Streifzüge, Heft 35
Oktober
2005

White Wild West

Bemerkungen zu Matthias Politycki und dem Rassismus und Sexismus der Neuen Mitte

Sie kann einem schon leid tun, die Neue Mitte. Jüngst gab es doch noch alles: die innovativen Kreativ-Jobs im Kultur- und Medienbereich oder anderswo, das nötige Accessoire an expressiven Konsumartikeln und schließlich die Event- und Kulturindustrie, mit deren Hilfe ganz individuell am Gesamtkunstwerk „Ich“ gearbeitet werden konnte. In diese Atmosphäre passte bestens das stets gut aufgelegte Politpersonal um den Medienkanzler Schröder, dessen spezielle Performance vollends die Umwandlung von Politik ins mediale Spektakel markierte. Doch die postmoderne Inszenierungsmaschine stottert zunehmend. Kein Wunder, denn nach dem Ende der Luftnummer an den Börsen tröpfelt der Geldhahn der Simulationsökonomie nur mehr und lässt die Nachfrageschöpfung aus dem Nichts versiegen. Das Selbstbewusstsein des Fußgängerzonenmenschen und Konsumsubjekts zeigt sich darob auch zunehmend verunsichert. Angesichts dieses ökonomischen wie sozialen Umbruchs liegt ein Wechsel auf der kulturell-symbolischen Ebene mehr oder weniger in der Luft. Es überrascht also wenig, wenn es nun auch für diese Entwicklung Querdenker gibt, die neue Perspektiven und Sinnhorizonte erschließen, kurz Ansätze haben. Matthias Politycki ist so einer, Essayist und Dichter. Schon vor einiger Zeit publizierte er ein Manifest für einen „relevanten Realismus“, mit dessen Hilfe die „leere Mitte der Gesellschaft“ zurückgewonnen werden sollte. Gegen den „kulturellen Kannibalismus“ der postmodernen Indifferenz gerichtet sollten die „ewig Linksliberalen“ endlich wieder Standpunkt beziehen, diesmal einen „wertkonservativen“, versteht sich. Dieses Plädoyer für eine neue „Relevanz“ wurde unlängst durch eine ausführlichere Positionsbestimmung in der „Zeit“ ergänzt und übersteigert. Hintergrund ist des Dichters jüngst publizierter Roman „Herr der Hörner“, in dem er seine Erfahrungen mit der lebensspendenden Kraft afrokubanischer Religionskulte verarbeitet hat. In dem Zeit-Essay diagnostiziert Politycki unter dem alles andere als ironisch gemeinten Titel „Weißer Mann – was nun? “ für das „alte Europa“ ein kulturelles, ökonomisches, religiöses, ja sogar physisches Untergangsszenario: „Wir in Europa sind drauf und dran, die letzten Reste unsres eignen Jahrtausenderbes zugunsten einer grassierenden Pseudoamerikanisierung willig preiszugeben“. Diese Bedrohungssituation, explizit verknüpft mit den USA, bringt Europa aber auch ins Hintertreffen gegenüber anderen, nichtwestlichen „Kulturen“. Der sich vollziehende kulturelle Niedergang droht auf die Ökonomie, ja sogar auf die Physis westlicher Männlichkeit überzugreifen. Ob „afrikanische Intensität“, „karibische Unmittelbarkeit“, „maghrebinische Potenz“ oder „asiatische Wirtschaftskraft“ – überall sieht sich der weiße Mann einer unheimlichen, spontanen und archaischen Virilität gegenüber, der er nichts entgegenzusetzen hat. Schuld daran trage die „Hilflosigkeit der Humanisten“ mit ihrer windelweichen Toleranz und ihren schal wirkenden Werten der westlichen Aufklärung. Sie zu überwinden bedarf es einer „neuen Verwurzelung“, eines „relevanten“ Standpunkts im „kathartischen Erschauern vor dem Jenseits“. Je aussichtloser die Situation, desto verrückter scheinbar die Gegenmittel.

Dabei sind Momente der Kritik Polityckis am postmodernen Life-Style sogar zutreffend: das Anything-Goes hat menschliches Handeln tatsächlich bis zur Unerträglichkeit nivelliert und das Event zur allgemeinen Erfahrungsform werden lassen. Vom Verzehr einer Leberwurst bis zum Fußballspiel, vom Parteitag bis zum Papst-Besuch – jederzeit und allerorten herrscht die fade Banalität und seichte Selbstreferentialität der Spaßkultur. Die vielzitierte Oberflächlichkeit steht indes keineswegs für sich. Tatsächlich hat die Postmoderne natürlich nie die negative Kohärenz, d. h. das einheitliche Prinzip von Wert, Arbeit und Geld überwunden, sondern ist nur dessen vollendetster Ausdruck. Hielt das postmoderne Bewusstsein in den neunziger Jahren die scheinbar bunte Vielfalt der Eventkultur noch für das Ganze menschlicher Wirklichkeit, so drängen spätestens mit dem Platzen der New-Economy-Blase grundlegende gesellschaftliche Bestimmungen wieder in den Vordergrund. Die Fetischform der kapitalistischen Gesellschaft wäre freilich keine, könnte sie nicht das Realkapital durch beliebig viel Verblendungskapital ersetzen. Polityckis „relevanter Realismus“ ist einerseits Reflex auf den lebensweltlichen Umbruch in Richtung zunehmende Prekarisierung auch der gesellschaftlichen Mitte und wirft zugleich ein Schlaglicht auf die grundsätzliche Beziehung zwischen Aufklärung, Gegenaufklärung und Postmoderne.

Der postmoderne Relativismus war von Anfang an von einer schwachen Kritik des traditionellen aufklärerischen Wertekanons begleitet. Schwach deswegen, weil das Einklagen einer wahren Ethik, einer richtigen Moral und v. a. der wirklichen Freiheit des Einzelnen nicht wahrhaben wollte, dass diese Ideale in der Postmoderne längst verwirklicht sind. Der „freie Wille“, das Herzstück des Aufklärungsdenkens, hat seine Vollendung in der Beliebigkeit der Postmoderne gefunden. Der Kaiser, d. h. das freie Willenssubjekt, ist nackt und das bloße Hinzuphantasieren von Werten macht die Kritik so illusionär, insuffizient und letztlich kraft- wie perspektivlos. Diese Schwäche des alten Aufklärungsstandpunkts ist nicht zuletzt ein Motiv für das Umschlagen in sein eigenes Gegenteil. Polityckis Positionsbestimmung dokumentiert diesen Prozess geradezu paradigmatisch. Mit nahezu allen aus der Gegenaufklärung bekannten Mustern des Sexismus, Rassismus und Sozialdarwinismus will er dem weißen männlichen Subjekt wieder Leben einhauchen. Das durch die Postmoderne erreichte Ende der Aufklärung führe zu einer allgemeinen und „epochalen Erschöpfung der gesamten Alten Welt“, die er ganz persönlich in seiner „weißen Haut(! ) zu spüren“ vermeint. Angesichts der Bedrohung der eigenen Waren-Existenz stammelt man sich mit klischeehaftester Phraseologie aus postmoderner Langeweile in das Gegeneinander kulturell grundsätzlich getrennter Zivilisationskreise. Huntington lässt grüßen.

Da ihm die grundlegenden Fetischformen der (Post-)Moderne ein Buch mit sieben Siegeln sind, verfällt Politycki selbst dem mystischen Denken. Die Mechanismen dieser Dialektik sind allzu bekannt: Auf die Ohnmacht folgt die Projektion. In der Konstruktion eines kulturell Anderen – je nach Bedarf ist es der sanftmütige, edle Wilde oder der kraftstrotzende und potente Barbar – wird versucht, die Versagensängste eigener Subjektivität an einem äußeren Gegenüber festzumachen und damit unter Kontrolle zu bringen. Diese Psychomechanik hat tiefe Wurzeln in der Geschichte der Moderne. Schon Montaigne verknüpfte im 16. Jahrhundert angesichts des europäischen Kolonisationsprozesses die als fremd erlebten eigenen sozialen Beziehungen mit der Projektion ihres vermeintlich vitalen Gegenteils. In diesem Spannungsverhältnis diente ihm die Figur des „Wilden“ als Projektionsfläche verdrängter Wünsche. Diese der „Natur“ verhafteten Wesen galten der westlichen Vernunft ehedem schon als diejenigen, die „die wahren, tauglicheren und ursprünglicheren Kräfte und Eigenschaften“ besitzen, die in „jenen lebendig und mächtig sind“ (Montaigne). An diesem Projektionsmechanismus hat sich bis heute wenig geändert: Das männliche Warensubjekt imaginiert sich angesichts der Krise seines Universums immer noch eine Welt des Ursprünglichen, Eigentlichen und Vitalen als neuen Kraftquell.

Auch der andere Aspekt der Projektion, d. h. der Affekt gegen einen vermeintlich Schuldigen, ist nicht gerade neu. Reflexhaft gerät unser Fürsprecher der Neuen Mitte in den Bannkreis rechter Zivilisationskritik des letzten Jahrhunderts: europäische Kultur versus amerikanische Zivilisation. Angesichts der existentiellen Situation gilt es, das an sich überlegene kulturelle Erbe Europas gegenüber dem von Amerika induzierten Verfall mit männlich-ursprünglicher Vitalität anzureichern und zu verstärken. Diese ursprüngliche Kraft soll in den der „Natur“ weitgehend verhafteten Kulturen noch präsent sein.

Doch auch wenn im sozial-ökonomischen Krisenprozess die Neue Mitte immer offener ihren latenten Rassismus, Sexismus und auch Antisemitismus artikuliert, eines bleibt historisch obsolet: Es wird keinen politischen Willensakt des Westens mehr geben, der mit der Mobilisierung eines gegenaufklärerischen „Eigentlichen“ noch einmal eine Renaissance der europäischen Nationalstaaten initiieren könnte. Eine derart formierende Souveränität gehört angesichts ökonomischer Globalisierung einer gerade zu Ende gehenden Epoche an. Die sich zersetzende Macht und Gewalt staatlicher Souveräne wird aber in den poststaatlichen Konflikten nicht minder destruktiv transformiert in eine substaatliche Zusammenfassung von entsicherter männlicher Subjektivität. Ein ideologisches Mosaiksteinchen in diesen Rahmen männlichen Selbstverständnisses gelegt zu haben, darauf kann sich Matthias Politycki tatsächlich etwas einbilden.

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