Grundrisse, Nummer 27
September
2008

„Was wir brauchen, ist eine Landwirtschaft mit hoher Diversität und geringem Karbonat-Input“

Ein Gespräch mit Patrick Mulvany über Hungerrevolten, Ernährungssouveränität und die Rolle der Wissenschaft
Angesichts der weltweiten Lebensmittelkrise und der zahlreichen Hungerrevolten in Ländern des Südens ist es durchaus legitim zu sagen, dass wir uns in einer dramatischen, und gleichsam in einer historisch wichtigen und einzigartigen Situation befinden.

Warum ist das so und was passiert eigentlich gerade global rund um das Thema Nahrung?

Wir können beobachten, dass sich unglaubliche Krisen im Bereich Lebensmittel, Energieversorgung und Klima zusammengebraut haben, alles nahezu zur selben Zeit. Nie zuvor hat es so etwas gegeben. Klar, 1974 gab es eine große Energiekrise, die Preise sind nach dem Jom Kippur Krieg enorm gestiegen. Dazu kamen Ernteausfälle in der Ukraine und in den USA. All das verursachte damals große Probleme – die Bedrohung durch den Klimawandel war damals allerdings unbekannt und die Leute waren sich dieser Gefahr nicht bewusst. Wenn sich also nun all diese Krisen zusammenbrauen, könnte man sagen, dass niemand den Tsunami bemerkt, der sich dahinter verbirgt: Ich spreche von den Technologien, die als Lösung präsentiert werden und nun mit Gewalt zur Anwendung kommen sollen.

Es gibt wenig Zweifel darüber, dass die Krise im Juli 2007 begann, als große Banken aufhörten, einander Kredite zu vergeben. Diese Finanzkrise, ausgelöst durch die Immobilienkrise in den USA, breitete sich im gesamten globalen Finanzsystem aus und zwang große Summen an Geld in spekulative Geschäfte mit anderen Waren – meist Grunderzeugnisse oder Rohstoffe. Es gab also u.a. einen enormen Anstieg an Termingeschäften mit Lebensmitteln. Wenn ich mich richtig erinnere, überstieg zu einem gewissen Zeitpunkt der Krise die Menge an Lebensmitteln, die gehandelt wurde, die Menge an weltweit tatsächlich existierenden Lebensmitteln um das 30-fache! Das war also pure Spekulation und so wurde der Preis in die Höhe getrieben. Ein Ergebnis dieser Entwicklung war, dass eine Menge existierender Lebensmittel gehortet und somit zurückgehalten wurde – sogar Reis, eine Ware, die international nicht in demselben Maßstab gehandelt wird wie beispielsweise Mais, wurde in großen Mengen dem Markt vorenthalten. Eine Hortung dieser Waren für einige Wochen konnte den Preis bereits verdoppelt. Das wiederum führte zu einer Verknappung der Lebensmittel bei vielen lokalen Märkten und Anbietern. Ein interessantes Ergebnis dieser Knappheit an Reis war, dass gewisse Regierungen dazu übergingen, nationale Reserven anzulegen. Ich erinnere mich an ein Interview, das der Landwirtschaftsminister der Philippinen gab: Er sagte, dass es notwendig wäre, im eigenen Land und am internationalen Markt Reis einzukaufen, um die philippinischen Reserven aufzufüllen. Natürlich trieben diese Maßnahmen die Nachfrage und somit den Preis auch gewaltig in die Höhe. Wir sehen also, es gab eine Menge von Maßnahmen und Entwicklungen – teils spekulativ und teils opportunistisch, wie das Horten von Lebensmitteln – aber auch das Auffüllen von Reserven einzelner Länder, die zu dieser Situation führten.

Gleichzeitig ist diese Situation nicht vergleichbar mit einem unvorhersehbaren Erdrutsch: Viele von uns haben seit Jahren gesagt, dass das Schwinden der Getreidereserven als Konsequenz der Politik der WTO zu einem Desaster führen würde. Und das hat sich auch bewahrheitet. Nun haben die Regierungen und die internationalen Institutionen keinerlei Handhabe, um die Bedrohung durch Spekulation abzuwenden.

Hat nicht auch der enorme Boom von Agro- Treibstoffen wesentlich zu den Preissteigerungen beigetragen? Sogar ein Bericht der Weltbank, aus dem letztens im „Guardian“ zitiert wurde, besagt, dass die Nachfragesteigerung in diesem Sektor mehr als bisher angenommen die Lebensmittelkrise verursacht hat.

Selbstverständlich. Der Weltbank- Report gibt an, dass 100 Millionen Menschen direkt von den Preissteigerungen betroffen sind, die durch die Nachfrage an Agro- Treibstoffen verursacht wurden. Erst vor 9 Monaten hat Jean Ziegler, der ehemalige Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Ernährung, genau auf diese Gefahr hingewiesen. Es ist aber wichtig, zu betonen, dass es das Ensemble dieser Ereignisse war, das die Wucht der Krise bedingt: Die Krise kann nicht durch Agro- Fuels per se erklärt werden, genauso wenig wie sie allein durch die Ernteausfälle in Australien, den Hurrican in Burma oder den Anstieg des Fleischkonsums in Indien und China erklärt werden kann. All diese Dinge sind natürlich zutreffend. Ich persönlich bin der Auffassung, dass der Hauptauslöser die Spekulationsgeschäfte waren.

In einer ganzen Reihe von Ländern im globalen Süden ist es aufgrund der Lebensmittelkrise zu Hungerrevolten gekommen. Wie schätzen sie diese Revolten ein? Gibt es eine Chance, dass sich dabei emanzipatorische Entwicklungen abzeichnen?

Meiner Information nach gab es in ca. 30 Ländern Aufstände, Revolten oder Kämpfe, die unmittelbar damit zu tun hatten, dass die Leute hungrig sind. Diese Unruhen können auch eskalieren und Regierungen gefährden oder zu Fall bringen, wie das Beispiel Haiti zeigt. Es ist kein Geheimnis, dass dieses Thema beim G8- Gipfel in Hokaido ganz oben auf der Agenda stand. Ich denke, diese acht Staaten sind extrem besorgt über die Möglichkeit, dass sich diese Aufstände ausbreiten und somit das gesamte politische System gefährden könnten. Oder, was gleichbedeutend wäre: dass sie das Projekt der ökonomischen Globalisierung ins Wanken bringen. Diese global Players suchen also nun nach Strategien, um die Ausweitung dieser Revolten zu verhindern. Ich bin überzeugt, dass das Geld, das für diesen Zweck von den G8- Staaten und der Weltbank zur Verfügung gestellt wird, dazu dienen soll, den Ruf nach einer grundlegenden Änderung des politischen und ökonomischen Systems zu unterdrücken. Es ist eine Maßnahme, um die Macht dort zu halten, wo sie ist.

Dennoch, ich denke dass die Leute mit den Revolten zum Teil ihre Eigenmacht demonstrieren konnten – auch wenn diese Ereignisse nicht organisiert waren. Leider gibt es einstweilen keine Allianzen zwischen Bäuerinnen und Bauern und KonsumentInnen – die Motivation für die Aufstände war klarer Weise Verzweiflung und Not. Die Krise hat allerdings dazu geführt, dass die Leute in einer Art über Landwirtschaft reden, wie das früher nicht der Fall war.

Viele von uns wiederholen schon seit Jahrzehnten, dass die Probleme in das System eingebaut sind. Nun sollten wir die Gelegenheit nutzen und über Ernährung und Landwirtschaft im Kontext von Klimawandel und den hohen Energiekosten reden, um so die Öffentlichkeit wachzurütteln. Es ist an der Zeit, dass die Regierungen zugeben, dass sie schuld sind an der aktuellen Krise. Wir leben in einer Welt, die vom Agro- Business dominiert wird, in der fortlaufend Lebensmittel zu Waren gemacht werden und in der natürliche Ressourcen systematisch schneller verbraucht werden, als sie sich regenerieren können. Ernährungssouveränität sowie der Zugang zu Produktionsmitteln für lokale Bevölkerungen wurden im Interesse der multinationalen Unternehmen gezielt unterminiert. All das ist kein Unfall, es ist keine Naturkatastrophe und es handelt sich nicht um einen Meteoroiden, der den Planeten von außen trifft – nein, all das ist von Menschen gemacht. Es wurde ein Regelwerk geschaffen, das es den Multis erlaubt, immer mehr zu wachsen – also können wir auch ein Regelwerk schaffen, um das zu stoppen. Dafür müssen wir – und darin besteht die große Herausforderung – gemeinsam darüber nachdenken, wie aus dieser Krise nun langfristige Lösungen gefunden werden können.

Oft wird behauptet, dass die KritikerInnen der industrialisierten Landwirtschaft das Rad der Zeit zurückdrehen wollen und dass sie neue wissenschaftliche Erkenntnisse pauschal ablehnen. Welche Rolle messen Sie Technik und Wissenschaft bei der Kritik des Agrobusiness und für die Entwicklung von Alternativen bei?

Um von vorne anzufangen: Es ist zunächst sehr wichtig, zu verstehen, was Wissenschaft überhaupt ist, und weiters, was als Technik und Fachwissen definiert wird. Wir dürfen den Begriff Wissenschaft nicht gänzlich vereinnahmen lassen von der High- Tech- Wissenschaft, die Mobiltelefone oder Chipkarten herstellt.

Wissenschaft ist die Anwendung von fachlichem Wissen und kann somit von jedem Menschen zum Einsatz gebracht werden. Das Wissen der indigenen bäuerlichen Bevölkerungen beispielsweise ist in seinem Kontext äußerst hoch entwickelt.

Wissenschaft und Technologie subsumiert also auch das Wissen und die Fähigkeit, Nahrung zu produzieren und zu verstehen, wie komplexe ökologische Systeme funktionieren. Es kann sich also um das Anbauen von Früchten handeln, um Viehzucht, um Wasserversorgung, den Bau von Häusern usw. Es gibt also alle möglichen Arten von Technologien, die nachhaltig sind und eine nachhaltige Versorgung von communities gewährleisten. Das Wissen, das also von einer indigenen Bäuerin stammt, die Kartoffeln anbaut und Samen selektiert, ist also genauso stichhaltig wie das Wissen von jemandem, der in einem Labor arbeitet und irgendwelche neuen Chemikalien erfindet.

Um mich klar auszudrücken: Die Herausforderung besteht darin, die Produktivität pro Flächeneinheit auf nachhaltige Weise zu erhöhen. Denn verfügbares Ackerland ist in Relation zur Gesamtfläche der Erde sehr begrenzt; und es schwindet weiter: durch Erosion, Versalzung, Versiegelung und Verstädterung. Angesichts steigender Bevölkerungszahlen müssen wir also tatsächlich versuchen, die landwirtschaftliche Produktivität zu erhöhen.

Zweifelsohne sind massive Produktivitätssteigrungen durch den Einsatz von Agro-Cemie erreicht worden – nun, in der Situation der Lebensmittelkrise versuchen all die Konzerne, die aus dieser misslichen Lage Profit schlagen wollen, zu propagieren, dass „more of the same“ getan werden soll – sprich mehr Chemie, mehr Düngemittel, mehr Pestizide, mehr Herbizide, Insektizide usw. Dieses Konzept propagiert eine Landwirtschaft, die immer weniger divers ist, immer weniger Sorten nutzt und immer abhängiger von Carbonat- Input ist. Dazu werden immer mehr Samen gentechnologisch verändert, damit sie unter solchen Umständen überhaupt wachsen. Nun: das wird in den meisten Fällen auf die kurze Sicht tatsächlich die Produktivität pro Flächeneinheit erhöhen – der Preis dafür ist allerdings hoch. Außerdem: Auf lange Sicht wird die Produktivität nicht so hoch sein wie bei der Anwendung von diversifizierten, nachhaltigen Agrarsystemen.

Die politische Alternative ist also, genau in die andere Richtung zu gehen. Sprich: Eine diversifizierte Landwirtschaft mit geringerem Carbonat- Input und kleineren Flächeneinheiten. Die wissenschaftliche Herausforderung wird nun darin bestehen, Wege zu finden, wie wir von einer Landwirtschaft mit hohem Input und geringer Diversität zu einer Landwirtschaft mit geringem Input und hoher Diversität kommen ohne einen dramatischen Rückgang in der Produktivität zu riskieren. Dazu braucht es nicht nur Wissen über Biologie und Produktionssysteme, sondern auch Wissen über soziale und politische Dynamiken.

Was die Wissenschaft anbelangt, ist es völlig falsch zu sagen, dass diejenigen, die zum Thema Ernährungssouveränität und produktiveren Agrarsystemen arbeiten, NachzüglerInnen sind, dass wir gegen wissenschaftlichen Fortschritt sind und so weiter. Das ist absoluter Unsinn. Natürlich sind wir der Meinung, dass die Wissenschaft, die wir brauchen, eine ganz andere ist und dass die Kontrolle dieser Wissenschaft anders sein muss. Es gibt ja einige sehr interessante Debatten in Bezug auf die Demokratisierung von Wissenschaft, die Funktion von Entscheidungsprozessen, die Frage, was investiert wird, wer mitbestimmt, wer davon profitiert und so weiter. Eine Frage, die sehr wichtig geworden ist, ist die, in welchem Ausmaß Lehrende, ForscherInnen und Universitäten effektiv davor geschützt werden können, dass Universitäten Gelder von der Privatwirtschaft annehmen müssen. Welche Möglichkeiten gibt es, sich dagegen zu wehren und diese Gelder abzulehnen oder, wenn sie denn gezahlt werden, sie wenigstens selbst kontrollieren zu können. Es handelt sich also um eine Menge komplexer Angelegenheiten; die Art von Wissenschaft, die für die Gesellschaft sinnvoll ist, ist bei weitem nicht die gleiche, die der Privatwirtschaft dient. Und die, die uns rückschrittlich nennen, sind meistens VertreterInnen der Privatwirtschaft. Es ist wirklich erbärmlich mitanzusehen, wie sich dieses Denken innerhalb der NGO-Landschaft ausweitet, und generell bei allen, die von diesen Finanzierungen abhängig sind.

Was wir brauchen, sind fundierte Wissenschaften, in dem Sinn, dass diese Wissenschaften ein Verständnis von biologischen, biochemischen, physikalischen, ökologischen, sozialen und politischen Systemen haben.

Was hat es mit dem Konzept der Ernährungssouveränität auf sich und in welchem Stadium befindet sich die Debatte?

Zuallererst würde ich behaupten, dass Ernährungssouveränität kein Konzept mehr ist. Im Englischen zumindest bedeutet Konzept etwas Vages, wie etwa eine Idee, nach dem Motto: „Es könnte sein, es könnte aber auch nicht sein.“ Das Thema ist jetzt seit 15 Jahren aktuell und hat sich von einem rein konzeptuellen Stadium zu etwas sehr Realistischem gemaustert, etwas mit vielen Gedanken dahinter und mit politischer Bedeutung. Ernährungssouveränität wird heute von sehr vielen sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt, und sogar von einigen Regierungen (Bolivien, Mali und Nepal zum Beispiel). Also ist Ernährungssouveränität wirklich über einen konzeptuellen Zustand hinaus; sie ist zu einer Art Rahmen für politische Prozesse geworden. Wir können uns nun die Entwicklung ansehen, von dem Zeitpunkt, als Ernährungssouveränität in den 90er Jahren erstmals benannt, dann am Welternährungskongress 2001 von Via Campesina in der „Havanna Declaration“ zum erstem Mal festgeschrieben, und später 2002 in Rom und 2007 in Nyeleni, dem Forum für Ernährungssouveränität, weiterentwickelt wurde. Das Thema hat im Laufe der Zeit viele AkteurInnen sozialer Bewegungen ergriffen – so wurde ein Verständnis über Inhalt und Wichtigkeit, wie auch ein konzeptionelles Verständnis von Ernährungssouveränität entwickelt.

2002 gab es einen sehr wichtigen Moment, als das leitende Komitee des Forums für Ernährungssouveränität 155 gestellte Anträgen bearbeiten musste. Eine Teilnehmerin sagte, wir können diese 155 Anträge auf vier herunterbrechen: 1. Das Recht auf Nahrung, 2. Handel und lokale Märkte, 3. Zugang zu Ressourcen und 4. Agroökologische Produktion. Und diese vier Prinzipien sind wirklich eine gute Beschreibung dafür, worum es bei Ernährungssouveräinität geht.

Um im Klartext zu reden: Es geht bei Ernährungssouveränität nicht um Nationalstaaten. Es geht darum, dass Menschen, Gemeinden und Länder ihre eigenen Ernährungssysteme bestimmen können. Es geht um lokale Ernährungspolitiken. Und um eine wachsende Demokratisierung in lokalen Ernährungssystemen. Das kann auf allen möglichen Ebenen definiert werden: im Haushalt, in der Gemeinde, in der Region, im Land. In der Erklärung von Nyeleni ist es sehr genau aufgeschrieben: Ernährungssouveränität ist das Recht auf kulturell angemessene Nahrung, die mit ökologisch verantwortlichen und nachhaltigen Methoden hergestellt wird, sowie das Recht, das eigene Ernährungs- und Landwirtschaftssystem zu bestimmen. Die Reflexionen im Nyeleni-Forum drehten sich auch um Themen wie Konfliktlösung bei Konflikten über diesen Ressourcenzugang (zwischen ProduzentInnen, zum Beispiel HirtInnen und BäuerInnen usw.). Außerdem wurde das Thema Migration behandelt. Das war ein sehr interessantes Subthema im Forum von Nyeleni, und das kommt auch im Schlussreport vor.

Wie sieht es mit den Versuchen aus, Ernährungssouveränität auf verschiedenen Ebenen – lokal und politisch- konstitutionell – umzusetzen?

Die Wahrheit ist, dass das alles sehr aufgesplittert ist: Sogar in den Ländern, in denen Ernährungssouveränität in der Verfassung steht oder als Gesetz vorgeschlagen ist, was zum Beispiel in Nepal, Mali und Bolivien der Fall ist, sogar in diesen Ländern wird das Konzept nur teilweise umgesetzt. Die bolivianische Regierung ist von einer ganzen Reihe von despotisch regierten Ländern umgeben. Nun gibt es in der Provinz von Santa Cruz die Bestrebung, unabhängig zu werden, da sie nichts mit der nationalen Politik zu tun haben wollen: Die wollen genmanipuliertes Soja anbauen, weil es für eine kurze Zeit sehr schnelle Erträge bringt. Also gibt es große Konflikte in Bolivien.

Ernährungssouveränität ist also kein Konzept mehr, es ist definitiv ein Rahmen, ein politischer Vorschlag. Das Recht auf Nahrung ist in der Menschenrechtsdeklaration von 1945 festgelegt und doch sind wir erst in den letzten Jahren so weit damit gekommen: wir sind bei einem Set an freiwilligen Richtlinien. Diese sind nicht einmal soweit verbindlich, dass ein Staat das Recht auf Nahrung innerhalb seines eigenen Territoriums und seiner außerterritorialen Verpflichtungen umsetzten muss. Wir sehen also die Entwicklung von sechzig Jahren und müssen feststellen, dass es sich um sehr langsame Prozesse handelt.

Wirklich interessant ist, dass die Gier der Privatwirtschaft, die von Regierungen unterstützt wird, aufgedeckt wurde. Denn eine Menge Leute haben genügend Verständnis darüber gewonnen, was die Alternativen sein müssten: gutes Essen ohne Pestizide und GMO. Den Leuten ist das bewusst, es ist in den Medien und die Menschen beginnen sich irgendwo im Hinterkopf Sorgen zu machen. Es ist sehr aussagekräftig, dass innerhalb der Europäischen Union das Essen mit den wenigsten Rückständen die Babynahrung ist. Es wird ständig geprüft: keine Pestizide, keine Spuren – die Standards sind unglaublich hoch. Denn die Leute sagen, wir werden sicher nicht unsere Babies vergiften. Also wurde die Gier, mit der diese schnellen „Lösungen“ für die Krise präsentiert wurden, zum Teil enthüllt.

Und dennoch – es wird große Investitionen von einer agrarindustriellen Allianz für eine grüne Revolution in Afrika geben: mehr Chemie, mehr Dünger, mehr Pestizide, neues Saatgut. Sie müssen das allerdings in dem Wissen tun, dass es falsch ist, dass es keine langfristige Lösung ist. Sie müssen das in dem Wissen tun, dass sie in Wirklichkeit nur neue Marktzugänge schaffen wollen, dass sie das Projekt der ökonomischen Globalisierung bis an die letzten Grenzen bringen wollen, und die sind in Afrika - dem einzigen Ort der Welt, in den noch expandiert werden kann. Sie machen das ungeniert, und sie wissen, dass es falsch ist, und dass es andere Möglichkeiten gäbe.

Es ist höchst interessant, dass die internationale Studie über landwirtschaftliches Wissen, Wissenschaft und Technologien für Entwicklung, die im April von der UNO und der Weltbank veröffentlicht wurde, zu genau denselben Ergebnissen kommt! Die Studie besagt, dass wir mehr agro-ökologische Wissenschaft und Technologie und kleinere landwirtschaftliche Produktionseinheiten brauchen, sie hebt die zentrale Rolle der Frauen und die Notwendigkeit der politischen Veränderung in den großen Institutionen hervor. Alles Dinge, über die wir seit langer Zeit geredet haben. Und diese Ergebnisse sind, wenn’s um UN und Weltbank geht, ziemlich revolutionär. Nichts Neues für uns, nichts Neues für irgendeine soziale Bewegung, wir sagen das ja schon seit Jahren. Aber jetzt wurden diese Zusammenhänge von 400 WissenschafterInnen evaluiert, und die sind zum gleichen Ergebnis gekommen!

Bezeichnend war, dass die Ergebnisse der Studie beim Ernährungsgipfel, der zwei Monate nach deren Veröffentlichung stattfand und an dem 57 Regierungen teilnahmen, nur von einer einzigen Regierung erwähnt wurde, und das nur ganz kurz. Denn die Ergebnisse sind nicht angenehm. Sie sprechen nicht für die technologischen Spielzeuge, die die Privatwirtschaft sich hat patentieren lassen. Sie sprechen viel mehr für eine ganzheitliche und gemeinsame Position von Wissenschaft und Technologie. Eine, die Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften zusammenführt. Eine, die sich auch Technologien anschaut, die nicht mehr patentierbar sind: ökologische Landwirtschaft, Saatgutdiversität. Aus diesem Grund sind die Ergebnisse nicht angenehm – sie unterstützen nicht das Projekt der ökonomischen Globalisierung. Und aus dem gleichen Grund wurden sie nicht von den Regierungen publiziert, die sich für die Konferenz angemeldet hatten. Ein ziemlich interessantes Dokument, wert es zu lesen – 22 Hauptergebnisse und insgesamt 2000 Seiten. Es beinhaltet auch Biotechnologie und andere moderne Wissenschaften. Diese Dinge sind darin aber alles in allem sehr vorsichtig formuliert. Es wird gesagt: ja, es gibt ein paar Möglichkeiten darin, die mensch sich auch mal ansehen kann, aber wenn wir die Geschichte der gentechnologischen Manipulation bis heute betrachten, hat sie nichts dazu beigetragen, den Hunger zu vermindern. Und das Potential, dass es das in nächster Zukunft tun wird, ist nicht außerordentlich groß. Gut, vielleicht irgendwann in der Zukunft. Aber in der Zwischenzeit kennen wir ja die Dinge, die funktionieren, und das sind gute ökologische landwirtschaftliche Praktiken.

Danke für das Gespräch!

Das Interview fand während der Sommeruniversität der ungarischen NGO „Védegylet“ („Protect the Future“) statt.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Lisa Bolyos und Dieter A. Behr.

Patrick Mulvany arbeitet bei der UK food group und beschäftigt sich v.a. mit Biodiversitätspolitik im landwirtschaftlichen Bereich, genetischen Ressourcen und Ernährungssouveränität. Er ist außerdem im Beirat der „Intermediate Technology Development Group“ (http://www.itdg.org/).

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