Streifzüge, Heft 1/1999
März
1999

Was bleibt von Freudomarxismus Wilhelm Reichs?

Posthum wurde Wilhelm Reich zu einem der wichtigsten Theoretiker der Studentenbewegung. Denn er war der Theoretiker der sexuellen Revolution, der Befreiung von der sexuellen Zwangsmoral — und seine Theorien schienen sich zunächst leichter in die Praxis umsetzen zu lassen als die von Marx: es genügte die Gründung einer Kommune in den eigenen vier Wänden. Jedenfalls waren die Bücher aus seiner marxistischen Phase — vor allem Die sexuelle Revolution, Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral und Die Massenpsychologie des Faschismus (aus letzterem soll auch im folgenden zitiert werden) — die hervorstechendsten, wenn es darum ging, die Kritik der politischen Ökonomie mit der Kritik der Kleinfamilie zu vermitteln, Marx und Freud zu vereinen und gegen die Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung und der real-sozialistischen Staaten zu wenden. Sein Schicksal als ein von Freud und der KP Verstoßener, von den Nazis Verfolgter und Vertriebener trug ebenfalls zur Popularität wenigstens innerhalb der frühen undogmatischen Phase der Studentenbewegung bei. Andererseits mußte Reichs Marxismus aus den frühen dreißiger Jahren mit seinem ungebrochenen, direkten Bezug auf die Arbeiterklasse auch noch in der Ära der K-Gruppen radikaler erscheinen als die Theorien aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung, die sich ebenfalls um eine Integration der Psychoanalyse bemühten.

Reich, zunächst in den zwanziger Jahren in Wien im Kreis von Freud tätig, dann in Wien und Berlin in SP und KP engagiert, übernimmt eine ursprüngliche Intention von Freud und macht daraus eine Art Triebbefteiungstheorie: es gilt, das Verdrängte, das Es, die Triebe gegenüber den repressiven Tendenzen der Gesellschaft durchzusetzen. Bei Freud selbst bildete diese Konzeption stets nur eine Komponente seines Denkens, sie trat insbesondere seit den zwanziger Jahren mehr und mehr zurück und machte einer positiveren Einschätzung der Kultur Platz. In gewisser Weise kehrte Freud sein Konzept sogar um: nun erschien dem Begründer der Psychoanalyse gerade die Sublimierung der Triebe als zu fördernde Kulturleistung und als notwendige Verhinderung von Barbarei. Reich hingegen bewahrt nicht nur die ursprüngliche Intention Freuds, sondern spitzt sie zu — die Barbarei, so sagt er, entspringt nicht den Trieben, sondern deren Unterdrückung.

Dies ermöglicht Reich zunächst einmal, die Bedeutung der Kleinfamilie für die Ausprägung der Ideologie zu begreifen, Strukturen des Unbewußten in ihrer Funktionalität fürs Kapital zu erkennen. Er zitiert Marx aus den Theorien über den Mehrwert, daß „alle menschlichenVerhältnisse und Funktionen, wie und wann die sich immer darstellen, die materielle Produktion beeinflussen und mehr oder minder bestimmend auf sie einwirken“ — und zählt zu diesen Verhältnissen eben auch die „persönlichsten und privatesten“, das „Triebleben“, das „Geschlechtsleben der Frauen und Jugendlichen und Kinder“ [...] (S. 38) In dieser Erweiterung des Blickwinkels liegt in den zwanziger und dreißiger Jahren die singuläre Bedeutung Wilhelm Reichs innerhalb der Arbeiterbewegung. Es schärft vor allem auch seinen Sinn für die Gefahr des Nationalsozialismus und seine Kritik an den Staatskommunisten: einem vulgärmarxistischen Arbeiterfunktionär, der die Dynamik der Psyche unterschätze und seinen Arbeitern „illusionär Mut einpumpe“, müsse es — so Reich immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben, daß „es für die politische Reaktion nie eine ausweglose Situation gibt, daß eine scharfe ökonomische Krise ebensogut in die Barbarei wie zur gesellschaftlichen Freiheit führen kann [...].“ (S. 37)

Mit der Formulierung einer „Sexualökonomie“ wollte Reich die begriffliche Lücke zwischen Marx und Freud schließen: missing link ist die Familie — als gesellschaftliche Kernsituation, „in der die wirtschaftliche und die sexualökonomische Situation der patriarchalisch-autoritären Gesellschaft sich ineinanderflechten“. „Die Verknüpfung der sozialökonomischen und der sexuellen Struktur der Gesellschaft und die strukturelle Reproduktion der Gesellschaft erfolgen in den ersten vier bis fünf Lebensjahren und in der auroritären Familie. Die Kirche setzt diese Funktion später nur fort. So gewinnt der autoritäre Staat sein ungeheures Interesse an der autoritären Familie: Sie ist seine Struktur- und Ideologiefabrik geworden.“ (S. 48f.) „Die moralische Hemmung der natürlichen Geschlechtlichkeit des Kindes, deren letzte Etappe die schwere Beeinträchtigung der genitalen Sexualität des Kleinkindes ist, macht ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam, im autoritären Sinne ‚brav‘ und ‚erziehbar‘ [...] kurz ihr Ziel ist die Herstellung des an die autoritäre Ordnung angepaßten, trotz Not und Erniedrigung sie duldenden Untertans. Als Vorstufe dazu durchläuft das Kind den autoritären Miniaturstaat der Familie, an deren Struktur sich das Kind zunächst anpassen muß, um später dem allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen einordnungsfihig zu sein. Die autoritäre Strukturierung des Menschen erfolgt [...] zentral durch Verankerung sexueller Hemmung und Angst am lebendigen Material sexueller Antriebe.“ (S. 49)

Der Nationalsozialismus nun schaffe „Ersatzbefriedigung“ für diese gehemmten, verdrängten Triebe: „Ist nämlich die Sexualität durch den Prozeß der Sexualverdrängung aus den naturgemäß gegebenen Bahnen der Befriedigung ausgeschlossen, so beschreitet sie Wege der Ersatzbetriedigung verschiedener Art. So zum Beispiel steigert sich die natürliche Aggression zum brutalen Sadismus [...] Die Wirkung des Militarismus beruht massenpsychologisch im wesentlichen auf einem libidinösen Mechanismus: die sexuelle Wirkung der Uniform, die erotisch aufreizende, weil rhythmisch vollendete Wirkung der Parademärsche [...].“ (S. 50) Der autoritäre Staat bezieht also seine „Energie aus der verdrängten Sexualität [...] Die Sexualhemmung verändert den wirtschaftlich unterdrückten Menschen strukturell derart, daß er gegen sein materielles Interesse handelt, fühlt und denkt.“ (S. 51) Im Sinne dieser psychologischen Faschismustheorie glaubt Reich auch beweisen zu können, „daß der Kern der faschistischen Rassetheorie Todesangst vor der natürlichen Sexualität und ihrer Orgasmusfunktion ist.“ (S. 92)

Die Prägung in der Familie bedeutet demnach eine Disposition für „Ersatzbefriedigungen“. Sobald sich Reich erwas konkreter mit dem auseinandersetzt, was er als Hemmung der natürlichen Sexualität versteht, gelingt ihm allerdings eine genauere Ableitung solcher „Ersatzbefriedigungen“. So etwa wenn er die individuelle Fundierung nationalen Bewußtseins mit der Mutterbindung in Zusammenhang bringt. Im Unterschied zu Freud sieht Reich dabei im Ödipuskomplex nicht so sehr Ursache als vielmehr Folge der gesellschaftlichen Sexualeinschränkung des Kindes. „Wichtig ist hier, daß die sexuelle Hemmung das Mittel der Bindung an die autoritäre Familie ist, daß die Versperrung des Weges in die sexuelle Wirklichkeit die ursprüngliche biologische Bindung des Kindes an die Mutter und auch der Mutter an die Kinder zur unlösbaren sexuellen Fixierung und zur Unfähigkeit, andere Bindungen einzugehen, gestaltet. Im Kern der Familienbindung wirkt die Mutterbindung. Die Vorstellungen von Heimat und Nation sind in ihrem subjektv-gefühlsmäßigen Kern Vorstellungen von Mutter und Familie. Die Mutter ist die Heimat des Kindes im Bürgertum, wie die Familie seine ‚Nation im Kleinen‘ ist. [...] Das nationalistische Empfinden ist demnach die direkte Fortsetzung der familiären Bindung und wurzelt wie diese zuletzt in der fixierten Mutterbindung. Das ist nicht biologisch auszulegen. Denn diese Mutterbindung ist selbst, soweit sie sich zu familiärer und nationalistischer Bindung fortentwickelt, gesellschaftliches Produkt. Sie würde in der Pubertät anderen Bindungen — etwa natürlichen Sexualbeziehungen — Platz machen, wenn nicht die sexuellen Einschränkungen des Liebeslebens sie verewigen würden. Erst in dieser gesellschaftlich begründeten Verewigung wird sie die Grundlage des Nationalgefühls des erwachsenen Menschen [...].“ (S. 71)

Bereits Freud hatte in der „Massenseele“, etwa in den Beziehungen der Massen zu einer Führerfigur, „Liebesbeziehungen“ wahrgenommen. [1] Was jedoch weder ihm noch Reich überzeugend gelang, ist, den eigentlichen Vorgang der Verallgemeinerung zu begreifen, der die individuellen Liebes-, Mutter- und Väterbeziehungen zur Verinnerlichung von Staat und Kapıtal, zum Nationalgefühl, werden läßt. Und dieses Unvermögen dürfte damit zusammenhängen, daß beide, Freud und Reich, keinen Begriff vom gesellschaftlich Unbewußten hatten, wie Marx es in der Wertformanalyse des Kapital zur Darstellung bringen konnte. Das ist nun bei Freud, der sich als bürgerlicher unmarxistischer Wissenschaftler verstand, nicht weiter verwunderlich. Bei Reich wiederum, der das Kapital immerhin gelesen hat, entspricht es dem üblichen Arbeiterbewegungsmarxismus, der die Frage von Warenfetisch und Wert links liegen läßt und sich umso mehr auf die Ontologisierung der Arbeit konzentriert.

Bei Wilhelm Reich wird wie vielleicht nirgendwo sonst deutlich, daß Marxismus und Psychoanalyse ein vergleichbares Dilemma besitzen: was für Marx die Ontologisierung der Arbeit ist für Freud die Biologisierung des Sexuellen. Reich folgt beiden, führt beide zusammen: immer wieder spricht er vom „Natürlichen“ als dem Kern der Sexualität und immer wieder von der Arbeit als dem Kern des Gesellschaftlichen; und darum auch ist als Leitvorstellung sexueller wie sozialer Revolution von einer „natürlichen Arbeitsdemokratie“ die Rede (S. 276) — einer Art Freiwilligen-Arbeitslager mit Promiskuität.

Das topische Modell von Freud besteht aus Es, Ich und Über-Ich, wobei der Begriff des „Es“, den Freud (über Georg Groddeck) von Nietzsche übernommen hat, für das biologische Substrat des Menschen steht, für die Natur. Es ist nun charakteristisch, daß Freud mit diesem Es auch die biologistische Tendenz von Nietzsche übernahm und mitunter jede Kantsche Skepsis gegenüber der Naturerkenntnis fallenließ. Dabei könnte gerade das Es — durch den Ort, den es im Freudschen System einnimmt — in besonderer Weise als „Ding an sich“ begriffen werden: ein „Ding“, bei dem Natürliches und Gesellschaftliches derart ineinander übergehen, daß eine klare Trennung von Natur und Gesellschaft überhaupt nicht möglich ist. Was also am Menschen Natur ist, läßt sich letztendlich nicht isolieren und für sich bestimmen.
Freud nähert sich manchmal dieser Selbsterkenntnis der Erkenntnis an [2] — doch seine Affinität zu einem naturwissenschaftlich verkürzten Begriff von Erkenntnis verhinderte hier einen konsequent kritischen Standpunkt.

Bei Wilhehn Reich, dem die Philosophie Kants viel ferner ist und die Nietzsches noch viel näher, wird dieser Biologismus nun bedeutend gesteigert. Schon die frühe Fixierung auf den Orgasmus und die genitale Sexualität, deren Störung Reich als die einzigen Ursachen von psychischen Krankheiten und rassistischen Ideologien begreifen möchte, hängt damit zusammen. Reich beginnt, überall nach naturwissenschaftlichen Äquivalenten zu suchen, und möchte alle Vorgänge des Seelenlebens quantifizierbar machen. Er setzt Elektrizität und Libido gleich, und versucht mit solcher Bioelektrizität die Neurosen zu erklären und zu heilen. Als er sich schließlich von Marxismus verabschiedet, kennen auch seine naturwissenschaftliche Gläubigkeit und sein technizistischer Eifer keine Grenzen mehr, [3] und konsequent, freilich auch angetrieben von paranoiden Vorstellungen, treibt er den Wahn der Meßbarkeit bis zum Wahnsinn des Orgon-Akkumulators und ähnlicher Abstrusitäten (die ihm sogar im Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine Gefängnisstrafe einbringen, bei deren Verbüßung er schließlich stirbt).

Wie im Zeitraffer hat Reich in wenigen Jahren die Ideologien durchlaufen: von Psychoanalyse und Marxismus bis zu einer als Religion betriebenen Naturwissenschaft und Frühformen heutiger Esoterik. Der Punkt aber, an dem sich einst bei Reich Marxismus und Psychoanalyse begegneten, ist noch immer eine Leerstelle. Und gerade weil seine Schriften an diesem Punkt besonders deutlich das Dilemma und die Problematik von Psychoanalyse und Marxismus zum Ausdruck bringen, kann es heute noch sinnvoll sein, sich mit ihnen zu beschäftigen. Sinnvoller jedenfalls als Theweleit oder Deleuze/Guattari zu lesen, wo solche Problematik grundsätzlich verwischt wird. Die Autoren der siebziger Jahre ersetzen das Problem von Arbeit und Trieb einfach durch den Begriff der „Wunschproduktion“ und ersparen sich auf diese Weise jede weitere Beschäftigung mit der Wertkritik und der Biologismuskritik — und das Publikum in Deutschland, das davon ohnehin nichts wissen wollte, dankte es ihnen mit hohen Auflagen.

Veraltet erscheint Reich insbesondere nach der Lektüre von Michel Foucaults Sexualität und Wahrheit aus den achtziger Jahren. Foucault geht von einer prinzipiellen Kritik der „‚Repressionshypothese“ aus und scheint nahezu alles in Frage zu stellen, was Wilhelm Reich je gedacht hat. Was er in einer verquast akademischen Manier mehr angedeutet als bewußt gemacht hat, relativiert tatsächlich die Grundlagen der Reichschen Libidobefreiungstheorie. Foucault schrieb diese Bücher, als die sexuelle Revolution bereits in permanentem Gang war — aber in einer anderen Form, als Reich sie erhofft hatte: in der Warenform. (Da Foucault keinerlei Begriff dieser Form besaß, mußte er der Repressionshypothese eine andere Art von Ontologisierung entgegenhalten, ebenfalls unter Rückgriff auf Nietzsche: eine Ontologie der Macht.)

Differenzierter hatte bereits Herbert Marcuse in den fünfziger Jahren die Repressionshypothese kritisiert: er sprach von Reichs Unfähigkeit, zwischen verschiedenen Arten von Unterdrückung zu unterscheiden, die ihn daran hindere, „die historische Dynamik der Sexualtriebe und ihrer Verschmelzung mit den Destruktionsimpulsen“ zu sehen und formulierte den Begriff der „repressiven Entsublimierung“. [4] Hier läßt sich anschließen. Wenn das „Es“ selbst auf die Warenform anspricht, freilich nur in einer bestimmten quantifizierbaren verwertbaren Richtung, wenn Sexualität also nicht — oder nicht nur — repressiv unterdrückt wird, sondern — zugleich — wertförmig gereizt und gefördert, so ist es für die Kritik leichter als jemals, den Biologismus der Psychoanalyse zurückzuweisen. (Meist jedoch wird das Es dabei im Sinne Lacans einfach in eine ontologisch abgestützte Zeichentheorie überführt — und mit dem Gerede von „Codes“ abermals die Warenform verfehlt.) Von der Sexualität kann unter solchen Bedingungen wohl kaum noch gesprochen werden, vielmehr wäre grundsätzlich unter dem Aspekt der Verwertung von verschiedenen Formen des Sexuellen auszugehen. (Begriffe wie genitale und prägenitale Sexualität reichen hier sowenig mehr aus, wie der Begriff der Regression.)

Die Durchsetzung der Warenform in allen gesellschattlichen Bereichen, insbesondere in der individuellen Reproduktion der Arbeitskraft, kann auch die Konstellation von Ich und Über-Ich nicht unberührt lassen. Stefan Breuer z.B. spricht darum im Anschluß an Marcuse und Adorno überhaupt von einem Veralten der Psychoanalyse als kritischer Theorie — „im gleichen Maß, in dem die ‚organische Zusammensetzung‘ des Menschen wächst“; [5] Jessica Benjamin geht davon aus, daß die „historischen Bedingungen des Familienlebens verschwunden [sind], die nach Freud den Internalisierungs- und Individuierungsprozeß förderten. [...] Die Internalisierung wird durch direkte Anpassung mittels äußerem Druck ersetzt.“ [6] Auch der „Miniaturstaat“, wie Wilhelm Reich die Familie nannte, ist jedenfalls aufgefordert, ein schlanker Staat zu werden: bei der alleinerziehenden Mutter mit Teilzeitbeschäftigung aber auch überall sonst wird ein gewisser Teil der Erziehung ausgelagert (Fernsehen, Computerspiel etc.). Die Individuen sind sozusagen weniger als früher durch die Familie hindurch mit der Verwertung vermittelt, sie sind mehr denn je „verwertungsunmittelbar“. An die Stelle der klassischen Neurose treten etwa Phänomene wie die Magersucht, die vermutlich eher aus dem unmittelbar wirksamen Druck von „außen“ als aus der Internalisierung der „inneren“ Familienautorität resultieren. Das Über-Ich ist nicht mehr nur an Vater- und Staatsautorität gebunden und in diesem Sinn repressiv gegenüber den „Trieben“, es hat vielmehr die Norm der Produktivität und des Massenkonsums in sein Progranım übernommen — und verlangt somit zugleich immer auch das Gegenteil von Askese und Sexualunterdrückung. Eine neue Angst ergänzt die alte autoritätshörige: es ist die Angst, dem Über-Ich der Produktivität und des Konsums nicht mehr entsprechen zu können. Da die Gesundheit als Grundlage der Produktivität und dann auch des Konsumvermögens neue Bedeutung gewinnt — und zur Fitness der als Arbeitskraft-Behälter, Konsum-Container und Staatsbürger-Brutkästen funktionierenden Subjekte zählt eben auch die quantifizierbare sexuelle Leistungsfähigkeit —, verkehren sich Wilhelm Reichs Schriften in dieser Hinsicht zum Organon der „repressiven Entsublimierung“, das gerade jenes neuergänzte Über-Ich des Kapitals affırmiert. All dies — und hier konnten nur einige Andeutungen gemacht werden — verändert notwendig auch jene Zusammenhänge, die Wilhelm Reich die Massenpsychologie des Faschismus genannt hat. Und es wäre wohl dringend nötig, diese neuen Bedingungen sexistischer, rassistischer und antisemitischer Ideologie sich bewußt zu machen.

Wilhelm Reich: Die Massenpsychologie des Faschismus, [1933] Frankfurt am Main 1981

[1Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Studienausgabe. Frankfurt am Main 1982. Bd. IX. S. 86

[2So insbesondere in der späten Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, wenn er sagt: „Es gibt im Es nichts, was man der Negation gleichstellen könnte, auch nimmt man mit Überraschung die Ausnahme von dem Satz der Philosophen wahr, daß Raum und Zeit notwendige Formen unserer seelischen Akte seien. Im Es findet sich nichts, was der Zeitvorstellung entspricht [...].“ Sindienausgabe Bd. I, S. 511

[3Wilhelm Burian schreibt darüber in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Reich aus dem Jahre 1972, die noch immer zum Besten gehört, was es über die Psychoanalyse zu lesen gibt: „Die ‚Korrekturfunktion‘ der materialistischen Geschichtsauflassung geht nun endgültig verloren, Reich wendet sich der Biologie zu. [...] Er tauscht die Biologie für den Marxismus, der für ihn ohnedies bloß ‚naturwissenschaftliche Anschauung der Natur und Gesellschaft‘ beinhaltet. Dieser Wandel findet Ausdruck in Therapie und Forschung. Reich wechselt von der Widerstandsanalyse, der Aufdeckung der charakterlichen Abwehrhaltung, zur Vegotherapie über. [...] ‚Die Vegotherapie könnte mit gutem Recht Charakteranalyse im Bereich des biophysischen Funktionierens genannt werden.‘ [...] Später verläßt Reich auch den Terminus Vegotherapie und ersetzt ihn durch den Ausdruck ‚Orgontherapie‘.
Dieser meint, obwohl er sich im Technischen kaum unterscheidet, die ‚Mobilisierung der plasmatischen Strömungen‘.“ (Wilhelm Burian: Sexualität, Natur, Gesellschaft. Eine psycho-politische Biographie Wilhelm Reichs. Freiburg: ça ira 1985. S. 126f.)

[4Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft.
[1955] Frankfurt am Main 1967. S. 235

[5Stefan Breuer: Aspekte totaler Vergesellschaftung. Freiburg: ça ira 1985. S. 104

[6Jessica Benjamin: Die Antinomien des patriarchalischen Denkens. In: Kritische Theorie und Psychoanalyse. In: Wolfgang Bonß, Axel Honneth (Hg.): Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der kritischen Theorie. Frankfurt am Main 1994. S. 427

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