ZOOM 3/1996
Juni
1996

Unverpackte Schiffsladung

Geschichtsverfälschung und paradoxe Darstellungen der Flüchtlingsdramen beherrschten die Berichterstattung über Liberia. Während LiberianerInnen auf überfüllten Schiffen im Meer herumirrten und nirgends landen durften, wurden AmerikanerInnen und EuropäerInnen über die Luftbrücke der US-Militärs ausgeflogen.

Anfang des 19. Jahrhunderts fühlten sich US-AmerikanerInnen von den zu vielen freigelassenen beziehungsweise freigekauften SklavInnen und der somit potentiellen Gefahr eines Aufstands bedroht. So wurde die Idee geboren, die ehemaligen SklavInnen in ihre vermeintliche Heimat zurückzubringen. Amerikanische Rechts- und Verfassungsstrukturen, Sprache und Lebenskultur wurden mitgenommen – amerikanische Kulturgüter konnten so auch am afrikanischen Kontinent angesiedelt werden.

Um 1820 begannen staatlich unterstützte Kolonisationsgesellschaften, darunter die American Colonization Society, mit der Gründung von Siedlungen an der Küste des heutigen Liberia, wo aufgrund der dünnen Besiedlung nur mit geringem Widerstand der autochthonen Bevölkerung zu rechnen war. Die Namen der Siedlungen zeigten einen deutlichen Bezug zu den USA und betonten die christliche Religion: Das Militärlager wurde „Christopolis“ genannt, die von ihnen bewohnte Insel „Bushrod Island“ – nach Bushrod Washington, der der American Colonization Society vorstand –, die Stadt nach Präsident Monroe „Monrovia“. 1839 schlossen sich die meisten Siedlungskolonien im „Commonwealth of Liberia“ zusammen, dessen Verfassung von der Harvard Universität ausgearbeitet wurde.

Maskierter Milizsoldat

Das „Land der Freien“

Die schwarzen amerikanischen SiedlerInnen erklärten unter Joseph Jenkins Roberts am 16.7.1847 ihre Unabhängigkeit. 15.386 ehemalige SklavInnen wurden zwischen 1820 und 1899 aus den USA nach Liberia gebracht, dazu kamen etwa 6000 Schwarze, die von der britischen Flotte von illegalen Sklavenschiffen befreit wurden. Die Americo-LiberianerInnen hatten es relativ leicht, ihre Vormacht zu behaupten, da die autochthone Bevölkerung aus mehreren kleinen unterschiedlichen Gruppen bestand. Die Gegensätze verschärften sich zunehmend. Die Nachfahren der amerikanischen SiedlerInnen machen nur etwa 3–5 % der Gesamtbevölkerung aus, sind jedoch die staatstragende Gruppe, die für sich 61,7 % des Staatseinkommens beansprucht, während den untersten 20 % der Bevölkerung nur 5,3 % zukommen. Die americo-liberianische True Whig Party stellte seit 1884 alle Präsidenten und sicherte mit Patronagesystem und Korruption ihre Herrschaft ab. Erst 1945 erhielten die Afro-LiberianerInnen das Wahlrecht.

Die liberianische Entwicklungspolitik ging über die Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung hinweg, die zu 70 % auf dem Land lebte und dort Subsistenzwirtschaft betrieb. Die Regierung wahrte die Interessen des in- und ausländischen Kapitals. Das Gefälle zwischen Hinterland und Küstenregion wurde verschärft, die Arbeitslosigkeit in den Städten (Monrovia 70 %) stieg, und Nahrungsmittel mußten importiert werden. All das, obwohl Liberia ein reiches Land ist: Eisenerze, Kautschuk, fruchtbarer Boden und gutes Klima, fischreiche Küstengewässer. Doch die Einkünfte flossen vor allem ins Ausland, Eisenerzabbau wurde von transnationalen Konzernen kontrolliert, ausländische Konzessionspflanzungen bestimmten den Markt.

Wie jede stark von außen abhängige Wirtschaft geriet auch die liberianische mit der Weltrezession in den Achtzigern in die Krise, die man mittels Sanierungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) und US-amerikanischer Wirtschaftshilfe zu überwinden versuchte.

Die politische Scheinstabilität begann durch aufkeimende Opposition zu wanken: Protestaktionen der Gewerkschaftsbewegung, die „Reisunruhen“ 1979 und die „Osterunruhen“ 1980.

Am 18.4.1980 putschten untere Dienstgrade der Armee, Angehörige der Bevölkerungsmehrheit, unter der Führung des damals 28jährigen Samuel K. Doe. Vor laufenden Kameras ließ Doe seinen Vorgänger Tolbert und dreizehn weitere Regierungsvertreter hinrichten. Doe wurde Regierungschef, und man gründete ein achtzehnköpfiges „People’s Redemption Council“. Doch Veränderungen blieben aus. Einerseits waren die Militärs wohl zu unerfahren in Politik und Wirtschaft, andererseits konnten sie dem Druck des IWF und der USA nicht standhalten. Die Reagan-Regierung leistete neben Wirtschaftshilfe auch massive Militärhilfe. Mit dem Bau von komfortablen Armeeunterkünften, Waffenlieferungen, der Entsendung von Elitetruppen und Ausbildnern und gemeinsamen jährlichen liberianisch-amerikanischen Manövern wurden die proamerikanischen Kreise korrumpiert und Gedanken der Self-reliance [1] sowie der Blockfreiheit im Keim erstickt. Im Juli 1984 wurde eine neue Verfassung verabschiedet, und die darauffolgenden Wahlen im Oktober 1985 bestätigten Doe als Präsident. Putschversuche wurden immer wieder niedergeschlagen, Oppositionsparteien abgewürgt. Die afro-liberianische Regierung war proamerikanischer als die americo-liberianische. Zum Beispiel setzte die Regierung am 16.3.1988 US-amerikanische Berater an die Spitze des Finanzminister-iums – offiziell eine Maßnahme gegen Abwesenheit vom Arbeitsplatz und gegen Korruption. Auch die Repressionen verschärften sich. Im selben Jahr wurden zwei Tageszeitungen verboten. Zudem kam es immer wieder zu StudentInnenunruhen.

Der siebente Putsch

Der frühere Regierungsfunktionär Charles Taylor fiel 1989 mit Milizen von der Côte d’Ivoire aus in Liberia ein. Diese Rebellion mündete in den Bürgerkrieg, der seit damals andauert. Auch Taylor ließ später Doe zu Tode foltern. Selbst während des Bürgerkriegs wurden Kautschuk wie Diamanten exportiert. Der Exporterlös kam entweder auf Auslandskonten Taylors oder, da ja nachgerüstet werden mußte, auf die Konten der Waffenlieferanten.

Über 150.000 Menschen wurden in diesem Krieg bisher getötet. Ungefähr die Hälfte der Gesamtbevölkerung von 2,5 Millionen ist aus Liberia geflohen. Aufgrund diplomatischer Bemühungen der Nachbarländer und des Drucks der UNO kam es im August 1995 zum dreizehnten Friedensabkommen seit Beginn des Bürgerkriegs. Eine Übergangsregierung wurde geschaffen, im sechsköpfigen Regierungsrat saßen Vertreter der mittlerweile sieben untereinander verfeindeten Milizen. Doch bereits Ende 1995 zeichnete sich der Konflikt erneut ab. Ein ECOMOG-Posten wurde überfallen. Die ECOMOG-Truppen sind Schutztruppen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS), die zur „Friedenssicherung“ in Liberia stationiert wurden und in der Hauptstadt Monrovia auch Polizeifunktion haben.

Dann sperrte einer der Machthaber, Landwirtschaftsminister Roosevelt Johnson, eine Straße ab, die von der Hauptstadt Monrovia in ein Gebiet führt, das sein politischer Gegner, Charles Taylor, kontrollierte. Daraufhin schloß die Regierung den Landwirtschaftsminister aus. Johnson wurde mit einem Haftbefehl gesucht, da er den neuen Milizchef, der ihn an der Spitze der ULIMO-J-Miliz ablöste, ermordet haben soll. Johnson verschanzte sich mit seinen Anhängern in der Barclay-Kaserne und nahm ungefähr 600 Geiseln, darunter ECOMOG-Soldaten, ZivilistInnen und auch AusländerInnen. Es wurden zwar immer wieder Geiseln freigelassen, und Johnson sicherte zu, sich der UNO oder den ECOMOG-Truppen zu stellen, tat es aber nicht.

Bulk Challenge

Wer hat nicht von dem Frachter „Bulk Challenge“ gehört – wer auch immer ihm diesen Namen gab, mit „bulk“ ist unverpackte Schiffsladung gemeint –, der mit liberianischen Flüchtlingen vollgestopft zehn Tage lang vor der westafrikanischen Küste herumirrte? Die westliche Welt – die ja selbst gerade dabei ist, sich gegen Flüchtlinge abzuschotten, indem sie ihre Aufenthaltsgesetze verschärft und so manche der von Unruhen erschütterten Länder als „sichere“ verankert – forderte, daß die Nachbarländer Liberias Flüchtlinge aufnehmen sollten. Als besonders tragisch und unmenschlich wurde das Flüchtlingsdrama rezipiert, da das völlig überladene Schiff, beobachtet von US-amerikanischen Kriegsschiffen, zu sinken drohte.

George Weah
„King of World Football“ ist der berühmteste Liberianer (in einem Jahr „Best Player of“ Europa, Afrika und der ganzen Welt)

Ghana hat sich diesem internationalen Druck gebeugt und die ungefähr 2000 Flüchtlinge vorübergehend aufgenommen. Doch hat sich kaum jemand überlegt, ob die Kapazität der Nachbarländer nicht erschöpft ist. In den letzten Jahren fanden laut UNHCR (UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge) 750.000 liberianische Flüchtlinge in den Nachbarländern Aufnahme.

Wie so oft hatte auch hier das von den Medien aufgegriffene Flüchtlingsdrama den Effekt, daß die Bemühungen um ein Beilegen der Krise verstärkt wurden. Eine nicht unbedeutende Rolle dabei spielte wahrscheinlich auch die Tatsache, daß es in der angespannten Lage nicht mehr möglich war, Bodenschätze und Kautschuk zu exportieren, und somit das ausländische Kapital Einbußen im Exporterlös zu verbuchen hatte.

Im UNO-Sicherheitsrat wurde beschlossen, das Mandat der Beobachtermission in Liberia (UNOMIL), das am 31. Mai ausgelaufen wäre, bis zum 31. August zu verlängern – zu diesem Zeitpunkt hätten laut Friedensabkommen schon Wahlen stattfinden sollen. Die Staats- und Regierungschefs der westafrikanischen Länder wurden aufgefordert, die ECOMOG-Soldaten zu unterstützen. Obwohl der liberianische UNO-Gesandte empfahl, die ECOMOG mit UNO-Truppen zu unterstützen, lehnte der Sicherheitsrat ab.

Mittlerweile hat das UNHCR ein neues Camp errichtet, in dem die Flüchtlinge der „Bulk Challenge“ untergebracht wurden. Die Flüchtlinge bekommen regelmäßig Mahlzeiten und werden ärztlich versorgt, doch es ist ihnen untersagt, sich außerhalb des Lagers aufzuhalten.

Leben und sterben lassen

Auch innerhalb Liberias spielen sich Flüchtlingsdramen ab. Viele Menschen wurden vertrieben, sind in die Hauptstadt Monrovia geflüchtet, wo sich die Zahl der dort lebenden Menschen in den letzten Jahren verfünffacht hat. Da in Monrovia die Kämpfe zunahmen, suchten 20.000 LiberianerInnen auf dem beziehungsweise rund um das Gelände der US-Botschaft Zuflucht. Damit war für sie auch die Hoffnung verbunden, evakuiert zu werden. Von der Botschaft aus evakuierten speziell für solche Zwecke ausgebildete Hubschrauberpiloten ihre Landsleute und EuropäerInnen. Es wurden immer nur kleine Gruppen von AmerikanerInnen gleichzeitig ausgeflogen, damit die ohnehin schon verängstigten LiberianerInnen nicht in Panik verfielen – so ein Sprecher des US-Außenministeriums. Wahrscheinlich wollten sie so unauffällig wie möglich evakuieren, da die liberianischen Milizen im Besitz von Flugabwehrwaffen sind. Über die Luftbrücke wurden mehr als 2300 „AusländerInnen“ – also AmerikanerInnen und EuropäerInnen – ausgeflogen.

Vor der Küste Liberias stationierten die Amerikaner vom Mittelmeer abgezogene Einheiten der Marine auf unbefristete Zeit zu Beobachtungszwecken. „Wir beabsichtigen nicht, daß US-Truppen in die Feindseligkeiten verwickelt werden. Unsere Streitkräfte sind aber gerüstet, amerikanisches Leben und Eigentum zu verteidigen.“ erklärte Präsident Clinton in einem Brief an den US-Kongreß. Doch die Nachfahren der seinerzeit ausgebürgerten US-amerikanischen SklavInnen haben kein Recht auf den Schutz, der US-AmerikanerInnen gewährt wird. Und schon gar nicht diejenigen, die in keiner Verbindung zu den USA stehen. Im Greystone-Park, der gegenüber der US-Botschaft liegt – das Greystone-Viertel ist das DiplomatInnenviertel –, wurde ein Massengrab mit ungefähr 100 Leichen gefunden. Angeblich handelt es sich dabei um Milizkämpfer und ZivilistInnen, die durch Kugeln oder Raketenangriffe gestorben sind, aber auch um zahlreiche Choleratote.

Vermittlungsversuche

Die Kämpfe rund um die US-Botschaft nahmen zu. Schwerbewaffnete Marinesoldaten wurden innerhalb der Botschaft stationiert. Die amerikanischen Marinesoldaten äußerten sich unzufrieden über die Soldaten der ECOMOG. Diese wären ihrer eigentlichen Aufgabe nicht nachgekommen, die Kämpfe zu stoppen. Stattdessen zögen sie durch die Stadt und plünderten, wo es nur ginge, und brächten ihre Beute in ihre Ursprungsländer, vor allem Nigeria. Auch die nigerianischen Zollbeamten seien mitschuldig, da sie die Frachten nicht überprüften. Tatsächlich bekamen die westafrikanischen „Weißhelme“ keinen Sold, hatten weder Unterkünfte noch Zelte, sind nicht einmal regelmäßig mit Nahrung versorgt worden.

Hingegen beschimpfte die Bevölkerung vor allem Taylor und seine Truppen als Plünderer (Geschäfte, Privathäuser und UNO-Büros). Die Beute wurde zum Teil auf ebenfalls von der UNO gestohlenen LKWs weggebracht.

Taylor rief am 17. Mai zu einer erneuten Waffenruhe auf und brach sie am nächsten Tag. Der amerikanische Botschafter William Milam versuchte zu vermitteln. Zuerst sprach man in der Botschaft mit dem Milizchef Charles Taylor über einen von den westafrikanischen Außenministern ausgearbeiteten Friedensplan. Am nächsten Tag lud man dann Vertreter der Miliz von Roosevelt Johnson, um diese darüber zu informieren. Die ECOMOG-Soldaten nahmen strategisch wichtige Punkte in Monrovia ein, konnten so vorerst die Zivilbevölkerung von den kämpfenden Milizen trennen, dann die rivalisierenden Milizen voneinander. Mittlerweile haben sich die Milizen Taylors entwaffnet aus der Hauptstadt zurückgezogen.

Es gilt abzuwarten, ob diese Waffenruhe hält. Das Dilemma der liberianischen Zivilbevölkerung ist jedenfalls perfekt. Die meisten Hilfsorganisationen sind abgezogen, da es für sie zu unsicher wurde und alle Versprechungen seitens der Machthaber immer wieder gebrochen wurden. Und viele Staaten machen ihre Haltung von den konkreten Maßnahmen und dem Willen der Milizführer abhängig, das Waffenstillstandsabkommen umzusetzen.

[1Self-Reliance: Entwicklungsstrategie, die auf dem Vertrauen auf die eigenen Ressourcen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse basiert.

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