Streifzüge, Heft 49
Juni
2010

Wahl und Qual

Von der Unterschiedslosigkeit der Parteien

Angeblich werden in Demokratien durch Wahlen wesentliche Fragen der Gesellschaftsordnung frei bestimmt. Aber zur Wahl stehen ausschließlich Personen und Parteien. Die gesellschaftlichen Grundstrukturen, die ihrerseits wesentlich ökonomisch bestimmt sind, stehen dagegen nicht zur Disposition. Obendrein sieht sich das politische Personal ausnahmslos einem ökonomischen „Realismus“ verpflichtet, der vor allem auf Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen abzielt. Wie realistisch diese Ziele sind, wird gar nicht erst zur Debatte gestellt. Als oberste Priorität gilt von rechts bis links, den zunehmend ins Trudeln geratenden gesellschaftlichen Formzusammenhang zu erhalten. Streitigkeiten gibt es zwar im Hinblick auf Verteilungsfragen, aber hier tendieren die Spielräume zusehends gegen Null. Den politischen Akteuren bleibt auch gar nichts anderes übrig, als zuallererst für das Wohl der Wirtschaft zu sorgen. Denn nur wenn es der gut geht, kann der Staat im erforderlichen Umfang Steuern, Gebühren und Abgaben einnehmen, um selbst handlungsfähig zu bleiben.

Politikillusion

Über das strukturelle Primat der Ökonomie täuscht oberflächlich die Tatsache hinweg, dass Wirtschaftsunternehmen und politische Herrschaft in den modernen Demokratien von verschiedenen Personen betrieben werden. Diese Trennung wird zwar faktisch nicht konsequent durchgehalten – insbesondere wechseln Politiker häufig am Ende der politischen Karriere in die Wirtschaft –, aber selbst wenn sie rigoros durchgesetzt würde, änderte das nichts daran, dass der Staat die Gesellschaft nicht nach eigenen Regeln bestimmen kann, sondern sie zuallererst nach den Zwängen des ökonomischen Verwertungsprozesses zu regulieren hat.

Seine besondere Aufgabe besteht gerade darin, den Rahmen des allgemeinen Konkurrenzgeschehens gegen die jeweiligen Partikularinteressen zu vertreten und zu erhalten. Zur Erfüllung dieser Aufgabe muss er alle Beteiligten gleichermaßen zwingen, sich gemäß den ökonomischen Zwängen zu verhalten. So gilt etwa jeder Versuch von Individuen, anders als über die allseitige Konkurrenz und das universelle Tauschgeschehen an ihre benötigten Lebensmittel zu kommen, zumindest als anrüchig. Ähnliches gilt für die Unternehmen: Auch für diese sind bestimmte legale Wege vorgesehen, um an ihre Produktionsmittel zu gelangen. Dass von Seiten der Wirtschaft immer wieder versucht wird, staatliche Institutionen zu instrumentalisieren, steht freilich außer Frage. Aber sowohl im Hinblick auf die personelle Durchlässigkeit zwischen Politik und Ökonomie als auch in Fällen der Instrumentalisierung staatlicher Institutionen (Stichwort: Lobbyismus) darf Staatskritik nicht auf die „Entlarvung von Machenschaften“ reduziert werden. Sonst wäre das grundlegende Problem nicht einmal annähernd erfasst.

Weil der Staat von einer gelingenden Wirtschaftstätigkeit innerhalb seines Hoheitsgebietes abhängig ist, muss er wohl oder übel nach dem Motto handeln: „Demokratisch ist, was vernünftig, und vernünftig ist, was ökonomisch notwendig ist.“ Keine Regierung kommt daran vorbei. Was Staaten droht, die sich allzu großzügig über dieses Grunderfordernis hinwegsetzen, wird aller Welt gerade am Beispiel Griechenlands demonstriert. Die betreffenden Länder verlieren sukzessive ihre Handlungsmacht und werden zunehmend von internationalen Institutionen gegängelt, die ohne Rücksicht auf Verluste die ignorierten ökonomischen Prinzipien durchsetzen. Durch die damit verbundene Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen schwindet der Rückhalt der Politik in der Bevölkerung, anomische Tendenzen machen sich breit und das Land wird zunehmend unregierbar. Die Politik gerät in einen Zangenangriff, der ihre Entscheidungsspielräume weiter einengt. Als Endpunkt einer solchen Entwicklung drohen völlige Entstaatlichung und allgemeine Barbarei.

Ununterscheidbarkeit der Parteien

Wachsender Unmut gegen den Staat kann durch Wahlen von den grundlegenden Problemen abgelenkt und gegen das gerade amtierende Personal und dessen Partei(en) gerichtet werden. Im Wahlkampf werden dann vorgeblich fundamentale Differenzen proklamiert. Meist ist dann von einer „entscheidenden Richtungswahl“ die Rede, und es wird gern so getan, als stünde das Schicksal ganzer Dekaden auf dem Spiel. Faktisch sind aber die Differenzen zwischen den Parteien oft so klein, dass sie den Streit kaum lohnen. Und sobald sich eine Equipage an der Macht befindet, exekutiert sie – egal ob alt oder frisch installiert – nichts anderes als den totalitären Anspruch der Ökonomie. Dann wird wieder auf die Alternativlosigkeit anstehender Entscheidungen hingewiesen und Einsicht in angeblich unabweisliche Notwendigkeiten gefordert. Eng hiermit zusammen hängen auch die großzügig gegebenen Wahlversprechen, von denen sich die meisten bald als unerfüllbar, weil „nicht finanzierbar“ herausstellen.

Die Wähler sollen also im Grunde nur über ein mehr oder weniger effizientes Verwaltungspersonal entscheiden. Das ist dann in erster Linie damit beschäftigt, „Reformen“ auf den Weg zu bringen, die das Wohl der Wirtschaft fördern sollen und regelmäßig mit der Verschlechterung von Lebensbedingungen der Bevölkerung verbunden sind. Dass sich in der vorausgegangenen Wahl also faktisch eine Mehrheit für eine Politik gefunden hat, die gerade die Interessen dieser Mehrheit missachtet, lässt sich nur dadurch erklären, dass die angebotenen Alternativen gar keine echte Wahl darstellten. Selbst die Verteilungsfragen, in denen sich die Parteien vorgeblich voneinander unterscheiden, spielen kaum eine Rolle, da Verteilungsspielräume in einer Ökonomie, die sich seit Jahrzehnten in einer Dauerkrise befindet, fast nicht mehr vorhanden sind.

All das hält das gewählte Personal jedoch keineswegs davon ab, sich in den nächsten vier oder fünf Jahren auf das Wählervotum zu berufen. Solange der Staat in dieser Situation noch einigermaßen stabil bleibt, wird gern ein „moderner“ Pragmatismus an den Tag gelegt. Mustergültig verhält sich in dieser Hinsicht die an sich mit einer Richtlinienkompetenz ausgestattete deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): Sie lässt vom Regieren lieber die Finger und versteckt sich hinter ihren Kabinettsmitgliedern, an die sie nach angemessener Zeit und je nach öffentlicher Reaktion entsprechende Rügen oder Fleißkärtchen verteilt. Das funktioniert zwar desto weniger, je mehr Politik nichts anderes darstellt als den Abklatsch ökonomischer Diktate, wie übrigens auch die stetige Zunahme der Nichtwähler signalisiert. Aber noch funktioniert es.

Wenn jedoch das Tagesgeschäft mit seinem Pragmatismus nicht mehr zum Erfolg führt und die Chancen für die nächste anstehende Wahl einbrechen, dann schlägt die Stunde der Sündenbockideologien. So geschehen beim Regierungspartner von Merkels Partei: Weil die FDP mit ihrem ungebrochenen Neoliberalismus bei einer zunehmend skeptischen Wählerschaft kaum noch punkten kann, suchte ihr Parteichef Guido Westerwelle das Heil im Ressentiment und begann gegen die Empfänger staatlicher Transferleistungen zu hetzen. Fleißige Bürger, so der Plan, sollten darauf anspringen und brav FDP wählen. Zu seiner eigenen Verwunderung hat sich Westerwelle damit jedoch mächtig verkalkuliert. Wie weiland der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) mit seinen Attacken auf U-Bahn-Schläger, die er obendrein noch unverhohlen mit ausländerfeindlichen Ressentiments vermengte, musste auch Westerwelle erfahren, dass man mit der Hetze gegen Minderheiten nicht in jedem Fall Erfolg hat. Das dürfte auch daran liegen, dass die Anzahl derjenigen Menschen zunimmt, welche die zugrunde liegenden strukturellen Ursachen mitsamt der auf sie selbst zielenden Bedrohung zumindest erahnen. Ihnen ist offenbar im in Deutschland sehr dramatischen Verlauf der Krise mehr oder weniger klar geworden, dass Arbeitslosigkeit usw. nicht auf ein massenhaftes Versagen bzw. verwerfliches Handeln der von Westerwelle und Co. attackierten Individuen zurückzuführen ist.

Die stets erbärmlicher werdende Auswahl unter den etablierten Parteien bringt es auch mit sich, dass immer schneller Protestparteien entstehen, denen es gelingt, genügend Stimmen von Unzufriedenen zu sammeln, um wahrnehmbar in Erscheinung zu treten. Dieses Phänomen geht durch alle politischen Lager: von der lokal und zeitlich begrenzten Schill- oder STATT-Partei auf der rechtskonservativen Seite über die Linkspartei für enttäuschte Sozialdemokraten bis hin zur Piraten-Partei, in der sich unter anderem enttäuschte Liberale bis auf weiteres beheimatet fühlen dürfen.

Sobald neue Parteien die Schwelle der öffentlichen Wahrnehmbarkeit überschreiten, bewegen sie sich zwischen den Polen der Marginalisierung und der Etablierung. Entweder werden sie alsbald wieder ins Abseits gestellt und verschwinden kurz darauf. Oder aber sie werden nach und nach domestiziert. Denn bevor es eine Partei schafft, auch nur in die Nähe einer Regierungsbeteiligung zu kommen, durchläuft sie in der Regel einen Anpassungsprozess, in welchem sie die herrschende Logik immer weiter verinnerlicht. Am Ende geben Pragmatiker, Realos und Karrieristen den Ton in der Partei an, und der ursprüngliche kritische Impuls geht verloren.

So war es bei den GRÜNEN, die sich längst zum real existierenden Pragmatismus durchgearbeitet haben. So ist die Tendenz bei der Linkspartei. Und so wird es absehbar auch bei der Piratenpartei sein. Die radikaleren unter den Gründungsmitgliedern werden enttäuscht, fühlen sich verraten und wenden sich nicht selten der Gründung einer neuen Partei zu, die es dann wirklich anders machen soll. Politiker dagegen, die erkennen, dass sich ein besseres Leben innerhalb der bestehenden Verhältnisse nicht mehr verwirklichen lässt, sind bald keine mehr. Im etablierten Politikbetrieb bleiben daher am Ende nur pragmatische Sachstandsverwalter, Populisten und allenfalls noch notorische Neugründer übrig, die in der x-ten Partei ihre politische Heimat suchen.

Marktgängige Professionalisierung

Nach der Wahl ist das Wahlvolk für die anstehenden Entscheidungen überflüssig. Das war nie anders. Ein neueres Phänomen stellt dagegen die Tatsache dar, dass selbst die gewählten Vertreter nicht gefragt werden, sondern politische Entscheidungen in Kommissionen, Experten- oder Konsensrunden vorbereitet werden, während das Parlament erst ganz am Ende des Entscheidungsprozesses die ausgearbeiteten Fassungen vorgelegt bekommt und zum reinen Abnickinstrument degradiert wird. Ein „Meilenstein“ in dieser Entwicklung war die im Februar 2002 eingesetzte Hartz-Kommission. Sie bestand aus 15 Mitgliedern, darunter acht (!) Repräsentanten der Wirtschaft, zwei Gewerkschaftern, zwei Wissenschaftlern, zwei (!) Politikern und einem Beamten. Der größte Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik wurde faktisch am Parlament vorbei in einem parastaatlichen Organ ausgeheckt, in dem Politiker eine kleine Minderheit darstellten.
Das ist letztlich nichts anderes als „Outsourcing“ von Politik. Hinzu kommt, dass der Staat auf allen Ebenen (Bund, Ländern, Kommunen, Ämtern etc.) immer mehr bezahlte Berater engagiert. Und auch die Wahlkampagnen der politischen Parteien werden zunehmend von externen Beratern geführt, sodass sie folgerichtig kaum noch von Werbefeldzügen für x-beliebige Produkte zu unterscheiden sind. Durch den Einzug der Marktlogik wird die Trennung von Politik und Ökonomie quasi durch die Hintertür unterlaufen. Und die letzten Unterschiede zwischen den Parteien reduzieren sich auf Fragen der Werbestrategie und des Politmarketings.

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