Heft 8/2003 — 1/2004
Dezember
2003

„Wohlsein nach Schandtaten“

Der Antisemitismus der Gruppe 47

Wie deutsch waren die Stars der deutschen Nachkriegsliteratur?

Als Ingeborg Bachmann 1952 in Niendorf an einer Tagung der Gruppe 47 teilnahm, notierte sie in ihr Tagebuch: „Am zweiten Abend wollte ich abreisen, weil ein Gespräch, dessen Voraussetzungen ich nicht kannte, mich plötzlich denken ließ, ich sei unter deutsche Nazis gefallen, (...) Am zweiten Tag wollte ich abreisen, am dritten Tag las ich ein paar Gedichte vor, vor Aufregung am Ersticken...“ [1]

Damals war auch Paul Celan in Niendorf, um aus der Todesfuge und Ein Lied in der Wüste zu lesen. Bachmanns so unverhohlene Notiz bezieht sich auf die Ignoranz der Gruppe, den Hohn und Spott, mit welchen man auf den Vortrag ihres Freundes reagierte; unerträglich, so die Meinung der Kollegen, sei sein Pathos, er lese wie Goebbels (Walter Jens), das ganze ein Singsang wie in einer Synagoge.

Was Bachmann ihrem Tagebuch und Celan in einem Brief seiner Frau anvertraute, davon handelt Klaus Brieglebs neu erschienenes Buch Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: Wie antisemitisch war die Gruppe 47? In welchem Ausmaß, so die Frage des Autors, hat die Gruppe 47 an der Aus- und Abgrenzung, Vereinnahmung und Instrumentalisierung jüdischer Schriftsteller und Kritiker mitgewirkt? Inwieweit hat sie, indem sie die Shoah zum Tabu erklärte, das literarische Klima im Nachkriegsdeutschland beeinflußt? Und welche Funktion erfüllen heute schließlich jene, die einst zur Gruppe zählten?

Der Kreis um Hans Werner Richter galt lange Zeit nicht nur als Aushängeschild deutscher Literatur, ihm eilte auch — zumindest in seiner Frühphase — der Ruf voraus, es handle sich bei diesen Autoren um untadelige Antifaschisten, engagierte Schriftsteller, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, die Literatur zu erneuern. (Jüdische) Emigranten, die zur Gruppe gestoßen waren, wurden jedoch rasch mit dem antisemitischen Ressentiment konfrontiert, das in der Gruppe herrschte, mit Widerwillen und Ignoranz, die Verbrechen der Deutschen zur Kenntnis zu nehmen, sie zu thematisieren und sich dem zu stellen, was ihnen, den Überlebenden widerfahren ist. Statt dessen wollten sich die Kriegsheimkehrer und Flagghelfer, die sich „jungdeutsch“ nannten, „etwas von der Seele schreiben“, und vor allem „mit der Vergangenheit Schluß machen“. Man war, wie Alfred Andersch, stolz darauf, nicht aus „Studierzimmern“ zu kommen, sondern „aus dem unmittelbaren Kampf um Europa, aus der Aktion“. Was die Verbrechen der Deutschen betrifft, so betrachtete man die als längst kompensiert, “durch die Fülle von Leiden, die, scheinbar als natürliche Folge einer so totalen Schuld, über Deutschland hereinbrechen. Hierher gehört die physische und psychische Wirkung der Bombenangriffe, die Austreibung von zehnMillionen Deutschen aus ihren Wohnstätten im Osten, die Ernährungslage und der Schwarzmarkt, die Kälte, die um sich greifenden Krankheiten, die babylonische (sic! R.G.) Gefangenschaft von Millionen früherer Soldaten....“ (Andersch)

Dermaßen mit der eigenen Vergangenheit versöhnt, jede Mitschuld- und Verantwortung von sich weisend, war das Verbot, die Shoah zu thematisieren — „keine Greuelliteratur!“ — ein ungeschriebenes Gesetz in der Gruppe, ebenso wie das Gebot der „Vermeidung jeder Grundsatzdiskussion“. Diese Debatten hätten möglicherweise zum unweigerlichen Bruch mit den Emigranten geführt und in der literarischen Öffentlichkeit Ärger hervorgerufen. Indem man jedoch Kritiker und Autoren wie Reich-Ranicki, Ilse Aichinger, Hildesheimer oder Hans Mayer in die Gruppe einzubinden versuchte, wähnte man sich vor jedem Verdacht gefeit. Auch deshalb wurde das antisemitische Ressentiment — wie im Falle Celans – nur selten offen ausagiert; der aggressiven Abwehr ließ man lieber hinterrücks, in internen Briefen freien Lauf. Nachdem Hermann Kesten der Gruppe vorwarf, sie würde antisemitischen Vorbildern nacheifern, wurde der Gruppenchef deutlich: „Kesten ist Jude und wo kommen wir hin, wenn wir jetzt die Vergangenheit untereinander austragen, d.h. ich rechne Kesten nicht zu uns zugehörig, aber er empfindet es so. Wie aber soll man diesem eitlen und so von sich überzeugten Mann beibringen, welches Unheil er anrichtet?“ War man erst einmal unter sich, wurde Klartext gesprochen. Wie sehr die Atmosphäre während der Zusammenkünfte der Gruppe tatsächlich vergiftet war, daran erinnert sich Günther Kunert: „Man spürte jedoch deutlich die Spannung zwischen den Personen. Peter Weiss erscheint, Heinrich Böll sitzt an einem Caféhaustischchen, beider Blicke signalisieren Ungutes, es wird geraunt und gewispert, und niemand erklärt mir, worum es eigentlich geht. Merkwürdig: Es dominierte damals eine starke Ambivalenz, nämlich das Gefühl der Zugehörigkeit zu Gleichgestimmten und Gleichgesinnten, zur ‚Berufsgenossenschaft‘, verquickt mit einem anderen Gefühl, dem des Fremdseins, des Fremden, des Gastes, dem sich der interne Kreis nie öffnen wird.“ [2]

Dieser interne Kreis weigerte sich freilich auch vom Frankfurter Auschwitz-Prozeß (1963/65) Notiz zu nehmen; trotz eines Appells von Reich-Ranicki blieb die Gruppe dem Gerichtsaal fern. Merkwürdiger Weise konnte Peter Weiss seinen ersten Text zu dem Prozeß Meine Ortschaft noch im Rahmen der 47iger publizieren, bevor man ihn wenige Jahre später unter Federführung Günther Grass, aus der Gruppe „herausschmähte.“

Das ist der Kern der Gruppe 47: ein deutscher Männerbund, eine verschworene Schicksalsgemeinschaft, gestiftet durch die Verbrechen der Vergangenheit. Die Frage ihrer eigenen Komplizenschaft mit dem Nationalsozialismus durfte von niemanden thematisiert werden, schon gar nicht von Emigranten, denen man intern „völliges Versagen“ und „politische Instinktlosigkeit“ (Richter) vorwarf. So wie Millionen andere Deutsche war der Massenmord an Deutschen Juden nicht das Problem dieser einst ehrenhaften Soldaten, die nach dem „großen europäischen Krieg“ angetreten waren, den literarischen „Kampf gegen alle Feinde der Freiheit fanatisch zu führen“ (Andersch). „Ein Kampf, der nicht zuletzt darum geführt wurde, eine Erfahrung aus einer künftigen Literatur auszuschließen: daß es noch etwas Schlimmeres geben könnte als Krieg.“ [3]

Es war kein Zufall, daß das, was sich als neuer Realismus gerierte, ausgerechnet den Antisemiten Ernst Jünger zum Vorbild nahm.

Als ein „kleines Geschichtsbuch mit Situationsbildern und analytischen Erzählungen, die zur Szenenwanderung einladen, zum nachdenklichen Innehalten“, will Briegleb seine Streitschrift verstanden wissen; und er möchte Assoziationen wecken, die Texte selber zum Sprechen bringen, was dem Literaturwissenschaftler etwa in der Analyse und Interpretation von Hans Werner Richters Buch,Sie fielen aus Gottes Handam ehesten glückt: Der Roman (1951), „ein menschliches Panorama des Zweiten Weltkrieges“ (Richter), beruht auf Interviews, „Schicksalen“ die der Autor in einem Lager in der Nähe Nürnbergs 1949 gemacht hatte. Dem Buch liegt ein diffuser, abstrakter Pazifismus zugrunde mit dem Ziel jegliche Besonderheit des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen aus der Geschichte zu tilgen. Aus deutscher „Zentralperspektive“ erzählt, beruhe, so Briegleb, das Konzept des Romans auf einem „Satz aus der Welt der Logik, dem Satz der Identität: Der Krieg hat alle gleich gemacht ... Alle Figuren müssen ‚die Erfahrung des Erlebnisses‘ haben, damit sie im Pazifismus — Legitimationsspiel ihre Kriegs-Rollen bis zum quod erat demonstrandum{}behalten: Es muß im erlebten Krieg der Grund zum Frieden gelegt worden sein, es ist die Doktrin Ernst Jüngers. ‚Krieg‘ heißt ‚ihr Krieg‘, aus dem der allgemeine Frieden folgen muß“. Juden und Christen, Sowjetrussen und Deutsche, Mörder und Ermordete, sie alle sind Opfer. Besonders perfid in dem Figurenpanorama ist die Gestalt des armen, einfältigen jüdischen Schusterjungen aus Warschau, dessen Funktion Briegleb präzise analysiert: er überlebt den Krieg, freilich nur Dank der Hilfe der Deutschen, geht nach Israel, desertiert aus der Armee, — weil er, wie könnte es anders sein, zum Kämpfen völlig ungeeignet ist — kehrt wieder nach Deutschland zurück und stirbt schließlich einen absurden Tod unter dem Galgenkreuz des ehemaligen KZ. Als einzige Figur des Romans wird er geopfert.

Daß Thomas Mann — auf Drängen Kesten und Neumann — der Verleihung des Schikele Preises an Richters Machwerk nach langem Zögern zustimmte, dürfte er wenige Jahre später bitter bereut haben: die Bedeutung der Gruppe 47, so schrieb er, hänge zusammen mit dem, was sie emphatische bekämpft, „mit der lächerlichen Wirtschaftsblüte der amerikanischen Lieblingskolonie „Westdeutschland (...) diesem frechen und unmoralischen Wohlsein nach Schandtaten, die mit der Höllenfahrt von 1945 schlossen, und an die heute zu erinnern nicht weiter als bolschewistisch ist.“

Obwohl Briegleb, der nahezu 15 Jahre mit der Arbeit an dem Buch zugebracht hat, sich in seiner Studie mit größter akademischer Vorsicht dem Thema nähert, sorgte „Mißachtung und Tabu“ in den Feuilletons der deutschen Presse für helle Aufregung; das hat vermutlich mit Brieglebs Konzept zu tun, der Einbeziehung des aktuellen deutschen antisemitischen Kontext, den er seiner Arbeit voranstellt: mit der deutschen Wiedervereinigung, mit Grass Gespräch mit Yoram Kaniuk im Berliner Literaturhaus, der Debatte um das Berliner Mahnmal, mit Walsers berüchtigter Rede in der Paulskirche, in der er den ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrates der deutschen Juden Ignaz Bubis öffentlich schmähte und mit der Herausgabe seines Romans Tod eines Kritikers. Die ehemaligen „Jungdeutschen“ fühlten sich provoziert und demonstrierten erneut, wie gut alte Seilschaften sich bewährten; Jens, Grass, Baumgart u. a. waren sich einig: Brieglebs Streitschrift beruhe auf einer „Wahnidee“ hieß es, eine „absurde These“ liege ihm zugrunde, von Antisemitismus jedenfalls keine Spur. Es ist schade, daß Briegleb in seinem Buch nicht immer zu der Schärfe findet, die, auch angesichts dieser durchaus vorhersehbaren Reaktionen angemessen gewesen wäre, daß er die neue Intensität des Antisemitismus zu wenig herausarbeitet und mit „eingestreuten“, „dokumentierenden Textstücken“ und „Fenster“ eher verstellt. Gehört doch Walsers Roman, in dem mit dem verhaßten Kritiker und Überlebenden der Shoah abgerechnet wird, ebenso in das „ungebrochene antisemitische Kontinuum“ von dem Briegleb im Zusammenhang mit der Gruppe 47 spricht, wie er bereits darüber hinaus weist. Hier handelt es sich „nicht mehr um Literatur im engeren und reflektierten Sinn, sondern um den gut kalkulierten Bruch mit einem nur mehr mühsam aufrechterhaltenen Tabu.“ [4]

Was man im Kreise der 47iger einst nur hinter vorgehaltener Hand, im intimen Kreis, auszusprechen wagte, erscheint nun, bis zur Stürmerkarikatur [5] gesteigert, als Bestseller am deutschen Markt.

Klaus Briegleb, Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: „Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“, 2003, Philo Verlagsgesellschaft mbH, Berlin/Wien. 323 Seiten

[1Alle Zitate ohne weitere Angabe sind Klaus Brieglebs Streitschrift Mißachtung und Tabu Berlin/Wien 2003 entnommen.

[2Günther Kunert: Deutsch-Deutsche Begegnung, in: Die Gruppe 47: Bilder und Texte. Toni Richter (Hrsg.), 1997

[3Hanno Loewy: Mumpitz und Tabu, in: Frankfurter Rundschau 6.3.03

[4Vgl.: Gerhard Scheit: Deutscher Realismus. Zu Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers, in: Bahamas Nr. 39, Herbst 2002, 19-23

[5M. Reich-Ranicki stellte in der Faz v.12.7.2002 fest, daß das Buch gegen Juden hetze, und es „hier und da dem Vorbild des Nazikampfblattes ‚Der Stürmer‘“ folge.