Robert Zöchling
Oktober
1990
JURIDIKUM-THEMA: Freiheit und Demokratie

Vorsatz

Der Anlaß für das THEMA

dieser Nummer liegt auf der flachen Hand. In der Zeit der Umstürze in den Ländern des real nicht existierenden Sozialismus kommen auch in den Ländern des Westblocks einige Vorstellungen von „Freiheit und Demokratie“ ins Rutschen. Nicht nur bei den Katecheten des Schulbuch-Kommunismus, für die nun eine Welt zusammenkracht. Auch die — nicht minder üblen — Prediger der real nie existierenden Freiheit im Kapitalismus kommen mit ihren vorlauten Sprüchen vielerorts nicht mehr so gut an. Konnten sie noch vor nicht allzu langer Zeit jedem Kritiker des hierzulande herrschenden Systems, der sich damit unversehens als „Stalinist“ entblößte, ein „geh’ doch rüber!“ an den Kopf werfen und damit die Lacher auf ihre Seite bringen, so müssen sie jetzt konsterniert zur Kenntnis nehmen, daß sie weder zuletzt noch am besten lachen. Wie manche Geisteskranke können sie aber nicht aufhören, zu lachen — nur klingt das jetzt anders: hämisch. Mißlicherweise entspricht die Psychopathologie dieses Lachens den realen politischen Entwicklungen im Osten und beides entspricht der Logik des kapitalistischen Weltmarktes, der die Länder der sobenannten „zweiten Welt“ immer unterworfen waren, weil sie es nicht zu einem realen Sozialismus gebracht haben, zu dem sie es nicht brachten, weil sie immer dem kapitalistischen Weltmarkt unterworfen waren.

In den Volksbewegungen

des Ostens tritt nun zutage, daß dorten eine soziale und politische Realität geherrscht hat, die von der gelobten westlichen so verschieden gar nicht war. Dies zeigt sich daran, daß drüben wie hüben die überwiegende Mehrzahl der Menschen der großen Abenteuergeschichte der „freien Wirtschaft“ anhängt, die allen den Wohlstand verspricht, den sich dann die Geschichtenerzähler teilen. Und so bleibt es in den Ländern des real nicht zustandegekommenen Sozialismus wie bei uns den Dissidenten vorbehalten, die Lage aus der Perspektive einer eigentlich menschlichen Freiheit zu beurteilen. Jene, die sich jahrzehntelang mit der Macht der Planungsbehörden, der Einheitsparteien, der Staatssicherheitsdienste, der Regierungsmedien etc. konfrontiert sahen, treffen nun dank offener Grenzen und Kommunikationswegemit jenen zusammen, die sich jahrzehntelang mit der Macht der Konzerne, der sozialpartnerschaftlichen Verbände, der Staatssicherheitsdienste, der großen Medien etc. konfrontiert sahen. Nicht nur in dieser polemischen Gegenüberstellung zeigt sich, daß sich oft nur die Begriffe voneinander unterscheiden. Ist den östlichen Systemen nun ihre Bürokratie zu unflexibel und repressiv geworden, um in einer kapitalistischen Welt zu reussieren, so drängen die westlichen Systeme rasant zu neuer Bürokratisierung und Repression, um sich zu behaupten. Beide stehen vor einem gemeinsamen Problem: sich zwischen Liberalität und Repression, zwischen sozialer Sicherheit und Konkurrenzkampf so einzurichten, daß sie dem arbeitenden Volk größere Leistung zu geringeren Kosten abpressen und gleichzeitig politischer Konflikte, wie sie eine Zweidrittelgesellschaft mit sich bringt, Herr werden können. Am Ende dieser Entwicklung steht dann der Triumph westlich-subtiler, flexibler, effizienter Machttechnik in menschenfreundlicher Verkaufspackung über eine in Drittel geteilte Bevölkerung im „gemeinsamen Haus“ Europa. Jetzt darf gelacht werden.

Die Angleichung des Ostens

nicht nur an die westliche Wirtschaft, sondern auch an das westliche politische und rechtliche System zeigt sich bereits allerorten. Im rechtlichen Bereich wird heftig „liberalisiert“. Zunächst natürlich im Wirtschaftsrecht, da der Bedarf nach privatem Kapital enorm ist. Manchmal ist es geradezu frappierend, wie einfach das geht: In der DDR beispielsweise brauchen nur die — zum Teil formell nie außer Kraft gesetzten — Bestimmungen des deutschen (na eben) Handels- und Gesellschaftsrechts wieder aus den Schubladen geholt zu werden. Die sind zwar durch die „realsozialistische“ Verwaltungsstruktur überwuchert worden, aber mit ein paar dementsprechenden Anpassungen läuft der Laden wieder. Sodann wird das bürgerliche „Rechtsstaats“-Konzept übernommen, das in der Einrichtung einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit gipfelt. Das alles geschieht unter heftiger Akklamation der westlichen Medien und — der Bevölkerung. Von so einem freiheitlichen Rechtsstaat kann man sich ja auch wirklich einiges erhoffen — außer man kennt ihn schon. In diesem Fall weiß man nämlich, daß der bei Bedarf geschlossen wird. Was das heißt, kann man zur Zeit in ganz Westeuropa mitverfolgen: sobald sich soziale Konflikte zuspitzen und der Staat das Bedürfnis hat, die freiheitlichen Grundrechte seiner Bürger einzuschränken, damit er nicht die Kontrolle über sie verliert, tut er das. Er tut es, wenn’s leicht geht, unter Bemühung des demokratisch mehr/weniger legitimierten Gesetzgebers (wenn nicht, dann streitet er unter Zuhilfenahme der Medien wenigstens ab, daß er überhaupt irgendetwas tut).

Die Medien sind generell ein wesentlicher Bestandteil des „Rechtsstaates“: sie werden dazu benötigt, allfällige Vorwände für dessen tendenzielle Umwandlung in einen Polizeistaat glaubhaft zu vermitteln. Als solche taugen zum Beispiel: Bekämpfung von Drogenkriminalität, Terrorismus, illegaler Einwanderung, Überfremdung und dergleichen mehr. Unter solchen Titeln lassen sich dann Behörden mit umfassenden Befugnissen ausstatten, und zwar in einer Form, die die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Erteilung und der Ausübung dieser Befugnisse durch das Prunkstück des „Rechtsstaates“ — das Verfassungsgericht —möglichst erschwert bis verunmöglicht. Als nächstem Schritt geht es darum, dem Gesetzgeber (demokratisch, mehr/weniger) möglichst unbemerkt möglichst viel Macht zu entziehen: indem man den Behörden Instrumente für präventives und „eigenständiges“ Handeln in die Hand gibt. Dafür bietet sich zum Beispiel im Bereich der Datenverarbeitung eine unübersehbare Fülle von Möglichkeiten an. Da die Beherrschung sozialer Konflikte auf nationaler Ebene längst nicht mehr zu bewältigen ist, bedarf es nun noch der Vereinheitlichung und Vernetzung der Behördenaktivität im internationalen Maßstab, die sich ebenfalls schon in vollem Gang befindet. Die Bürgerinnen und Bürger des Ostens können sich also auf einiges gefaßt machen. Der im Aufbau befindliche Europäische Sicherheits- und Polizeistaat übertrifft mit Gewißheit alles, was sie bisher kennengelernt haben.

Eine neue Solidarität

ist vonnöten, um in der künftigen gemeinsamen Geschichte seinen Platz als fortschrittliche Bewegung zu finden. Erste, vereinzelte Kontakte sind bereits vorhanden, für den kommenden Sommer ist ein Kongreß von interessierten Personen aus den Bürgerbewegungen Ost- und Westeuropas in Südfrankreich geplant (die Redaktion steht für Auskünfte gerne zur Verfügung).

Direkte Ost-Westkontakte — Bürgerforum Limans

(Initiativkomitee 89-93, zö). Die Umwälzungen, die in Osteuropa durch breite Volksbewegungen in Gang gesetzt wurden, wecken im Westen kaum mehr als neugierige Schaulust. Hier sind die Menschen wie betäubt vom westlichen Wohlstand, der allerdings nur schlecht über die krassen sozialen Gegensätze hinwegtäuschen kann. Gegen ihren schwindenden Einfluß auf Entscheidungen, die die eigene Zukunft betreffen, protestieren sie vorwiegend mit Politikverdrossenheit. Offener oder stiller Protest — immer weniger Europäer finden sich mit den Gesellschaftssystemen ab, die ihnen im Verlauf eines halben Jahrhunderts aufgezwungen wurden. Wenn es einen Ausweg aus dieser Situation gibt, dann liegt er in der unverzüglichen Wiederaufnahme von direkten Kontakten zwischen Menschen aus Ost- und Westeuropa. Das Initiativkomitee 89-93 schlägt deshalb ein erstes Zusammentreffen unter dem Titel „Europäisches Bürgerforum“ für kommenden Sommer vor. Einige Fragen, die bei diesem Kongreß gestellt werden sollen, lauten: Wie die Menschen in Osteuropa über die sozialen Folgen des westlichen Liberalismus aufklären? Wie die sozialen Errungenschaften gegenüber einem Unternehmertum verteidigen, das angesichts des massiven Zustroms von Arbeitskräften aus dem Osten bereits damit liebäugelt, die bestehenden Sozialleistungen abzubauen? Wie die Errichtung der „Festung Europa“ unter Führung der am weitesten fortgeschrittenen Polizeistaaten verhindern?

Europäisches Bürgerforum, 29. Juli bis. 12. August, Limans (Alpes de Haute Provence).
Auskünfte: ZUSAMMEN, Schneidergasse 15, 1110 Wien, Tel. 74 51 96.

aus: Juridikum 3/90, Seite 3 und 5

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