FORVM, No. 164-165
August
1967

Wirklichkeiten suchen eine Illusion

Rede im Wiener Burgtheater zum 100. Geburtstag Pirandellos

Dr. Friedrich Hacker, 1914 in Wien geboren, leitet in Los Angeles die von ihm gegründete „Hacker Clinic and Foundation“, eines der bekanntesten psychiatrischen Forschungsinstitute in den USA. In Wien las er 1958 als Gastprofessor der Universität über „Sozialpsychologie und Ichpsychologie“, lehrte später ein Semester hindurch am Wiener Institut für Höhere Studien (Ford Foundation) und war hier mehrfach als Vortragender mit starker Wirkung zu hören. Im Wiener Europa-Verlag erschien seine Studie „Versagt der Mensch oder die Gesellschaft? Probleme der modernen Kriminalpsychologie“. Den folgenden Text sprach Prof . Hacker im Wiener Burgtheater aus Anlaß der Feier zum 100. Geburtstag Pirandellos, Ende Juni dieses Jahres.

Pirandello eignet sich nicht zur Laudatio. Alles feierlich Gehobene forderte sein höhnisches Mißtrauen und seinen unverwechselbar bissigen Humor heraus, mit dem er hinter der Dekoration, dem tröstlichen Schmuck und der komfortablen Auswattierung regelmäßig die Fratze entdeckte, die groteske Maske, die Pose, die Selbsttäuschung, den faulen, falschen Zauber. Rigoros hatte er sich sogar jegliche Begräbniszeremonien verbeten.

Nicht der Pomp des Zelebrierens, allein der Nachvollzug und Mitvollzug seines einzigartigen Denkens und Fühlens sind der Gestalt, dem Phänomen, dem Mythos Pirandello angemessen. Dem großen Dichter der Selbstkritik, dem frustrierten Psychodramatiker der Selbstzerlegung und Selbstdurchleuchtung ist die moderne Seelenforschung, der Versuch der Heilung durch den Geist, kongenial verbunden. Auch die moderne Tiefenpsychologie hat als ihr Generalthema den kaleidoskopartigen Wechsel und die Verwechslung von bewußter Logik und unbewußter Narretei, von wahrem Traum und phantastischer Wirklichkeit, von täuschendem Sein der Oberfläche und schillerndem Schein der Tiefe. Daraus leitet ein Vertreter dieser Tiefenpsychologie die Legitimation ab, über Pirandellos Gedankenpoesie, seinen rückhaltlosen Entzauberungs- und Darstellungsstil in Leben und Werk, mitdenkend und einfühlend zusprechen. Denn in dieser Beziehung ist Pirandello nicht nur den eminent zeitgenössischen Österreichern Musil, Schnitzler und Kafka verwandt, sondern auch dem anderen großen Österreicher, Sigmund Freud.

In seinem mitleidlosen, dramatisch-kritischen Enthüllungs- und Demaskierungsritual folgt Pirandello der großen Tradition der Aufklärung: Ibsen, Strindberg und Luigi Chiarelli. Das grausam-radikale Abreißen der Maske enthüllt jedoch nicht, wie erhofft, das wahre Sein, sondern immer nur eine wiederum verhüllende, noch komplexere Maske. Pirandello ist einer der wirksamsten Darsteller des modernen Zeitgefühls; er ist der Sprecher des diskreditierten, gepeinigten, vielschichtigen Ichs an der Grenze seiner Möglichkeiten, der Dichter des Denkens gegen sich selbst. Damit wird er zum Wegbereiter des schöpferischen Ausdrucks der Absurdität, zum Vorläufer von Sartre, Camus und schließlich von Beckett, Jonesco und Pinter.

Der vereinzelte, entfremdete Mensch dürstet nach Mitteilung. Doch wird eben durch Mitteilung jeder Sinn entstellt und unwahr. Nichts mehr bleibt an seinem früheren Ort und steht sinnvoll ein für allemal fest. Puppenspieler und Puppe zugleich, vermeint das sich souverän wähnende Individuum zu wollen und zu handeln und wird doch nur zum Rollenspiel gezwungen. In Pirandellos groteskem Theater ist das absurde und das grausame Theater ebenso vorweggenommen wie teilweise sogar schon überholt.

Durchaus anti-gemütlich

Jedenfalls ist Pirandello durchaus anti-gemütlich und anti-erbaulich. Mit reißerischen Tricks und unerbittlicher Konsequenz erzwingt er radikales Mitdenken. Schon glaubt man wirklich zu verstehen, was gespielt wird, um plötzlich von einer grotesk-überraschenden und doch selbstverständlich-natürlichen Wendung schockiert zu werden. Auch noch das Verständnis ist „auf den flinken Füßchen der Selbsttäuschung‘‘ herbeigeeilt und ist, wie es gekommen war, bei seiner Konfrontation mit der Realität entschwunden. Je mehr man zu verstehen vermeint, desto weniger weiß man schließlich. Jeder Versuch, die scheinbaren Widersprüchlichkeiten auf eine einfache Lebensmoral zu reduzieren, endet in mehr Komplexität und größerer Verwirrung, jede Demaskierung ist auch schon wieder neue Mystifikation.

Bei Pirandello ist alles mindestens zwielichtig, doppelbödig, auf des Messers Schneide, zwischen Wahrheit und Effekt, zwischen Vernunft und Wahn, zwischen funkelnder Farce und unausweichlicher Verzweiflung. Seine Stücke und späten Novellen sind eine immer wieder anders beleuchtete, von immer anderen Blickwinkeln gesehene, eigentümliche Mischung von strengster Linienführung und sprühenden Gags; ein phantastischer Hokuspokus von Selbsttäuschung und Frotzelei, ein unfaßbares Helldunkel von Wirklichkeit und Wahn, Realismus und Absurdität, von einfallsreichen Hanswurstiaden und todernstem Mysterienspiel.

Klang und Echo ertönen gleichzeitig, Erlebnis und Reflexion verschwimmen ineinander; Bild und Spiegelbild sind in einem, Traum und Traumdeutung sind miteinander verstrickt. Einsicht und Totalzweifel werden zusammen ausgesprochen und ergeben die bestürzende Dissonanz des wirklich Wirklichen zwischen echtem Wahn und gespielter Selbsttäuschung.

Kasperl in eigener Regie

Darin sieht Pirandello die mythische Erzrolle des Menschen, sich selbst nicht kennen zu können und ständig täuschen zu müssen, wobei auch noch der Entlarvung die Täuschungsgewißheit innewohnt. In der Wirklichkeit ist keine Wahrheit, doch selbst die freie Phantasie gaukelt sich schließlich nur den unfreien, falschen Zauber der träumenden Unwahrheit vor. Wir alle sind tragische Marionetten im teilweise selbstarrangierten Vexierspiel der Wirklichkeitssuche; Kasperl in eigener Regie.

Schon ganz früh weiß und erlebt Pirandello, daß im Seelenleben Maskenzwang herrscht:

Am 28. Juni 1867 im sizilianischen Agrigent geboren, entstammt er einem gutbürgerlichen, wohlhabenden Haus. Doch um sich spürt er den Druck hoffnungsloser Armut und starren Brauchtums, unter dem sein stagnierendes und ausgepowertes Heimatstädtchen stoisch leidet. In der brütenden Hitze seiner äußerlich still dahindämmernden Heimat sind unvermutete Gewaltakte an der Tagesordnung; doch erschüttern diese Ausbrüche keineswegs die festgefügte Ordnung, sie scheinen sie nur zu bestätigen.

Scheinheiliges Sizilen

Seit eh und je fühlt er auch die Diskrepanz der Scheinheiligkeit zwischen vorgegebener und tatsächlicher Wirklichkeit seiner Umgebung: Der Vater, ein reicher Schwefelminenbesitzer, kraftstrotzend, gewalttätig und geizig, beherrscht seine Familie autoritär. Die matte und kränkliche Mutter kann den aufgeweckten Luigi vor den Zornesausbrüchen des Vaters niemals beschützen. Die Familie ist fromm und geht gehorsam zur Kirche; aber der Vater feuert häufig auf die Kirchenglocken, wenn ihr Geläute seinen Nachmittagsschlaf stört. Die Segnungen eines tugendreichen Familienlebens werden gepriesen und nach außenhin zur Schau gestellt, aber der Dreizehnjährige ertappt den Vater bei ehelicher Untreue mit einer Anverwandten. Luigi hat es kaum erwarten können, dieser Atmosphäre zu entfliehen und zum Studium nach Rom und Bonn geschickt zu werden.

In den Jahren der Pubertät und des frühen Mannesalters wechseln Perioden rebellischen Protestes gegen Vater und Vaterfiguren mit Episoden tiefster Verzweiflung, begleitet von Selbstmordgedanken und Todesahnungen. Nach schwersten inneren Kämpfen scheint Pirandello zur Resignation bereit: Mit idyllisch sein wollenden sizilianischen Volksgeschichten und Komödien bemüht er sich, die schrillen Dissonanzen einer mißlungenen, weil menschlich verstümmelnden Tradition durch konformistische Begleitmusik zu übertönen; bunt übermalt er die Schuld der Wahrheit und die Wahrheit der Schuld. Seine frühe literarische Produktion dient der Kaschierung seiner Konflikte, der Betäubung seiner Hellhörigkeit, der krampfhaften Vertuschung und Verdrängung.

Resignierender Konformismus auch im privaten Bereich: Er heiratet nach althergebrachtem sizilianischem Brauch ein ihm von den beiderseitigen Eltern ausgewähltes Mädchen, das er vor der Heirat gar nicht gekannt hat. Seine Frau schenkt ihm drei Kinder. Nach der Geburt des letzten bricht ihr latentes Mißtrauen in klinisch akuten, unheilbaren Verfolgungswahn aus. Gegen jeden ärztlichen Rat harrt Pirandello sechzehn Jahre lang bei der Geisteskranken aus, die ihn stündlich mit heftigen Vorwürfen und wahnhaften Eifersuchtsideen peinigt. Um sie zu besänftigen, bricht er mit all seinen Freunden, gibt seine literarische Karriere zugunsten einer gehaßten Lehrtätigkeit auf und widmet sich nur mehr der Pflege seiner Frau, die schließlich 1918 doch in einer Heilanstalt interniert werden muß, wo sie erst vierzig Jahre später stirbt.

Im eigenen Irrenhaus

Seine Aufopferung, die Selbstinternierung im eigenen, um seine Frau herum errichteten Irrenhaus, die Preisgabe seines produktiven Lebens und Schaffens über mehr als eineinhalb Dekaden sind vergeblich gewesen. Kein Wunder, daß er den Psychiatern zürnt, die keine Wunder vollbringen können und sich dessen auch noch brüsten. Ob sich die Unfähigkeit zu helfen nun magisch oder wissenschaftlich gibt, sie bleibt Ohnmacht, da sie weder zwischen Wahn und Vernunft zu unterscheiden, noch den Wahn mit der Vernunft zu bezwingen vermag. Auch der Psychiater und gerade er wird deshalb für Pirandello zur grotesken, komischen Figur, die mit hochtrabendem Vokabular die ausweglose Hoffnungslosigkeit und Zersplitterung des Menschen zu bereden aber nicht zu heilen vermag.

Erst nach dem Ausbrechen aus dem selbstgezimmerten Gefängnis findet Pirandello die Kraft und den Mut zum schöpferischen Aufschrei. Die Sünden seines Vaters, von seiner Mutter duldend verheimlicht, sind an ihm durch die unbegründete Eifersucht seiner Frau gerächt worden. Unter Betäubung seiner kritischen Vernunft hat er des Vaters tatsächliche und seine eigene Gedankenschuld durch die Teilnahme an der Wahnwelt seiner Gattin zu entsühnen versucht. Seine Frau ist nicht gesundet, sein Opfer ist fruchtlos geblieben. Er selbst entdeckt nun in der Opfergeste, der er sein Leben bislang geweiht hat, die Effekthascherei, die Unehrlichkeit, die Maske. Endlich befreit, streift er auch die Fesseln der Konvention ab. Er findet zur charakteristischen Form seines Protestes, zu seinem eigenen Stil, zu sich selbst. Der Sphäre des Wahns glücklich entronnen, wird er nun unglücklich im Totalzweifel seiner kritischen Vernunft und in der unerträglichen Lebensangst seiner nunmehr von Sklavenketten befreiten Phantasie.

Denn wieviel Wahrheit und Freiheit kann der Mensch ertragen? Wievielem muß man ausweichen, wieviel muß man in sich abtöten, verdrängen, betäuben und gewaltsam zum Schweigen bringen, um überleben zu können? Wieviel Erkenntnis darf man sich zumuten, wenn man einmal erkannt hat, daß man nicht gleichzeitig handeln und durchschauen kann?

Noch einmal zwingt sich Pirandello mit der ganzen Leidenschaft seiner Nüchternheit zum gewaltigen Sprung des Glaubens, zum sacrificium intellectus, zum Verrat des Geistes an das Leben: Der nun prominente Dramatiker und Theaterdirektor wirft sich mit seiner ganzen Begeisterungsfähigkeit dem in Italien eben zur Macht gekommenen Faschismus in die Arme. Von den kollektiven Erneuerungsmythen kraftprotziger Solidarität erwartet er sich die Heilung, die Durchstoßung der unsichtbaren Wand, die sein unerbittlicher Intellekt um ihn aufrichtet, ihn zur Einzelhaft im Gefängnis des eigenen Selbst verdammend. Seine Stücke nennt er nun weder Komödien noch Tragödien, wiewohl sie regelmäßig beides sind, sondern ‚‚miti‘‘, Mythen, Heilungsmythen: Verzweifelte Versuche zur Wiederfindung und Wiederherstellung der verlorenen Einheit des Ganzen, Parabeln des Wunschdenkens und der verzweifelten Sehnsucht, Illusionen.

Vom Mythos zur Parodie

Und dennoch: Obwohl oder vielleicht weil er der verwöhnte offizielle Dramatiker und Günstling des Regimes wird, hält er es in der kollektiven Wahnwelt viel weniger lang aus als vordem in der privaten. Bald wird der Mythenglaube zur Parodie der Legende, die Suche nach dem Sinn wird zum Symbol der Sinnlosigkeit, der enträtselte und durchschaute Mythos stößt ihn tiefer in seine Entfremdung und unmitteilbare Vereinsamung zurück. Ruhelos und gequält, mit sich selbst zerworfen, wandert er von einem Land zum andern, überquert Kontinente, ein freiwillig-unfreiwilliger Emigrant, mit nagendem Mißtrauen gegen seinen eigenen Weltruhm, gegen den Nobelpreis, gegen die Modeströmung seiner Nachahmer, den „Pirandellismus“.

In unzähligen Kavalkaden und Maskeraden läßt er jetzt seine Menschen, buntvermummte Hampelmänner ihres Wahns, nach der eigenen Wahrheit suchen und immer wieder nur die Rolle und damit schließlich die Enttäuschung finden. Der bei aller Verschiedenheit geistesverwandte, ebenfalls im Grunde verkannte und doch vielfach nachgeahmte Freud hatte am klinischen Material des kranken Menschen und der gefährdeten Menschheit das Ende einer Ilusion aufgezeigt. Mit dem Dynamit tiefschürfender, wissenschaftlicher Analyse hatte er einen Zugang zur unerforschten Tiefe des Menschen aufgesprengt. In diesem neuentdeckten inneren Raum ist Pirandello nicht beheimatet; vielmehr ist er in ihm eingeschlossen, exiliert. Denn Pirandello entdeckt das Ende jeder Illusion, auch noch der letzten, der Gewißheit des Subjektes als autonomes Wesen.

Wie Freud weiß auch er um die Zersplitterung und Zertrümmerung der sogenannten und soerlebten Person, die entsprechend der Konvention und Illusion alle Widersprüchlichkeiten einen und vereinen sollte. Doch auf der Suche nach dieser Vereinheitlichung bricht der Mensch in seine uneinheitlichen Teile auseinander. Soferne er wahrhaftig ganz und nur er selbst sein will, gibt es ihn gar nicht. Er verflüchtigt sich in seiner bunten Erscheinung, in den Zerrbildern seiner Rollen, Masken und Selbsttäuschungen. Der Mensch ist allein und ewig isoliert. Seine Ausbruchsversuche zum andern hin enden im lächerlichen Scheitern oder im Wahn. Er lebt entweder in unwirklicher Illusion oder er kann nicht weiterleben.

Der Mensch ist unheilbar

Freud glaubte noch, auf der Grundlage einer zumindest vorläufigen quantitativen Unterscheidung zwischen Verrücktheit und Gesundheit die dunklen Kräfte des Unbewußten durch bewußte Reflexion zähmen und eindämmen zu können. Freud war Therapeut und glaubte an die Heilung durch das kritische Bewußtsein, durch die Bewußtmachung des Unbewußten, an die Gesundung durch den Geist. Pirandello entlarvt auch noch diesen Glauben als Illusion. Für ihn ist der Mensch unheilbar, weil er glaubt, sich heilen zu können.

Pirandello ist der tragischeste Provokateur der Weltliteratur. Frühes Leid, aus schuldlos erlittener Schmach und schuldhaft verkrampfter Resignation, wandelt sich in spätere, künstlerisch gebändigte und niemals gänzlich bewältigte Wut gegen eine ungerechte, blinde Welt und vor allem gegen das ohnmächtige Ich. Pirandellos Dramen sind auch ungewollt-gewollte, raffiniert gezimmerte Provokationen, großangelegte Revancheakte gegen eine genußsüchtige Welt und ein sich selbst betäubendes und verdummendes Publikum, das möglichst bewußtlos leben will; doch ist er selbst Arrangeur und Publikum zugleich.

Die Kunst erlöst nicht

Er ist auch das Symbol der immer wieder versuchten, immer wieder gescheiterten Selbstheilung durch sein Werk. Personen und solche, die es werden wollen, suchen einen, suchen ihren Schöpfer, der ihnen Bedeutung, Leben und Ausdruck verleihen und sie miteinander und mit sich selbst versöhnen könnte. Sie finden immer nur sich selbst, in ihren alten, zudem noch schlecht gespielten Rollen. Alle festgefügten Erlebnissysteme kippen ins Gegenteil um; aus dem Blickwinkel des andern wird jedes eigene Erlebnis zum blassen Schema, zur lügenhaften Konstruktion.

In den ‚‚Riesen vom Berg“ soll die Kunst erlösen. Vielleicht kann der schöpferische Ausdruck rückhaltsloser Gestaltung vom Albdruck der eigenen Zerspaltung befreien? Doch die technokratischen Giganten der Tat hören nicht einmal zu, die Poesie wird tragisch-achtlos hingemordet und verdirbt in Vergessenheit.

Heinrich IV. kehrt gar nicht reuig, nur verzweifelt in seine Wahnwelt zurück. Alles bleibt zum Ende ebenso wund und offen, nur noch auswegloser als zu Beginn. Die Zuschauer haben zu entscheiden, falls sie diese Entscheidung für bedeutungsvoll halten, ob der gequälte und gepeinigte Antiheld dieses Stückes in der bewußten Fortführung seines Wahns vernünftig reagiert, ob er durch seine Vernunft in den Wahn zurückgetrieben wird, ob er seinen tragischen Ernst spielt oder das Narrenspiel plötzlich ernst wird, ob seine Gewalttat impulsiv oder kalkuliert ist, ob er schließlich zu seinem Schicksal gezwungen wird oder ob er sich auch über diesen Zwang noch spielerisch erhebt.

Niemand weiß genau, was tatsächlich ist; sicher ist allein, daß alles auch hätte anders kommen können und sollen. Die eingebildeten Wirklichkeiten bieten keinen Halt, unter der Vielschichtigkeit gibt es keine erste und letzte, entscheidende Schichte, hinter den äffenden Spiegelbildern ist kein Bild, unter den doppelten Böden kein Boden. Die festen Konturen verschwimmen; alles, was entschieden werden muß, bleibt in unentschiedener Schwebe, mehrfach gebrochen und hoffnungslos entstellt durch die Prismen der ewigen Hoffnung des Menschen.

Krankheitsgeschichte der Normalität

Mit seiner radikalen, alles zersetzenden, alles analysierenden Vernunft stößt Pirandello bis zu jener Grenze vor, an der die Vernunftmöglichkeiten in Irrsinn umschlagen. Ebenso radikal wie sein Erkenntnis- und Gestaltungsdrang ist sein Bekenntnis, sein Engagement zum Menschen; zu nichts anderem als nur zum nackten, illusionserzeugenden und letztlich illusionslosen, modernen Menschen. Pirandello photographiert nicht Menschenschicksale; er komponiert potentielle, lebendige Konfliktsituationen. Die klinische Studie und Krankheitsgeschichte ist ihm nur Stilmittel zur erbarmungslosen, kritischen Durchleuchtung der Condition humaine als solcher, zur Darstellung und Veränderung des durch äußeren Terror und innere Angst verstümmelten und entfremdeten Menschen, der weder durch possenhafte Verkleidungen noch durch geheimnisvolle Mysterien oder den Gedankenbetrug der Logik seine innere Not zu verbergen oder zu meistern vermag.

Ist es so? So ist es, aber — dies die Hoffnung der Hoffnungslosigkeit — es muß nicht so sein! Zwar verwirft und verschmäht Pirandello den feigen Ausweg des Mitleids zugunsten echten Mitleidens an der scheinbaren Ausweglosigkeit. Der moderne Mensch geht an sich selbst und an seiner Gesellschaft zugrunde, soferne er sich nicht durch seine Riten und Mythen, durch seine Erkenntnis entscheidend zu ändern vermag. Eben in der kompromißlosen Welt- und Selbstdarstellung und Selbstbespiegelung verbirgt sich, fern aller Sentimentalität, ein gar nicht pathetisches, hartes, männliches Element: die Zukunftserwartung für den Menschen.

Entlarvung der Entlarvung

Es war Pirandello nicht mehr gegeben, diese Hoffnung schöpferisch zu gestalten und lebendig werden zu lassen. Aber durch ihn wird die Schaubühne wiederum, wie nur in den ganz seltenen Sternstunden der Geschichte, zur geistig-moralischen Anstalt. Billig die Moral, daß es bei Pirandello keine Moral gäbe. Unüberhörbar ist in seinen Stücken der Aufforderungscharakter, die dramatisch gestaltete Pflicht zur eigenen Entscheidung: Radikale Enthüllung des Selbst und die Entlarvung auch noch dieser Demaskierung zwingt unvermeidlich zur nonkonformistischen Eigenbefragung, zur freien Willensentscheidung durch die Darstellung bisheriger menschlicher Unfreiheit.

Wirklichkeiten suchen eine Illusion, nämlich die Illusion der einen, einheitlichen Wirklichkeit, des einen, einheitlichen Menschen. Seit Freud und Pirandello gibt es sie nicht mehr, zumindest nicht für den wissenschaftlich Erkennenden und künstlerisch Schaffenden. Doch das Repertoire der menschlichen Möglichkeiten ist mit den bisher erprobten nicht erschöpft. Nach Pirandello und durch Pirandello mag es einen neuen, modernen, zukunftsfrohen Anfang geben, für ein Leben, in dem Bewußtsein und Glück, Erkenntnis und Trost, Phantasie und Wirklichkeit einander nicht mehr ausschließen.

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