MOZ, Nummer 49
Februar
1990

Wien, Österreich, Nabel der Welt

Europa — das Wort geht wieder unter die Haut. Elektrisierend verbreitet es subkutane Schwingungen, stellt sich erst die Position der Mitte voran. Kein Politikerherz im östlichen Österreich bleibt ungerührt angesichts des gegenwärtigen Trends, Wien als Mittelpunkt Zentraleuropas zu verorten. Geographische Begriffe beginnen zu wanken. Was Osten war, muß nicht Osten bleiben. Österreichs Tageszeitungen, und nur diese, wähnen neue Nachbarn: Gesprächsrunden an viereckigen Tischen lassen den Osten Richtung China rücken.

Erst die Demokratie füllt weiße Flecken auf der Landkarte. Und die ÖVP ruft alle Demokraten zum „Runden Tisch Europa“ auf schwankendes Parkett. Der Donaudampfer „Mozart“ schaukelt sanft auf jenem Fluß, dessen Lauf Biotop der grenzenlosen Mitte werden soll. Noch liegt allerdings „Mozart“ in Wien vor Anker.

Wien, Mitteleuropas erste Adresse? Als Börsenperformer zumindest weltweit voran, gefolgt von Frankfurt (über den Rhein-Main-Donaukanal ebenfalls in Direktverbindung). Weit abgefallen die New Yorker Wall Street, Japan meldet sogar erdrutschartige Kursverluste.

Gerade zur rechten Zeit wird das Karnickel EXPO ’95 aus dem Zylinder gezogen, um der Stadterneuerung eine metropole Form zu geben. Die Architektengruppe Hollein/Coop Himmelblau schwärmt von einer „markanten Skyline entlang der Donau“ und einer „Akzentuierung“ der Lasallestraße in Kagran. Bekanntlich hat Hollein ja auch dem Wiener Stephansplatz zu einem zusätzlichen Charisma verholfen. Doch nicht nur die Infrastruktur zwischen den Veranstalterstädten Budapest und Wien (laut Werbeagentur „The Celebration of Creativ Spirit“) soll verbessert werden. Nein, ein ganzes Netz völker- und nationenintegrierender Maßnahmen wird gesponnen, Alt-Österreich wachgeküßt.

Zilk legte es Havel in den Mund: Bratislava an der Donau müsse an der EXPO teilnehmen, auch an Prag soll gedacht werden. Distanzen dieser Größenordnung lächerlich. Dabei darf auch das österreichische Graz nicht vergessen werden. Seine geographische Lage eigne sich hervorragend als Brückenkopf zu Südosteuropa (wann wird auch jenes zu „Mitteleuropa“ zählen?). Alles in allem, viel Erde wird bewegt werden, bis alle Wolkenkratzer stehen, alle Bahnlinien neu trassiert und untertunnelt sind, neue Autobahnen den Weg Richtung Mittelosten ebnen. Auch Gemüter werden ob der aufbrechenden Erinnerungen bewegt werden; auch das ist vorprogrammiert.

Dem ungarischen Kulturminister Ferenc Glatz wird in Anbetracht der gewaltigen geplanten Investitionen etwas unbehaglich zumute. Er hält viel von „Wieder-Europäisierung“, vom Vorzeigen alter Tradition und von Zukunftsentwürfen für die „ganz große Region“ — wenig von technologischer Protzerei.

Während sich Politiker und Wirtschaftsbosse schon auf das große Geschäft freuen, ist vom Buchmarkt eine Wiederauflage zu vermelden:

IM BLINDEN WINKEL, Nachrichten aus Mitteleuropa, wurde vom Fischer-Verlag in Taschenbuchformat vorgelegt. Herausgeber Christoph Ransmayr veröffentlichte die kleine Anthologie erstmals 1985 in der Edition Brandstätter. Doch erst jetzt ist der Boden bereitet, das ganz große Publikum ansprechbar. Ransmayrs Bestseller der „Letzten Welt“ ist den meisten noch geläufig. Vor seinem Ovidschen Exkurs richtete er sein Hauptaugenmerk auf sowohl geographisch als auch historisch Näherliegendes. Mitteleuropa, „vielstimmige Heimat, die Völkerfamilie, blühende Donauländer und das Erbe des Habsburgischen Untergangs.“ Grenzgänger Jan Tabor, u.a. auch „KURIER“-Redakteur, erinnert sich an die lebensgefährliche Staatsgrenze, die „ein Bündel von feinen und feinsten Alltagsgrenzen" nach sich zog, die ihn jahrelang zwischen Limesmanie und Limesphobie schwanken ließen. Ransmayr selbst sieht weise im nachhinein die dem Jahr 1918 folgenden Nationalitätenkonflikte voraus, Vivat und Hurra untergraben friedliches Miteinander. Karlsbad einst und jetzt, keine Porzellanhäferln mehr, um das heilende Quell zu schlürfen, stimmen den Osteuropakorrespondenten vom „Svendska Dagbladet“, Swartz, sentimental-nostalgisch.

Wie überhaupt die meisten der beschriebenen Reisen elegische Züge tragen. Kein Wunder, sind sie doch angetreten worden, um die Spuren des Völkergemischs von DAMALS aufzunehmen. In einem solchen Unterfangen darf natürlich der Triester Claudio Magris nicht fehlen, der sich schon dem Habsburgermythos und, voll im Trend, der Donau, Biographie eines Flusses, verschrieben hat. Zeilenführend wird Geschichtsunterricht abgehalten: Czernowitz als jüdische Stadt, die vor Hitler niemals ein Ghetto besaß, Erzählungen aus dem Banat und der Wojwodina und von der schwarzen Madonna von Czenstochau als heimlicher Königin von Polen.

Biographische Wiederbelebung erfährt der ‚Erfinder‘ der Judenvernichtungsmethode in den KZs, Rolf-Heinz Höppner, der sich unverfroren einem Interview stellte. Ein einziges Mal werden „Stimmen aus den Alpen“ laut — vergessen, daß auch diese Gegend zu Mitteleuropa zählt?

Der Zugang zu Mitteleuropa scheint unwandelbar: explosives Völkergemisch mit langer Tradition. Mitteleuropa ist kultureller Gedanke, nicht Wirtschaftsraum. Und wird gerade dann noch unerfüllbare Sehnsucht mit vergangenheitsverklärendem Filter sein, wenn Marktspezialisten den Krieg erklären, als friedliche Vereinheitlichung getarnt.

Mitteleuropa als Traum des ‚west-östlichen‘ Diwans Österreich?

Das politische Ex-Osteuropa zieht es vor, den Titel der Europäischen Gemeinschaft vollinhaltlich aufzufüllen: mit ihrem Eintritt.

Mag sein, daß Österreich auf zwei Hochzeiten tanzt, um dann zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Bis dahin und wahrscheinlich auch darüber hinaus wird Wien an der Donau liegen.

Erhellendes aus „Die Verbesserung von Mitteleuropa“, einem Roman, den Oswald Wiener 1969 veröffentlichte, der alle Sentimentalität herkömmlicher Natur hinter sich ließ:

die apodiktischen eruptionen visionärer staatenlenker waren zu allen zeiten platituden, welche die individuen um ihr geistiges und körperliches leben brachten. man weiss das heute. dennoch, die demokratie besteht aus scharen von leuten, die wissen, was gut sei für die menschheit: es ist unmöglich, den visionen der redakteure einhalt zu gebieten.

P.S. Ab dieser Nummer finden Sie im Kulturteil eine regelmäßige Rubrik „Philosophischer Diskurs“.

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