FORVM, No. 237/238
September
1973

Wohnung ist Gefängniszelle

Sozialdemokratischer Strategie-Vorschlag

1 Baukapital ist parasitär

Wenn der abhängig Arbeitende das Fabriktor, die Bürotür oder ähnliche Verschlußvorrichtungen auf dem Heimweg passiert, verläßt er das Reich der Solidarität und des durch Solidarität wirksamen Faustrechts. In allen seinen übrigen Lebensbereichen wird der solidarische Bruch eines gesetzmäßig bestehenden Zustandes nicht geduldet. Im politischen Bereich wird für solche Fälle die Polizei bereitgehalten und auch eingesetzt. (Polizei gegen Streikende ist hingegen das einzige Majestätsverbrechen gegen das Proletariat. Alles andere läßt es sich in der westlichen Welt gefallen.)

Das gilt nicht nur in der politischen Sphäre, sondern auch in der gesamten ökonomischen Sphäre außerhalb der Betriebe: Arbeitsstreik ist geduldet, Mieterstreik nicht (nichts bezahlen — dennoch wohnen), Käuferstreik nicht (nichts bezahlen — dennoch Ware wegtragen).

Am Arbeitsplatz hat der Bürger des demokratischen Kapitalismus seine politischen Grundrechte nicht. Wohl aber hat er das Faustrecht auf Solidarität und Streik. Und dieses hilft ihm mehr als jene.

In allen anderen Lebensbereichen hat der Bürger des demokratischen Kapitalismus seine politischen Grundrechte (ausgenommen beim Militär). Nicht aber hat er dort das Faustrecht auf Solidarität und Streik. Und dieses würde ihm mehr helfen als jene.

Aus diesen und anderen Gründen wird der Bürger des demokratischen Kapitalismus, obgleich ausgeplündert am Arbeitsplatz, noch viel mehr ausgeplündert in seinen übrigen Lebensbereichen.

Z.B. Wohnen.

Machtlos steht die überwältigende Mehrzahl der Bevölkerung vor dem Treiben einer Mafia aus Grundstückbesitzern und -spekulanten/Bauwirtschaft/Wohnbau- und Finanzierungsgesellschaften/Hauseigentümern.

Neubauwohnungen sind teuer. Es werden relativ wenige gebaut. Die Ware Wohnung wird knappgehalten. So bleibt der Preis schön oben.

Billige Altwohnungen werden dezimiert. Teils werden die Mieten auf gesetzlichem Wege erhöht mit der Begründung, es würde bei zu billigen Mieten der Neubau von Wohnungen unrentabel. Teils werden durch Altstadtsanierung die alten Häuser mit den billigen Wohnungen einfach abgerissen.

So gibt es weniger Altwohnungen: deren Preise steigen. So entsteht Nachfrage nach Neubauwohnungen: deren Preise bleiben hoch. Einige besonders schöne Altwohnungen werden renoviert: Es entstehen Luxuswohnungen in der Altstadt.

Der billige kommunale Wohnungsbau wird abgetrieben mit der Begründung, durch ihn könne die Wohnungsmisere ohnehin nicht gelöst werden.

Den Gemeinden werden so viel Ausgaben aufgehalst, daß sie sich verlorene Baukosten nicht mehr leisten können: sie hören zu bauen auf oder steigern die Mieten bis in die Gegend des privaten Wohnbaus.

Kapitalkräftige Eigentümer von Neubauten lassen diese leer — in Erwartung noch höherer Mieten.

Weniger kapitalkräftige Eigentümer von Neubauten vermieten unter dem Selbstkostenpreis in der sicheren Erwartung, dies mehr als einzubringen durch kräftige Mietsteigerungen gleichläufig mit der Inflation.

Eigentümer von Altbauten lassen diese verfallen und vertreiben auf diese Weise oder auf andere die billigen Mieter, erwerben die Abbruchgenehmigung, pferchen noch rasch Unmengen von Fremdarbeitern zu unverschämten Preisen in die Bruchbude. Ist das Haus dann weg, liegt der Grund frei, kommt das große Geld:

Der Boden ist ohne Haus viel mehr wert als mit. In zentraler Lage wachsen hier Bank-, Konzern- oder Bürohochhäuser. In weniger zentraler Lage bringt ein neues Wohnhaus immer noch viel mehr Miete als ein altes.

Die Bauwirtschaft bleibt bei ihren astronomischen Preisen und steigert sie immer noch. Bei jeder neuen Preiswelle ist sie Spitzenreiter. Sie ist teurer, weil weniger rationalisiert: Sie hat weniger Maschinen, mehr Menschen als andere Industriezweige. Denn bei Konjunkturflaute ist es für sie rentabler, Menschen abzubauen als teure Maschinen ungenutzt zu lassen. Ebendrum wird sie von der öffentlichen Hand bevorzugt bei Stützung und Ankurbelung der Konjunktur. Ebendrum kann sie sich’s leisten, nicht zu rationalisieren und teuer zu sein.

Die Bodenbesitzer verkaufen nach perfekter kapitalistischer Logik an den Meistbietenden. Dadurch geraten die Stadtzentren in die Hände des Finanz- und Industriekapitals. Dadurch werden die Wohnbauten immer mehr an die Stadtränder verdrängt. Immer mehr Menschen fahren immer längere Strecken, immer längere Zeit zur Arbeit und nach Hause.

Die Mafia aus Bodenkapital/Baukapital/ Wohnungskapital versetzt die Massen der Arbeiter und Angestellten in perfekte Hilflosigkeit. Wenn sie eine Wohnung wollen, zahlen sie immer mehr für immer weniger. Neue Wohnungen sind immer weiter draußen und immer teurer. Alte Wohnungen gleichfalls immer teurer und immer schlechter: vergleichsweise immer unmoderner und jedenfalls immer tiefer drin in der Hölle aus Lärm, Gestank, Abgasgiften.

Die Massen der Arbeiter und Angestellten wollen anständig wohnen, jetzt und hier, nicht erst im Sozialismus. Ihnen vorzuschwärmen, daß dieser das Wohnungsproblem lösen wird, ist für sie uninteressant. Sie fordern die Lösung von der Sozialdemokratie, das heißt: innerhalb des Kapitalismus und in Zusammenarbeit mit diesem. Nicht weil das was Schönes ist, sondern weil das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen jetzt und hier keine andere Lösung gestattet als in Auseinandersetzung und im Kompromiß mit dem Kapital.

2 Bündnis Sozialdemokratie-Industriekapital

Am Wohnungsproblem ist nicht nur die Sozialdemokratie interessiert, in Wahrnehmung der unmittelbaren Interessen der lohn- und gehaltsabhängigen Massen (ihrer Wählermassen). Auch das Industriekapital hat kein Interesse an besonders teurem Wohnungsbau, weil sich hohe Mieten in höheren Lohnforderungen niederschlagen. Das Industriekapital will möglichst niedrige Mieten zwecks möglichst niedriger Löhne. Daher ist es in der Wohnungsfrage ein möglicher Bündnispartner der Sozialdemokratie.

Aber kein verläßlicher. Es gibt natürlich Solidarität zwischen Industriekapital und Boden-/Bau-/Wohnungskapital auf dem Rücken der Arbeiter und Angestellten. Wichtiger noch: Es gibt immer mehr Verflechtung zwischen diesen Kapitalen. Industrie- und Finanzkapital strömt auf den Boden-/Bau-/Wohnungsmarkt, weil es dort viel zu verdienen gibt. So gerät Kapital in die übliche Schizophrenie seiner Interessen: Will es nun niedrige Mieten wegen niedriger Löhne, oder will es am Boden-/Bau-/Wohnungsmarkt hohe Gewinne. Natürlich wird der Ausweg wiederum auf dem Rücken der Arbeiter und Angestellten gesucht. Aber das stößt sich an der Verhandlungsmacht der Sozialdemokratie und ihrer Gewerkschaften. Bei aller Unverläßlichkeit ist folglich das Kapital an die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie verwiesen.

Auf einem Bündnis zwischen Sozialdemokratie und Industriekapital beruhte in der Ersten Republik Österreich der „Mieterschutz“: Gesetzgebung, zurückgehend noch auf die Kriegswirtschaft betreffend Mietenstop und Kündigungsschutz in Altwohnungen sowie zwangsweise Verwendung des Mietgeldes für Hausreparaturen. Formal kommt dies einer Enteignung des Hausbesitzers gleich: Die wesentliche Verfügungsgewalt über sein Eigentum ist ihm entzogen. Dies aber nicht als Resultat des teuflischen Austromarxismus der damaligen Sozialdemokratie, sondern als Resultat — schon damals — eines sozialdemokratisch-kapitalistischen Bündnisses. Allein hätte das die Sozialdemokratie machtmäßig nicht geschafft. Aber es lag im Interesse des kriegsgeschwächten Industriekapitals, niedrige Mieten zwecks niedriger Löhne zu haben. Es war ein Streit um Profit zwischen zwei Kapitalfraktionen. Die Hausbesitzer waren die Schwächeren.

Auch heute ist das Industriekapital nicht abgeneigt, ein Stück mit der Sozialdemokratie zu gehen, wenn diese gewillt ist, dem Boden-/Bau-/Wohnungskapital Zügel anzulegen.

Die diesbezügliche Neigung des Industriekapitals wächst, wenn es ihm nicht so glänzend geht, z.B. wegen Exportschwäche; dann sind niedrige Löhne besonders wichtig, daher auch niedrige Mieten.

Im Interesse des Gesamtkapitals (und der darin eingeschlossenen unmittelbaren Existenzsicherung des Proletariats) liegt die Förderung des warenproduzierenden Industriekapitals und nicht die Aufblähung des unproduktiven Boden- und Wohnungskapitals oder des rationalisierungsunwilligen Baukapitals.

Werden schon niedrige Löhne hingenommen als Ergebnis von Auseinandersetzung und Kompromiß zwischen den Klassenkräften, so sollen die niedrigen Löhne wenigstens der Modernisierung des industriellen Produktionsapparates dienlich sein, statt von hohen Mieten aufgefressen zu werden (was dann Lohnforderungen auslöst, und die höheren Löhne wandern wieder in den Wanst des Wohnungskapitals).

3 Sozialdemokratisch-kapitalistische Wohnbaureform

Reformen des Wohnungswesens sind dann sozialdemokratisch — das heißt: realistisch — wenn sie a) den unmittelbaren Interessen der Arbeiter und Angestellten (der sozialdemokratischen Wähler) dienen, b) bündnisfähig sind mit dem Industriekapital, ohne dessen Vertrauen und Mitwirkung die Sozialdemokratie (auf Grund des Kräfteverhältnisses der Klassen) gar nichts reformieren kann.

Reform des Bodenkapitals. Abschöpfung seiner enormen Gewinne durch Besteuerung zugunsten Wohnungsbau, Verkehrs- und Städtesanierung. Beschränkung seiner Gewinnmöglichkeiten durch strikte Planung des Bodens: Festlegung der Zonen für Arbeiten und Wohnen unter möglichster Mischung der beiden, um die Verkehrswege zwischen ihnen zu verkürzen. Teilweise Kommunalisierung des Bodens: Gemeinden dürfen ihren Boden nicht verkaufen und haben Vorkaufsrecht auf allen sonstigen Boden.

Bei solcher sozialdemokratischer Bodenreform kann das Industriekapital mitgehen, aus dreifachem Interesse: a) an niedrigen Mieten wegen niedriger Löhne, b) weil es selber für Baugrund die horrenden Bodenpreise zahlen muß, c) weil die hohen Gewinne aus dem Boden Anlagekapital dorthin lockt, statt in die Industrie.

Reform des Baukapitals. Rationalisierung und dadurch Verbilligung der Produktion.

Das Industriekapital kann mitgehen aus dreifachem Interesse: a) weil Rationalisierung im langfristigen Interesse des Gesamtkapitals liegt, b) weil das Industriekapital hiefür die Maschinen liefert, c) weil es die freigesetzten Menschen als Arbeitskräfte brauchen kann.

Reform des Wohnungskapitals. Kommunale Wohnungsvermittlung: Die Gemeinden besorgen die Vermittlung kostenlos, egal, ob es sich um ihren oder um privaten Wohnbau handelt. Wegfall der Maklergewinne. Kommunaler Mietenfonds: Aus diesem bezahlen die Gemeinden alle Mieten, ob für kommunal oder privat gebaute Wohnungen. In den Fonds zahlen alle Mieter, und zwar die mit niedrigen Einkommen niedrigere Prozentsätze (eventuell plus kommunalen Zuschüssen), die mit hohem Einkommen höhere.

Derzeit ist es genau umgekehrt: Wer viel verdient, zahlt relativ wenig Miete, wer wenig verdient, zahlt relativ viel Miete. Das Industriekapital kann auch da mitgehen wegen seines Interesses an niedrigen Mieten.

Daß solche sozialdemokratische Reform des Boden-/Bau-/Wohnungskapitals viel Planung enthält (Bodenplan, Mietenfonds), stört das Gesamtkapital nicht unbedingt. Das Kapital ist nicht prinzipiell planungsfeindlich: nämlich dann nicht, wenn die Planung in seinem Interesse liegt. Beispiele reichen vom fürstlichen Merkantilismus (der den frühen Kapitalismus mittels staatlicher Planung hochpäppelte) über staatliche Außenhandelsplanung (Schutzzoll, Exportförderung, sonstige Industriesubventionen) bis zur staatlichen Gesamtplanifikation à la de Gaulle bzw. schon Roosevelt (Tennessee Valley Authority).

Sozialdemokratische Reform des Wohnungswesens ist möglich, weil hier ein Bündnis möglich ist mit dem Industriekapital, dessen Interessen in diesem Punkt gegen das Boden-/Bau-/Wohnungskapital stehen. Das Industriekapital ist ja auch sonst Bündnispartner der Sozialdemokratie gegen unproduktive, unrationalisierte, unrationelle Kapitalfraktionen. Die Sozialdemokratie vertritt hiebei

  • das Gesamtinteresse des Kapitals gegen kapitalistische Teilinteressen,
  • die unmittelbaren Interessen der abhängig Arbeitenden, soweit sie gleichläufig sind mit den Interessen des Industriekapitals.
  • Sie rationalisiert, modernisiert, vollendet den Kapitalismus — was dieser selbst nicht mehr fertigbringt, so gespalten ist er in Teilegoismen. Sie erfüllt ihre geschichtliche Aufgabe: Vollendung des Kapitalismus zwecks Vorbereitung des Sozialismus.

4 Orientierung Jesus: Großfamilie

Schöner Wohnen — in gesünderer Umwelt, verkehrsgünstiger, billiger —, das ist schon was. Da gehört schon jungneulinke Arroganz dazu, dieses mögliche Resultat sozialdemokratisch-kapitalistischer Reformtätigkeit zu verlachen, quer über die Kluft hinweg zwischen den wohnungshungrigen arbeitenden Massen und der linken Avantgarde, der nicht die schönere Wohnung genügt, sondern erst die Revolution.

Umgekehrt ist es sozialdemokratisch-reformistische Arroganz, wenn als junglinke Utopie beiseitegeschoben wird, was sozialistische Revolution der Köpfe ist — gerade in der Wohnungsfrage.

Wie schön gesund, verkehrsgünstig, billig auch immer das Wohnen der arbeitenden Massen werden kann durch sozialdemokratische Reform (hoffen wir’s, helfen wir mit): ohne Revolution der Köpfe bleibt die Wohnung eine Gefängniszelle.

In krimineller Monotonie aneinandergereiht Zelle um Zelle, jede Wohnhausanlage, jede Satellitenstadt ein neues größeres Gefängnis, in dem die arbeitenden Massen unter immer komfortablerem Verschluß gehalten werden, jede Zelle angefüllt mit immer teurerem, immer öderem Möbelkitsch ... ein Reich der Gartenzwerge, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Sind die Bürger des demokratischen Kapitalismus sicher in den vier Wänden ihrer Wohnzelle eingeschlossen, total isoliert von den übrigen Gefangenen (bewährter Grundsatz für alle Sicherheitsverwahrung), begeben sie sich zum Auslaß der zentralen Ton- und Bildanlage und drehen selber und freiwillig am Knopf.

Steht man abends vor der steilen hohen Außenwand eines modernen Wohnbaugefängnisses, leuchtet in jedem dritten Fenster, und zwar im selben Teil des Fensters, denn der Fernsehapparat steht immer an derselben Stelle, in jeder Wohnung, weil immer an derselben Stelle in jedem Wohnzimmer die Steckdose ist, der bläuliche Geisterschimmer der zentralen Befehlsanlage.

Zu zweit mit ein oder zwei Kindern, Hund oder Katz sitzen sie davor, ausgeleert von der Arbeitshölle, ausgeleert von der Verkehrshölle, ausgeleert von der Kleinehe-/Kleinfamilienhölle. 20- bis 30-jährige verfettet an Herz und Seele, was bleibt schon, als Fressen und Saufen (im Bett ist es immer derselbe, dieselbe, dasselbe, wenn’s überhaupt noch was ist oder je was war).

Hier hat die linke Jugend zugeschlagen mit ihrem hohen Ideal von gemeinsamem Wohnen, Leben, Denken, Reden, Lieben mehrerer Menschen in einer nicht biologischen nicht juristischen, sondern geistigen Familie: Wie Jesus und seine Jünger und die zugehörigen Frauen ...

Auszug aus dem Buch „Rot und realistisch“, das in diesem Herbst im Europaverlag erscheint.

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