Streifzüge, Heft 57
März
2013

Wofür kämpfen wir?

Plädoyer für eine realistische Utopie

Die Verwertung ist aussichtslos und zerstörerisch …

In seiner Agonie greift das Kapital ein letztes Mal in voller Intensität um sich, alles – alle Lebensbereiche, alle Kontinente, alle Ressourcen, alle verbliebenen Nischen und Rückzugsräume, ja, unser Innerstes selber – soll der Verwertungslogik unterworfen werden. Mittels einer letzten extremistischen Expansionsbewegung, einer letzten „Flucht nach vorn“, mit der das Kapitalverhältnis seinen eskalierenden Widersprüchen davonzueilen versucht, werden gigantische Rohstoffmassen zur Aufrechterhaltung der immer stärker ins Stocken geratenden Verwertungsbewegung verheizt, steigen die Emissionen von Treibhausgasen immer weiter an.

Dabei sind es gerade die konkurrenzvermittelten Produktivitätssteigerungen, die nicht nur die innere Schranke des Kapitals bilden, sondern auch zur Eskalation der Ressourcen- und Klimakrise (der äußeren Schranke) führen. Je stärker die Produktivität ansteigt, desto geringer wird die in der einzelnen Ware vergegenständlichte abstrakte Arbeit (und somit ihr Wert), was folglich die Tendenz zur extremen Steigerung des Materialverbrauchs für die Verwertungsbewegung immer weiter befeuert. Unsere natürlichen Lebensgrundlagen werden so in einem immer schnelleren Tempo „verbrannt“, um die selbstzweckhafte, Amok laufende Kapitalverwertung – der im Produktionsprozess mit der lebendigen Arbeit die Substanz abhandenkommt – noch etwas länger aufrechtzuerhalten. Es ist, als ob die kollabierende globale Verwertungsmaschinerie in ihrem historischen Untergang nochmals sicherstellen wollte, dass nichts dem Kapitalismus folgen kann.

Dieser Prozess des „Verbrennens“ der Naturschätze – der in den letzten Jahren umweltzerstörerische Techniken wie das Fracking, die Ölsandförderung oder die Ressourcenausbeutung in der Arktis hervorgebracht hat – ist bereits sehr weit fortgeschritten und hat mitunter einen irreversiblen Charakter angenommen. Es gilt vor allem als sicher, dass aufgrund der steigenden Treibhausgasemissionen die sogenannten „Kipppunkte“ des Klimasystems überschritten werden. Laut einer innerhalb der Klimawissenschaft dominanten Hypothese wird ab einer CO2-Konzentration von mehr als 450 ppm – die einem globalen Temperaturanstieg von zwei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter entspricht – der Klimawandel irreversibel beschleunigt, da ab diesem Grenzwert ein Tipping Point (Kipppunkt) des Klimasystems erreicht werde, der eine Kaskade sich selbst verstärkender Rückkopplungseffekte auslösen würde, bei denen die Treibhausgasemissionen ohne weiteres menschliches Zutun über einen sehr langen Zeitraum immer weiter zunehmen würden. Diese CO2 Konzentration wird in den nächsten Jahren überschritten werden.

… und hinterlässt eine katastrophale Erbschaft

Somit wird sich die postkapitalistische Gesellschaft zwangsläufig mit den Folgen eines unkontrollierbar eskalierenden Klimawandels konfrontiert sehen, der selbst die Sicherung der Grundbedürfnisse eines Großteils der Menschheit zu einer Herausforderung machen wird – während zugleich ein großer Teil der natürlichen Ressourcen, die heute immer schneller geplündert werden, nahezu erschöpft sein dürfte. Aus diesen Tendenzen resultiert die schlichte Unmöglichkeit, eine postkapitalistische materielle „Überflussgesellschaft“ zu schaffen, deren Realisierung in den Parolen „Alles für Alle“ und „Alles muss im Überfluss vorhanden sein“ propagiert wird. Angesichts der gegenwärtig sich voll entfaltenden Klima- und Ressourcenkrise müssen diese Vorstellungen einer kommunistischen Gesellschaft, in denen die der Produktivkraftentfaltung immanente Möglichkeit materieller Reichtumsfülle durch die Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse quasi „befreit“ würde, ins Fantasiereich der „Nicht-Orte“ verbannt werden.

Die kommende Gesellschaftsformation wird somit geprägt sein von der Auseinandersetzung mit den verheerenden Verwüstungen der kapitalistischen Systemkrise, seien diese nun ökologischer, sozialer oder auch psychischer Natur. Solch ein postmortaler Kampf mit dem Kapital, mit seinem mörderischen Vermächtnis, dürfte über einen langen Zeitraum selbst eine Gesellschaftsformation prägen, die das Kapitalverhältnis und den daraus resultierenden Fetischismus bewusst überwinden und einen Absturz in die Barbarei vermeiden konnte. Eine solcherart progressiv ausgerichtete postkapitalistische Gesellschaft wird somit auch nicht widerspruchslos sein, wie überhaupt die religiös grundierte Forderung nach der Widerspruchslosigkeit des menschlichen Gemeinwesens die Funktion von Widersprüchen als Triebkräften sozialer Entwicklung verkennt. Der kommende Widerspruch wird sich nicht mehr zwischen dem Kapital und der menschlichen Gesellschaft entfalten, wie es derzeit der Fall ist, sondern zwischen dem Menschen und der Natur. Präziser: Der Widerspruch wird in dem gesamtgesellschaftlichen, kollektiven Kampf gegen die langfristigen Folgen der gegenwärtig verbrochenen Klimakrise bestehen, bei dem die Menschheit um die Beibehaltung und Verbesserung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen ringen wird.

Dieser Widerspruch wird in der Form eines Wettrennens zwischen dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt und der nicht mehr kapitalistisch gehemmten und auf destruktive Abwege geführten Produktivkraftentfaltung einerseits und den Verwüstungen der ökologischen Krise andererseits ablaufen. Vom fetischistischen Zwang befreit, ihre Entwicklung an den Erfordernissen der Kapitalverwertung auszurichten, würden die entsprechend transformierten Produktivkräfte von einem planetarischen Zerstörungswerkzeug zu einem bewusst gesellschaftlich eingesetzten Mittel zivilisatorischer Behauptung mutieren. Dieser postmortal-antikapitalistische Kampf gegen die Folgen der Systemkrise der Verwertung könnte dramatische Ausmaße annehmen, seine Intensität hängt direkt von der Intensität der klimatischen Verwüstungen ab, die nach dem Überschreiten der besagten Tipping Points über die Menschheit in einer unkontrollierbaren Weise hereinbrechen werden. Es wird letztendlich ein Kampf um die Aufrechterhaltung der menschlichen Zivilisation sein.

Transformation der Gesellschaft …

Hierbei wäre eine gigantische Transformationsbewegung nahezu aller Gesellschaftsbereiche zu bewältigen, die sich bereits jetzt andeutet – wenn auch nur in rein negativer Form, als ein aufgrund eskalierender faux frais vom Kapitalismus nicht mehr bewältigbarer Strukturwandel. Die Lohnarbeit wird mit dem Kapitalismus absterben, sie führt bereits jetzt nur noch ein auf Pump finanziertes Zombieleben, doch zugleich werden wir nicht in einem mühelosen Wunderland aufwachen. In einer postkapitalistischen Gesellschaft gäbe es ungeheuer viel zu tun, insbesondere müssten die Struktur der Produktivkräfte, die Güterherstellung, die Energieversorgung, der Agrarsektor auf kollektive und bewusst geplante Produktion umgestellt werden. Unüberschaubar allein die notwendigen Maßnahmen, mit denen die Lebensmittelerzeugung gegen die Verwerfungen des Klimawandels abgesichert werden müsste. Die Herausforderung, den Stoffwechsel zwischen Natur und Gesellschaft auf eine neue, ressourcenschonende Grundlage zu stellen, stehen ja – etwa bei der „Energiewende“ – schon jetzt auf der Tagesordnung, können aber nicht mehr in Form der Lohnarbeit bewältigt werden, da die hierbei auftretenden Missverhältnisse zwischen gigantischen Investitionen und geringen Verwertungsprozessen dem im Wege stehen. Erst nach Überwindung des Kapitalismus kann all das vollbracht werden, was sich als Geschäft der Verwertung nicht mehr rechnet.

Genauso wenig, wie mensch den Begriff der Produktivkräfte mit der gegenwärtigen Maschinerie identifizieren darf, die von der Wertverwertung geformt wurde, müssen auch die hiervon geschaffenen konkreten Gebrauchswerte, die allen kapitalistischen Waren anhaften, als historisch und vom Verwertungszwang deformiert begriffen werden. Eine volle Entfaltung der Produktivkräfte im Postkapitalismus würde somit nicht die maximale Steigerung des Ausstoßes etwa von Autos oder Smartphones unter Beibehaltung der überkommenen industriellen Organisationsstruktur mit sich bringen, sondern gerade deren grundlegende Überwindung und die Ausrichtung auf größtmögliche Ressourcenschonung, die in der fetischistischen kapitalistischen Werbewirtschaft, die dem Joch der uferlosen und selbstzweckhaften Geldvermehrung unterworfen ist, schlicht unmöglich ist.

Die Parolen „Alles für Alle“, oder „Alles muss im Überfluss vorhanden sein“, mit denen suggeriert wird, hinter dem revolutionären Akt der Überwindung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse liege ein Warenparadies, blenden aber vor allem aus, wie pervertiert die Gebrauchswerte der meisten Waren im Kapitalismus sind. Sie unterstellen, in der Ware befinde sich ein objektiver überhistorischer Gebrauchswert, der im Verlaufe der Systemtransformation nur von der Tyrannei des Werts zu befreien wäre, um ihn sich dann aneignen zu können. Der Wert kontaminiert, ja pervertiert jedoch in vielen Fällen die Gebrauchswerte – von der ungesunden Nahrung über die vielen Statussymbole (Auto, Handy, Klamotten etc.) bis hin zu der Art, wie wir wohnen. Wert und Gebrauchswert hängen zusammen, sie bedingen einander, können nicht in „gut“ (Gebrauchswert) und „böse“ (Wert) geschieden werden. Ein Beispiel hierfür liefern die zu hunderttausenden leer stehenden Häuser in Spanien, bei denen es sich zumeist um die auf Abschottung ausgerichteten Reihen- und Einfamilienhäuser handelt, die so ziemlich das genaue Gegenteil einer postkapitalistischen urbanen Struktur aufweisen. Auf der iberischen Halbinsel führt die Krise des abstrakten Werts zwar tatsächlich zu einer massenhaften Zerstörung von konkreten Gebrauchswerten, doch weisen diese selber schon die Kainsmale der Wertvergesellschaftung auf.

Die Artikulation von Bedürfnissen, die nicht durch Entfremdungsprozesse verunstaltet sind, kann nur in Form eines gesamtgesellschaftlichen Dialogs in einer postkapitalistischen Gesellschaft geschehen, in dem die Grundbedürfnisse aller Menschen mit den durch Klima- und Ressourcenkrise gegebenen Einschränkungen und den fortschreitenden technischen Möglichkeiten in Ausgleich gebracht werden. Hier, bei der bewussten Planung und Gestaltung der gesellschaftlichen (Re)Produktion, ist der utopische Kern zu verorten, an dem wir bei unserem antikapitalistischen Kampf trotz allem Realismus festhalten müssen. Mit der bewussten, unvermittelten und kollektiven Gestaltung der gesellschaftlichen Reproduktion wie des Stoffwechsels zwischen Gesellschaft und Natur wäre ein buchstäblich utopisches Moment realisiert, etwas, das es in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hat. Es handelte sich um eine gesellschaftliche Struktur, die aus dem utopischen „Nicht-Ort“ in die Realität überführt werden würde.

… oder etwas zwischen Orwell und Mad Max

Dies wäre der Bruch mit der bisherigen Geschichte, die von Marx als unbewusst über die Menschen ablaufende „Vorgeschichte der Menschheit“ bezeichnet wurde. Die bewusste Regelung und Planung des gesellschaftlichen Stoffwechsels durch die Gesellschaftsmitglieder ist gleichbedeutend mit der Überwindung des Fetischismus. Der Mensch gestaltet dann die soziale Entwicklung, er wird nicht mehr von einer blindwütigen, sich hinter seinem Rücken konstituierenden Verwertungsdynamik getrieben, die derzeit dabei ist, in offene Barbarei umzuschlagen. Dieser „utopische“ Schritt, dies Einfache, das schwer zu machen ist, stellt somit eine Überlebensnotwendigkeit der Menschheit dar. Entweder werden wir den Fetischismus überwinden, oder der zivilisatorische Prozess wird kollabieren und wir finden uns in einer Zukunft wieder, die irgendwo zwischen 1984 und Mad Max angesiedelt sein dürfte.

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