MOZ, Nummer 58
Dezember
1990
Geschichte im Zick-Zack Kurs:

Wo sind die Intellektuellen?

Nach dem Zwischenspiel von 1968 haben Europas Intellektuelle spätestens nach den ‚Revolutionen‘ im Osten wieder ihren traditionellen Platz eingenommen — am Fuße des Throns.

Der Kapitalismus habe gesiegt, sagen sie, die Dichter und Denker, die Schreiber und Sänger, die Liberalen und die (ehemaligen) Linken, und beschwören nicht nur das „Ende der Ideologien“, sondern auch gleich in einem Aufwaschen das „Ende der Geschichte“. Der zusammengebrochene Sozialismus in Osteuropa beweise die Überlegenheit des westlichen Modells der ungehinderten Profitmaximierung. Die europäischen Intellektuellen haben, nach ihrem kurzen Zwischenspiel von 1968, wieder ihre traditionelle Rolle am Fuße des Throns eingenommen. Sie schweigen hartnäckig zum Zustand des Mekka des Kaptialismus, zur US-Wirtschaft, die angesichts ihres strukturellen Defizits, ihres Bildungsnotstands, der Massenarmut und des Verlustes der Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt zu einem anderen Schluß führen müßte. Und sie schweigen auch zu Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, die auf dem alten Kontinent inzwischen beklemmende Rekorde erzielt haben.

Europa ist mit Volldampf dabei, sich in eine Festung zu verwandeln (Gorbatschow nennt sie „das gemeinsame Haus“). Hatten die Berliner Mauer und die DDR-Staatsgrenze jahrzehntelang vor der Armut des Ostens geschützt, so muß jetzt, nach dem Fall der Berliner Mauer, eine neue gezogen werden. Wer die Oder/Neiße-Grenze in Richtung Westen überschreiten will, braucht entweder ein Visum oder ausreichend Geldscheine; in Berlin (Ost) wurde ein Zug voller armer Rumänen, die ein paar Glückseligkeit versprechende Güter des Westens käuflich erwerben und später in ihrer Heimat gewinnbringend verkaufen wollten, bei der Ankunft auf dem Bahnhof kurzerhand verriegelt und nach Rumänien zurückgeschickt. Es ging kein empörter Aufschrei durch die deutsche Öffentlichkeit, nur eine kleine Zeitungsmeldung berichtete über diese Episode — so, als hätte es niemals jene Züge gegeben, die Menschen in verschlossenen Waggons gen Osten transportierten.

Deutschland wird — nachdem die USA wegen ihres Wirtschafts-Desasters immer mehr an Macht und Einfluß auf dem internationalen Parkett verlieren — Weltmacht Nummer eins. Mit einer immensen Subventionskeule wird die bundesdeutsche Industrie auf ihre große Zukunft vorbereitet. Wer im Gebiet der ehemaligen DDR investiert, wird mit Wohltaten überschüttet. Bis zu 92 Prozent des Lohns für seine Beschäftigten zahlt das Arbeitsamt, wenn der Job an einen Arbeitslosen fällt (bisher lag die Höchstgrenze des sogenannten ABM-Programms bei 80%), dem Unternehmer wird eine Investitionszulage von mindestens 33% geschenkt werden, allein „Volkswagen“ erhält für seine ‚verlängerte Werkbank‘ in Zwickau eine Milliarde — „zunächst einmal“, heißt es vielversprechend aus Bonn. Und natürlich werden, wie seit vielen Jahren, Gelände, Strom und Wasser dem Investor praktisch gratis zur Verfügung gestellt, und schließlich trimmen Steuererleichterungen wie die Umsatzsteuerpräferenz, an der sich bereits die (West-)Berliner Zigarettenindustrie eine goldene Nase verdiente, das deutsche Kapital auf Weltranglistenführer.

Das ganze hat mit den vielgerühmten kapitalistischen Grundsätzen — wie etwa dem freien Spiel der Marktkräfte — nichts mehr gemein. Aber der Neoliberalismus wird ja über die internationalen Kampfverbände „Internationaler Währungsfonds“ (IWF), „Weltbank“ und GATT nur den Nationalökonomien der „Dritten Welt“ verordnet, ohne daß die Industriestaaten diese bittere Medizin selbst schlucken würden. Schließlich geht es darum, die dortigen produktiven Apparate zu vernichten, um Konkurrenz zu zerstören und neue Märkte zu erobern.

Weltranglistenführer Deutschland

Während jegliche nationalistische Regung in den unterentwickelten Ländern als ‚kontraproduktiv‘ und ‚realitätsfremd‘ gegeißelt wird, gelangen in Europa der Nationalismus und der Chauvinismus zu neuen Ehren. Auch nicht wenige linke Deutsche bekennen sich nun wieder „stolz“ zum Deutschtum. Schwarz- Rot-Gold, das Banner der Ost-Demonstranten. verspricht Fortschritt und Zukunft; „wir“ sind Fußballweltmeister geworden; muß Berlin nicht zwangsläufig Austragungsort der Olympiade im Jahr 2000 werden — und das wird noch besser als 64 Jahre zuvor; und Deutschmark und der Stern von „Daimler Benz“ ersetzen Religion, Ideologie und Philosophie zugleich. „Ein Volk, das derartige wirtschaftliche Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf, nichts mehr von Auschwitz wissen zu wollen“, hatte der Buhmann Franz-Josef Strauß geblökt, und auf vielen Rundfunk- und Verlagsfluren wird dies (noch nicht) nachgeplappert, aber in der Kantine laut gedacht. Zwar drücken die vielen spottbilligen Arbeitskräfte aus dem Osten bedrohlich auf die eigenen Löhne, aber noch sind sie, denen die Alltags-High-Tech ein Buch mit sieben Siegeln ist, keine ernstzunehmende Konkurrenz. Zunehmend leisten sich ‚linke‘ Wohngemeinschaften die preiswerte jugoslawische oder polnische Putzfrau.

Deutschland ist wieder Weltmacht und dank sowjetischer Initiative wohl bald am Tisch des UN-Sicherheitsrats. Die ökonomische und politische Potenz fordert ihre militärische Entsprechung, und dies bedeute, daß Bonn auch eigene Kontingente an den Golf schicken müsse, verlangten in der Berliner „taz“ grüne Realos, ohne daß sich innerhalb der Partei oder innerhalb der Zeitung Aufruhr geregt hätte. Aus dem Ost/West-Konflikt wurde Nord/Süd, das ist beschlossene Sache. Und da der Zug bereits abgefahren ist, müssen diejenigen, die noch mitfahren wollen, sich beeilen. Denn wer zu spät kommt, so hat man’s noch im Ohr, den bestraft die Geschichte. Heute ist es nur noch opportunistisch, gegen Waffenexporte in die „Dritte Welt“ zu polemisieren, wie es immer mehr im Irak-Konflikt geschieht. Längst drücken Washington und der IWF massiv auf Brasilia und Buenos Aires, um die Verteidigungshaushalte zu reduzieren. Zunächst wird einem warm ums Herz, wenn einige dieser Folteroffiziere endlich ihren Hut nehmen müssen, aber dann drängt sich der Gedanke nach dem Warum auf: Ist dem Norden nicht spätestens nach dem Malwinen-Krieg klar geworden, daß ein bis an die Zähne bewaffneter Süden nicht nur den Armen seiner Länder, sondern auch ihm selbst gefährlich werden könnte?

Europäischer Regenwald, brasilianische Industrie

Den armen Ländern wird heute, auch verbal, wenig offeriert, bürgerliche wie linke Konzepte — Entwicklung und Wohlstand für alle — sind an ihre ökologischen Grenzen gestoßen. „Die im Süden können nicht so leben wie wir“, klärt mich ein als ‚progressiv‘ bekannter Schriftsteller auf, „wenn jeder Brasilianer oder Chinese ein eigenes Auto fahren und soviel tierisches Eiweiß, Energie und Wasser wie ein Westeuropäer verbrauchen will, dann versinkt die Welt im Dreck.“ Klimakatastrophe, Mangel an Energie und Trinkwasser sowie das Versinken im Abfall der Konsumgesellschaft sind nicht mehr zu verdrängen. Allenfalls könne die Ex-DDR — dank des Pangermanismus — am Wohlstandsmodell teilhaben, aber die 250 Millionen Sowjets sollten besser keinen falschen Idealen nachhinken. Es ist nicht genug für alle da. Ob man nicht wieder über eine gerechtere Verteilung reden könne? Dies sei albern, spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer werde nicht mehr über Verteilung diskutiert, weder über die gesellschaftliche und schon gar nicht über die globale. Wer zu kurz kommt, wen es individuell trifft, der darf lamentieren. Und der „Dritten Welt“ empfiehlt er Familienplanung; da man die Armut nicht abschaffen könne, müßten die Armen beseitigt werden. Nur so lasse sich der auch für das europäische Klima so wichtige brasilianische Regenwald retten.
Auf der südlichen Halbkugel fehlen Antworten auf die veränderte Weltlage. Die Bewegung der Blockfreien steht am Nullpunkt, neue Führerpersönlichkeiten der „Dritten Welt“ sind nicht in Sicht. Collor de Mello oder Menem sind peinliche Erscheinungen, und auch Saddam Hussein hat kein eigenes soziales Projekt, das ihn als Führer der arabischen Welt qualifizieren würde. Die afrikanische und asiatische Einheit scheitert an Stammesfehden und eifersüchtigem Gezänk. Die Auslandsschulden werden wohl weiterhin einzeln und nicht im Block verhandelt, keine neuen ‚terms of trade‘ erzwungen werden.

Zwar hat es in Lateinamerika, anders als in Europa, keinen Rechtsruck in der Gesellschaft gegeben, aber die Linke macht nur mühsam politische Gehversuche. Nach vielen Jahren Militärdiktatur herrscht immer noch die Angst, und was noch wichtiger ist: der Linken fehlt es an Theorie. Das letzte Werk umfassender sozialistischer revolutionärer Theorie ist 70 Jahre alt, und von Lenins Ausführungen müßten — gelinde ausgedrückt — mindestens 50% kritisch überprüft werden. Aber wo sind die neuen Ideologen der Linken? Was in den letzten Jahren die Akademie der Wissenschaften in Moskau verlassen hat, ist größtensteils reaktionäres Gewäsch, die Algerier und Vietnamesen haben zwar die Kunst des Kleinkriegs, der Guerilla, bereichert, aber wenig Konkretes über eine positive Organisation einer sozialistischen Wirtschaft beigetragen, und weder Che Guevaras Tagebuch noch die ausufernden Reden Fidel Castros haben tiefschürfende Antworten auf das zentrale Problem der Linken gegeben: wie in einer sozialistischen Gesellschaft die Macht verteilt wird.
Dies ist das Gebot der Stunde, für jede/n Revolutionär/in, für jede/n fortschrittlich denkende/n Intellektuelle/n und für jede/n. die/der für soziale Gerechtigkeit kämpft: Die gescheiterten sozialistischen Experimente müssen aufgearbeitet werden. Es gibt keine Modelle, aber eine Vielzahl von Erfahrungen, aus denen für die Zukunft zu lernen ist. Die Ideologien sind alles andere als am Ende, aber sie bedürfen theoretischer Erneuerung. Und die Geschichte hat sich nicht verabschiedet, sie verläuft nur nicht linear, sondern — wie mich vor kurzem ein uruguayanischer Poet aufgeklärt hat — im Zick-Zack: Im Moment seien wir leider in der Zack-Phase, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis die Geschichte wieder auf Zick-Kurs gelange.

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