ersetzen, hört der Spaß auf. Denn das hat es gegeben: Als ein Betrieb zugesperrt wurde, erklärten die Genossen von der KP oder der CGT den Leuten, es genüge, für das Gemeinsame Programm zu stimmen, und alles würde in Ordnung kommen. Auch der Kampf um Pensionen und Löhne wurde mit folgendem Argument gebremst: „Wozu sich den Kopf zerbrechen über Pensionen und Mindestlöhne, am Tag nach der Wahl wird das alles geregelt werden.“ Das ist unserer Ansicht nach ein falsches, demobilisierendes Vorgehen. Bemerkenswerterweise hat trotzdem der Lohnkampf nicht so sehr abgenommen wie sonst vor Parlamentswahlen: Seit Anfang dieses Jahres hat es eine ganze Reihe höchst interessanter Kämpfe gegeben, denen man bisher nicht genügend Beachtung geschenkt hat. Einige davon sind in der letzten Woche vor den Wahlen ausgebrochen.

Frage: Können soziale Kämpfe zu Wahlerfolgen beitragen? Können sie nicht mehr Stimmen kosten, als sie einbringen?

Krumnov: Zum Unterschied von der CGT, die bemüht war, niemand zu erschrecken und möglichst viele Menschen in Wald- und-Wiesen-Aktionen zu erfassen, waren wir immer der Auffassung, daß Kämpfe, die von der Realität in den Betrieben ausgehen, sich lohnen, sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht. Nun, es scheint, die Wahlresultate geben uns recht: In Gebieten, wo die CFDT Kämpfe organisiert hat, erzielte die Linke ihre größten Erfolge. So in Armentieres, wo es ernste Konflikte um die Akkordlöhne gegeben hat und wo Maurice Schuman geschlagen wurde; im Elsaß, wo die Bergarbeiter einen langen Kampf geführt hatten ... Man müßte das genauer untersuchen, um nachzuweisen, daß Lohnkämpfe die politische Bewußtwerdung beschleunigen, und dann mit diesem Beweis in der Hand der CGT erklären, daß ihre Taktik, niemand abschrecken und alle gewinnen zu wollen, politisch nicht die Iohnendste ist.

Unserer Ansicht nach zahlt Zweideutigkeit sich niemals aus, wenn man die Gesellschaft verändern will. SP und KP können sich noch so sehr als Schafe verkleiden, ihre Absicht, an die Macht zu gelangen, wird stets als das Bestreben ausgelegt werden, diese Gesellschaft in Frage zu stellen. In dieser Hinsicht wird man die Menschen niemals vom Gegenteil überzeugen können. Es hilft nichts, wenn man, wie Mitterand, erklärt, man wolle zwar verstaatlichen, aber nur sehr wenig, bloß das Nötigste, und die Eigentümer entschädigen; da genügt es, wenn Pompidou am letzten Tag den Franzosen zuruft, ihre Güter, ihre Freiheit, ihr Eigentumsrecht seien in Gefahr, und schon ist die Panik wieder da.

Nein, man beruhigt die Menschen nicht, indem man die Tragweite der Reformen, die man vorschlägt, bagatellisiert; im Gegenteil, man beunruhigt sie, denn sie verdächtigen einen, ein unlauteres Spiel zu treiben. Darum sagen wir: Man muß klar und deutlich sagen, was man will, nur so kann man die Angst der Franzosen, eines Morgens in einem stalinistischen System aufzuwachen, zerstreuen. Da es trotz allen Vorbehalten ja doch um eine Veränderung der Gesellschaft geht, muß man konkretisieren, was man darunter versteht. Wir müssen klarstellen, daß wir keinen zentralistischen, stalinistischen, „kollektivistischen“ Sozialismus wollen, sondern einen Sozialismus der Selbstverwaltung, und wir müssen diesem Begriff einen sehr präzisen Inhalt geben. Dies erscheint mir als eine absolut unerläßliche Aufgabe für die nächsten drei Jahre, wenn wir verhindern wollen, daß ein beträchtlicher Teil der Massen, allem Wunsch nach Änderung zum Trotz, im letzten Augenblick kehrtmacht.

Frage: Welche Forderungen und welche Aktionsformen sollten ihrer Meinung nach in den kommenden drei Jahren Vorrang haben?

Krumnov: Vor allem die Frage der Arbeitsbedingungen scheint mir von erstrangiger Bedeutung zu sein. Aber darauf komme ich später zu sprechen. Denn was die Menschen am meisten beschäftigt, sind die Probleme der Frauen, Gastarbeiter, der Umweltschutz und die Spekulation; daran anknüpfend, kann man politisches Bewußtsein erwecken. Indem man die Menschen im Zusammenhang mit diesen Problemen mobilisiert, kann man sie am besten zur Einsicht bringen, daß man die Gesellschaft, das Leben verändern muß.

Es geht darum, ob die Organisationen der Linken imstande sind, mit diesen Themen wirksame Massenaktionen durchzuführen. Die Gewerkschaften haben in dieser Hinsicht zur Zeit große Schwierigkeiten, weil sie nicht gewohnt sind, über den Rahmen der Betriebe hinauszugehen. Bevor sie sich dazu entschließen, könnten die Parteien hier die Initiative ergreifen. Aber sind sie dazu bereit?

Die KP ist es nicht, zweifellos aus Furcht, die Leute zu erschrecken und sich mit Gruppen der extremen Linken zu „kompromittieren“. Wahrscheinlich ist dies der Grund, warum sie die Zahl ihrer Wähler nicht wesentlich zu erhöhen vermochte. Was die SP betrifft, die stärker geworden ist und Teile der Jugend für sich gewonnen hat, kann sie eine reale politische Kraft werden, wenn sie sich nicht auf parlamentarische Kämpfe beschränkt, sondern Seite an Seite mit anderen Kräften politische Massenaktionen in Fragen wie Wohnungen, Verkehr, Kindergärten usw. entfaltet.

Dies ist das Grundproblem, über das wir schon mehrmals mit den führenden SP-Funktionären gesprochen haben: Wird es endlich in Frankreich Linksparteien geben, die Aktionsparteien sind? Wenn die SP diesen Weg einschlägt, hat sie eine Zukunft. Wenn nicht, dann fürchte ich, ihr Wahlerfolg wird sich als Strohfeuer erweisen.

Frage: Sie wollten von Kämpfen um die Arbeitsbedingungen sprechen.

Krumnov: Ja, denn ich glaube, der Boden der entscheidenden Auseinandersetzungen ist das Problem der Fließbandarbeit. Dies betrifft nicht nur die eigentlichen Fließbandarbeiter: Das Problem besteht überall, wo Arbeit parzelliert ist, die Aufgaben aufgesplittert, die Ausführung von Planung und Kontrolle getrennt. So gesehen, hat das Fließbandsystem auch Banken, Versicherungen, Warenhäuser usw. erfaßt; allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz ist keine Abschwächung der Arbeitsteiligkeit wahrzunehmen. Während jedoch die Arbeit immer geistloser, abstumpfender, abstoßender wird, steigen die Fähigkeiten und das Wissen der Arbeiter stetig an. Amerikanischen Berichten zufolge, die ich kürzlich gelesen habe, sind 40 Prozent der Arbeiter bei Chrysler-USA Hochschulabsolventen; die Absenzen sind von 18 auf 22 Prozent gestiegen, der „turnover“ (die jährliche Fluktuationsrate) beträgt 43 bis 44 Prozent.

In Frankreich sind wir noch nicht so weit, aber wir bewegen uns darauf zu. Als ich mit den streikenden Arbeitern in Thionville sprach, war ich frappiert vom hohen Niveau ihres Denkens, von ihrem politischen Bewußtsein, von den ökonomischen Kenntnissen, die sie innerhalb weniger Wochen erworben hatten. In der Folge erfuhr ich, daß nicht wenige von ihnen Matura haben.

Fast alle grundlegenden Forderungen drücken eine Ablehnung der Arbeit aus: Pension mit sechzig Jahren, Vierzigstundenwoche, fünf Wochen Urlaub, Abschaffung der Akkordarbeit.

Die Fließbandarbeit ist jedoch nur eine Form des Akkords. Die Ablehnung der Akkordarbeit kann also zum Gegenstand eines allgemeinen Kampfes mit weitreichenden Folgen und Entwicklungsmöglichkeiten werden.

Nehmen Sie den Fall der Jaeger-Werke in Caen. Die Arbeiterinnen haben dort durchgesetzt, daß sie in ihrem „natürlichen“ Tempo arbeiten dürfen, ohne daß die Löhne gesenkt werden. Doch das Abkommen besagt, daß die Produktion nicht zurückgehen darf. Faktisch ist sie mindestens um 10 Prozent gesunken. Wenn der Unternehmer dies zum Anlaß nimmt, um das Abkommen in Frage zu stellen, können die Arbeiter auf mehreren Fronten zum Gegenangriff übergehen.

Zunächst können sie dem Unternehmer sagen, daß die Selbstkontrolle der Arbeiter das Aufsichtspersonal überflüssig macht, auf das 20 Prozent der Lohnsumme entfallen. Was soll mit diesen Leuten geschehen? Warum sollten die Zeitnehmer, die Akkordverrechner, all die Leute mit technischen Kenntnissen nicht gemeinsam mit den Arbeitern darüber nachdenken, wie man am besten die Arbeit reorganisieren und die Trennung von Planung und Ausführung überwinden könnte?

Und da die gesamte technische Ausrüstung in Hinblick auf zerstückelte Arbeit konzipiert ist, muß die Änderung sich auch auf die Ausrüstung und somit auf die Investitionspolitik erstrecken. Von da gelangt man zu Produkten, die dauerhafter und praktischer sein könnten, wenn sie auf andere Weise produziert würden.

Es sind also sämtliche Elemente der Arbeitsverhältnisse in Frage gestellt. Die Arbeiter können mit Händen greifen, daß es eine andere Logik und eine andere Produktionsweise gibt als die des Kapitalismus. Denn wenn man Bilanz zieht; wieviel gewinnt man im Maßstab der ganzen Gesellschaft, wenn je Arbeiter 5 oder 10 Prozent weniger produziert wird, dafür aber die Absenzen, die Fiuktuation (die in Frankreich 30 Prozent beträgt), die Beaufsichtigung, der Ausschuß und die Vergeudung, das vorzeitige Altern der Arbeiter (in der Elektronik beispielsweise ist eine Frau mit 35 erledigt) beseitigt werden und man die Kreativität der Menschen mobilisiert? Wieviel gewinnt man, wenn man aufhört, Schund herzustellen, um möglichst schnell möglichst viel zu verdienen?

Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Arbeiter gesehen, dem die Qualität dessen, was er herstellt, völlig gleichgültig wäre. Vor kurzem berichteten mir Textilarbeiter von ihren niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen und sagten zum Schluß: „Das schlimmste ist, daß heute Dreck produziert wird. Keiner von uns kauft Stoffe aus unserer Bude.“

Im Gegensatz zu Séguy (Generalsekretär der CGT), der unlängst sagte: Ebensowenig wie Kinder ihren Lehrer wählen könnten, könnten Arbeiter ihren Werkmeister wählen, glaube ich, daß man die Techniker und Ingenieure in kollektive Überlegungen einbeziehen und dazu bewegen müßte, auf ihr Monopol des technischen Wissens zu verzichten und ihre Fähigkeiten allen zur Verfügung zu stellen.

Das alles ist das Problem der Arbeitsteilung: Man muß die Trennung zwischen Planung und Ausführung aufheben. Vielleicht sind die Chinesen die einzigen, die das bisher versucht haben?

Überlegungen und Aktionen in dieser Richtung können sehr weit reichen, wenn Gewerkschaften und Parteien den Problemen auf den Grund gehen und natürlich auch die Hierarchie aufs Korn nehmen. Denn Sie dürfen nicht glauben, daß die höheren Angestellten heute automatisch die Partei des Unternehmers ergreifen: Auch sie sind heute sehr oft vom Entscheidungsprozeß, der mehr und mehr zentralisiert wird, ausgeschlossen.

Ich sage häufig zu Ingenieuren: In einer selbstverwalteten Gesellschaft wird euer technisches Wissen von den Arbeitern stets als notwendig anerkannt und geachtet werden. Aber ihr werdet kein Monopol mehr haben; ihr werdet erklären und auf Befehle verzichten müssen; als erstes wird eure Kommandogewalt angefochten werden. In vielen Bereichen, und zwar in den fortgeschrittensten, beginnt die Hierarchie des Wissens bereits zu verschwinden; allmählich verwandeln sich die individuellen Fähigkeiten in kollektive.

Auch in diesem Sinn muß man meiner Meinung nach in den kommenden Jahren wirken.

Frankreich im NF

  • Daniel Cohn-Bendit: Wie man Politik macht. NF Juni/Juli 1968.
  • Trauti Brandstaller: Frankreich: undankbarer Kardinal. NF Mai/Juni 1971.
  • Wilhelm Burian: Renault niest. NF Juni/Juli 1971.
  • Ders.: Matte Volksfront. Nov./Dez. 1971.
  • Französische Sozialdemokraten über Wirtschaftsdemokratie. NF April 1972.
  • Gilles Martinet: Kann die neue Volksfront siegen? NF November 1972.
  • Michel Bosquet: Jenseits der SP-KP-Allianz. NF Feb. 1973.
  • Wilhelm Burian: Frankreichs Allende? Zu den Wahlen, NF April 1973.
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