Grundrisse, Nummer 36
November
2010

Zur Notwendigkeit der politischen Neu-Ausrichtung von transnationaler Organisierungs- und Solidaritätsarbeit

Kampagnen an der Schnittstelle von antirassistischen sowie klima- und landwirtschaftspolitischen Netzwerken zwischen Europa und Afrika

Angefangen mit dem Algerienkrieg Ende der 1950er Jahre hat die Solidarität mit antikolonialen Befreiungsbewegungen in Ländern des globalen Südens mindestens 30 Jahre lang eine äußerst wichtige Rolle in der (westeuropäischen) Linken und ihren Vorstellungen von globaler Organisierung gespielt. Der Protest gegen den Krieg in Vietnam, die Unterstützung afrikanischer, asiatischer und lateinamerikanischer Befreiungsbewegungen, von Kambodscha und Laos über den Kongo, Angola, Zimbabwe, bis El Salvador und Nicaragua sowie die Organisierung von breit angelegten Kampagnen – beispielsweise gegen das südafrikanische Apartheidsregime oder gegen den Putsch Pinochets in Chile – sind aus den Biographien mehrerer Generationen Linker nicht wegzudenken.

Nach 1989 ist davon wenig übrig geblieben. Die Mobilisierung von über 80.000 Menschen zum Protest gegen den IWF-Gipfel in Berlin im Jahr 1988 kann als letzter großer organisatorischer Erfolg der internationalistischen Linken vor dem Ende der Blockkonfrontation gelten. Danach machte sich in großen Teilen der Linken eine Weltvergessenheit breit, die nur durch wenige Ausnahmen herausgefordert wurde (Stichwort Chiapas-Solidarität, ausgelöst durch den Aufstand der Zapatistas am 1.1.1994). Mit dem Beginn des Bewegungszyklus der globalisierungskritischen Bewegungen um die Jahrtausendwende wurde vielfach die Hoffnung verbunden, dass neue Formen transnationaler Solidarität und Organisierung wieder stärker in linkes Selbstverständnis und linke Praxis eingeschrieben werden könnten. Doch bisweilen scheint es, – so die vorläufige These – als ob die großen Mobilisierungen von Seattle über Genua, Prag, Porto Alegre und die Sozialforen bis hin zu Heiligendamm und Kopenhagen keine breit verankerten, dauerhaften und verbindlichen Organisierungsprojekte in transnationalem Rahmen auf die Beine gebracht hätten. Umso erfreulicher ist es, dass sich das Blatt allmählich wendet – zumindest in antirassistischen sowie klima- und landwirtschaftspolitischen Netzwerken sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Kontakte bzw. Kooperationen entstanden, vor allem zwischen Basisinitiativen in Afrika und Europa. In diesem Artikel soll es um die Fragestellung gehen, wie Gehversuche einer Linken, die an konkreten transnationalen Kooperationen, Organisierungen und Kampagnen interessiert ist, in Zeiten von Klimawandel, europäischem Grenzregime und transnational operierenden Konzernen aussehen könnten.

Dabei wird vor allem auf Erfahrungen der NoBorder-Kampagnen rund um Grenzcamps und Proteste gegen die Grenzschutzagentur Frontex zurückgegriffen, des weiteren auf Solidaritätskampagnen mit migrantischen Landarbeiter_innen (z.B. im Süden Spaniens) sowie auf geplante transnationale Kampagnen mit westafrikanischen antirassistischen Organisationen wie z.B. der in Bamako beheimateten AME („Association Malienne des Expulsés“ - Vereinigung der Abgeschobenen Malis). Diese Auswahl ist nicht zufällig, da die Koordinaten für transnationale Kooperationen von unten zwanzig Jahre nach dem Ende der traditionellen Internationalismus-Bewegung zweifelsohne neu bestimmt werden müssen. Der erste Teil des Artikels soll eine Diskussionsgrundlage für diese Neubestimmung schaffen. Dafür soll auch versucht werden, historisch die Irrungen und Wirrungen sowohl innerhalb der Internationalismus-Bewegungen als auch der Befreiungsbewegungen selbst nachzuzeichnen.

Zur Notwendigkeit der politischen Neuverortung transnationaler Solidarität

Bereits mittels der verwendeten Begriffe im Titel wird es angedeutet: globale Solidarität sollte – 20 Jahre nach dem Ende der traditionellen Internationalismus-Bewegung - politisch neu bestimmt werden: Denn – ohne Wortklauberei betreiben zu wollen – es ist mit Sicherheit ratsam, zu prüfen, was unter Solidarität als der „Zärtlichkeit der Völker“ (Che Guevara) heute eigentlich noch verstanden werden kann. [1] Eine Vielzahl sozialer Kämpfe stellt genau die Identifizierung sozialer Auseinandersetzung nach den Kategorien „Volk“ und „Nation“ in Frage. [2] Durch die Bewegungen und Kämpfe der Migration wurde die Hybridisierung, mithin Auflösung nationalstaatlicher Paradigmen und Begrifflichkeiten in der Linken noch beschleunigt.

Wie bereits angedeutet, ist die Liste der Fehler und Trugschlüsse der alten Internationalismus-Bewegungen lang: [3] Glorifizierung nationaler Befreiungsbewegungen, Fetischisierung des bewaffneten Kampfes, simplifizierende Gut-Böse-Weltbilder mit den USA als Hauptfeind, antisemitisch aufgeladener Antizionismus, fehlender Bezug auf soziale Auseinandersetzungen im Norden sind nur einige Schlagwörter. Zudem musste zur Kenntnis genommen werden, dass es in verschiedenen Ländern, in die die Internationalismus-Bewegungen große Hoffnungen gesetzt hatten, zu monströsen Fehlentwicklungen gekommen war: in Kambodscha, Zimbabwe oder Äthiopien wurde hinreichend deutlich, wozu scheinbar progressiv ausgerichtete Befreiungsbewegungen in der Lage sind – oft schon während des Befreiungskampfes, spätestens aber nach Erlangung der staatlichen Macht.

Allzu oft führte die Parteinahme für die Verdammten dieser Erde zu revolutionsromantischer Heldenverehrung - die soziale wurde mit der nationalen Befreiung verwechselt und gesamtgesellschaftliche Emanzipation blieb auf der Strecke. So hatte beispielsweise die Ideologie des Marxismus-Leninismus im Kontext der Blockkonfrontation zweifelsohne großen Anteil an der Zurückdrängung kosmopolitischer und Pan-Afrikanischer Strömungen innerhalb der afrikanischen Befreiungsbewegungen. Das führte dazu, dass in den 60er Jahren als Konsequenz der Neuordnung der ehemaligen Kolonien in Afrika nach Prinzipien des europäischen Nationalstaats eines der wichtigsten Potentiale der Befreiungsbewegungen auf der Strecke blieb: Die Möglichkeit der Entstehung „einer kosmopolitischen Avantgarde, von alten tribalen Bindungen befreit und im Lichte, oder besser gesagt im Schatten der Herrschaft Europas zu Selbstbewusstsein gelangt“, so Dominic Johnson, Ressortleiter Afrika der TAZ, im INKOTA Rundbrief vom Sept. ’09. Johnson sieht ein großes Problem darin, dass die anfängliche Infragestellung von Grenzen und Staaten durch afrikanische Intellektuelle „durch die Herrschaft autoritärer Avantgarden ersetzt wurde, deren Ehrgeiz sich schließlich darin erschöpfen sollte, die von den Europäern hinterlassenen Strukturen zu bekleiden“ (ebenda).

Von den Solidaritätskomitees wurde allzu leichtfertig das Aufzeigen von Schattenseiten der Befreiungsbewegungen als Schmähung ihres entbehrungsreichen antikolonialen Widerstandes denunziert. Tatsächlich waren und sind Schmähkampagnen gegen revolutionäre Bewegungen im globalen Süden – und nicht nur dort - stets fixer Bestandteil der psychologischen Kriegsführung imperialer Mächte und konterrevolutionärer Strömungen. Fataler Weise trugen diese Propagandafeldzüge allerdings nicht selten dazu bei, dass sich simple Gut-Böse-Schemata auch auf Seiten der Solidaritätsbewegungen radikalisierten und viele Soli-Gruppen aufgrund dieser (selbstverschuldeten) ideologischen Zuspitzung schlichtweg nicht mehr in der Lage waren, kritisch zu bestimmen, wann der revolutionäre Prozess sich in einen hoffnungslosen Bürgerkrieg verwandelt hatte oder aber die Führung der Revolutionär_innen korrupt und skrupellos geworden war.

Beispiele dafür gibt es viele: das Verhältnis der Soli-Bewegungen zur namibischen Befreiungsbewegung SWAPO (South-West Africa People’s Organisation, heute offiziell SWAPO Party of Namibia), zum ehemaligen Revolutionär und heutigen Staatspräsidenten Daniel Ortega und der „Frente Sandinista de Liberación Nacional“ (FSLN) in Nicaragua oder zu den ambivalenten Auswirkungen des Marxismus-Leninismus im Äthiopien der 70er und 80er Jahre, auf die der großartige Film „Teza“ eingeht ( http://www.tezathemovie.com/ ) . In Abgrenzung zu weiten Teilen des traditionellen antiimperialistischen Spektrums gilt es heute, der Erkenntnis zum Durchbruch zu verhelfen, dass nicht jeder Widerstand gegen die imperiale Ordnung emanzipatorisch ist.

Wie vielfach betont wird, sollten daher für kritische Solidaritätspolitik Minderheitenrechte und gemeinhin randständig behandelte Themen unbedingt als Messlatte und Orientierungspunkt dienen. Denn gegenüber frauenfeindlichen oder homophoben Politiken von Seiten linker Regierungen des globalen Süden toleranter zu sein als in Ländern des globalen Nordens führt unweigerlich dazu, das verhängnisvolle Erbe der Analysekategorien des Haupt- und Nebenwiderspruchs fortzuführen und außerdem soziale Kämpfe, die sich mit diesen Themen befassen, schlichtweg nicht ernst zu nehmen. Die Frage der Anerkennung von Rechten von Lesben und Schwulen stellt sich beispielsweise aktuell in Namibia, wo die alte Garde der SWAPO immer wieder offen homophob auftritt. AktivistInnen von namibischen LGBT (lesbian, gay, bisexual and transgender people) -Netzwerken wie dem „rainbow-Projekt“ und „Sister Namibia“ berichten immer wieder, dass ranghohe Politiker_innen des Landes behaupten, dass Homosexualität „unafrikanisch“ sei. Besonders bitter ist, dass in diesem Fall homophobe Angriffe die Zielsetzung verfolgen, aus dem Befreiungskampf entsprechende, auf soziale Ausschlüsse basierende Werte für die postkoloniale Nation abzuleiten (vgl. iz3w Nr. 300, Mai/Juni 2007). Ähnlich ist es in Nicaragua bestellt: Die Regierung Ortega ist seit längerer Zeit bekannt für ihre aktive antifeministische Politik: So unterstützten die Sandinisten 2004 im Parlament den Gesetzesvorschlag der damaligen konservativ-liberalen Regierung zum Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen.

Und dennoch: Bei allen Irrungen und Wirrungen steht fest, dass der Kollaps grenzüberschreitender, globaler linker Praxis nach 1989 ein handfestes politisches Desaster war – und das aus mindestens drei Gründen: erstens weil Herrschaft und Gewalt immer seltener im globalen Zusammenhang betrachtet wurden. Problematisch war insbesondere, dass ein empirisch unterfüttertes Verständnis für das Wechselspiel zwischen gelingender Kapitalakkumulation in den Zentren und aggressiver Peripherisierung ganzer Weltregionen zunehmend flöten gegangen ist. Aber auch konkrete, unmittelbar damit verknüpfte Themen wurden Schritt für Schritt marginalisiert bzw. stillschweigend an NGOs delegiert – ob Hunger, Verschuldung, Umweltzerstörung oder fehlende Gesundheitsversorgung. Zweitens weil Emanzipation und Widerstand nur noch vereinzelt als ein notwendigerweise in transnationalen Organisierungsprozessen verankertes Projekt bestimmt wurden. Schlimmer noch: Die Vielfalt und Stärke sozialer Bewegungen im globalen Süden verschwand weitgehend von der mentalen Landkarte, auch unter Bündnisgesichtspunkten – hinzu kam, dass viele der in den 1970er und 1980er Jahren entstandenen Kooperationen zwischen südlichen und nördlichen Basisinitiativen eingeschlafen sind. (Eine Ausnahme bildete die in den 90er Jahren vergleichsmäßig starke Bewegung PGA – people’s global action). Drittens weil die oftmals apokalyptisch anmutenden Existenzbedingungen in der Peripherie kaum noch als Skandal geschweige denn als Handlungsaufforderung begriffen wurden – weder intellektuell noch emotional. Im Gegenteil: jegliche Ansätze internationalistischer bzw. globaler Solidarität wurden immer öfter, ohne zu differenzieren, als karitativer Schmarren, regressive Kapitalismuskritik oder romantisierende Lobhudelei nationalistischer Befreiungsbewegungen denunziert. Und das nicht zuletzt mit der bitteren Konsequenz, dass die in den 80er Jahren heiß diskutierte Frage zunehmend ins Abseits geraten ist, inwiefern es aus Gründen sozialer und ökologischer Gerechtigkeit geradezu zwingend ist, den materiellen Lebensstandard im globalen Norden massiv abzusenken und umgekehrt eine grundlegende Neubestimmung dessen vorzunehmen, was unter einem gutem Leben und somit unter gesamtgesellschaftlicher Entwicklung als solcher zu verstehen ist.

Politischer Antirassismus, transnationale Gewerkschaftsarbeit und Kämpfe für gerechte Entwicklung als zentrale Bausteine für globale Solidarität

In antirassistischen Zusammenhängen war in den letzten beiden Jahrzehnten der Fokus auf die Situation von Migrant_innen in den so genannten „Aufnahmeländern“ bestimmend. Entsprechend der bewegungspolitischen Ebbe in Sachen transnationaler Organisierung geriet somit zunehmend aus dem Blick, welche Ursachen überhaupt bestimmt werden können, wenn von Flucht und Migration die Rede ist und welche Perspektiven für transnationale Solidarität damit verbunden werden könnten. In migrationspolitischen Zusammenhängen zwischen Europa und Afrika wurde in den letzten Jahren jedoch gegengesteuert. Um eine diskursive Bresche zu schlagen, wurde der Slogan geprägt: „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört.“ [4] Denn ob es sich um den schwindelerregenden „land-grab“ in der DR Kongo, die Überfischung der Küstengewässer vor dem Senegal durch europäische Fischfangflotten, Strukturanpassungsprogramme, erzwungen durch den IWF, Billigimporte von Lebensmitteln aus der EU und nicht zuletzt um die Auswirkungen des Klimawandels auf die kleinbäuerliche Produktion in vielen Ländern des globalen Südens handelt: es ist mehr als naheliegend, dass bei antirassistischen Kämpfen in Europa sowie bei Kampagnen für Bleiberecht und Legalisierung die Umstände, die Menschen dazu zwingen, ihre Länder zu verlassen, in Rechnung gestellt werden müssen. Dabei sollten allerdings keine simplifizierenden pull-push Modelle bzw. klassische antiimperialistische Muster bedient werden. Denn die Forderung nach dem „right to go and right to stay“ ist universell gültig und prinzipiell unabhängig von der ökonomischen Ausgangslage. Oder anders formuliert: Auch ohne Verfolgung und Zerstörung in heutigen „Auswanderungsländern“ werden Menschen immer mobil sein – und das ist gut so. Oben erwähnte transnationale Perspektive auf die Kämpfe im globalen Süden ist gerade deshalb wichtig, weil damit der Raum geöffnet wird, einen solidarischen Bezug zu sozialen Bewegungen in den so genannten Herkunftsländern von Migrant_innen aufzubauen. In diesem Sinne können Kämpfe der Migration als Aneignungskämpfe gesehen werden, die das globale Ausbeutungsgefälle zwischen Süden und Norden herausfordern. Weiters können lokale Kämpfe um den Zugang zu Wasser, Land, Saatgut, Bildung, Mobilität, freie Medien usw., die im globalen Süden geführt werden, auf diese Weise begriffen werden, ohne paternalistische Konzepte traditioneller westlicher NGOs anzuwenden. Dies wurde in den letzten beiden Jahrzehnten eindrucksvoll von der internationalen Kleinbäuer_innen- und Landlosenorganisation „Via Campesina“ gezeigt.

Migrantische Arbeit in den Ländern des Nordens und die „Organisierung der Unorganisierbaren“, in Zusammenhang mit antirassistischen Kämpfen und Legalisierungskampagnen stellen ein weiteres Schlüsselelement für transnationale Zusammenarbeit von unten dar: Beim Thema Arbeit und Migration verdichten sich oftmals globale Ungleichverhältnisse und soziale Antagonismen, die auch auf die Situation in den Herkunftsländern der Migrant_innen rückschließen lassen. Aus diesem Grund ist dieser Themenkomplex für eine Praxis globaler Solidarität auf der Höhe der Zeit in hohem Grad relevant! Rund um den Globus zählen Migrant_innen wohl zu denjenigen Beschäftigten, die dem stärksten Ausbeutungsdruck ausgesetzt sind, und das nicht erst seit dem Beginn der Krise vor mehr als zwei Jahren. In europäischen Gefilden ist diese Tatsache in den Sektoren von Pflegearbeit, Hausarbeit, Hotellerie, Sexarbeit, Gastgewerbe, Reinigungsgewerbe, auf dem Bau oder in der Landwirtschaft seit Jahrzehnten zu beobachten. Charakteristisch für diese Arbeitsverhältnisse ist die relative rechtliche Schutzlosigkeit der Lohnabhängigen aufgrund von diskriminierendem Aufenthaltsstatus oder fehlenden Papieren und die daraus resultierende Abhängigkeit vom Gutdünken der Arbeitgeber_innen. Profit wird geschlagen auch aus der Unsicherheit und Unkenntnis der mitunter undokumentiert Arbeitenden - Sozialabgaben oder gleich der ganze Lohn wird einbehalten, selbst minimale Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz werden ignoriert - das ist es, was migrantische Arbeit neben der ohnehin üblichen Unterbezahlung so günstig macht. Werden steuerliche oder migrationspolitische Maßnahmen einzelner Staaten darauf ausgerichtet, geschickt mit der Ware migrantischer Arbeitskraft zu spekulieren und wenig oder keine Zugeständnisse in Bezug auf die rechtlichen Gleichstellung von Migrant_innen zu machen, steigt die internationale Wettbewerbsfähigkeit.

Angesichts dieser Verhältnisse wirkt es geradezu grotesk, das europäische Gewerkschaften – bis auf wenige Ausnahmen – bisher nicht in der Lage waren, die Herausforderung transnationaler antirassistischer Organisierung als ein zentrales Projekt ihrer Politik zu begreifen! Die südspanische Provinz Almería gilt zurecht als der Ort, an dem die genannten Auseinandersetzungen besonders bedeutsam sind. Die Landarbeiter_innen-Gewerkschaft SOC (Sindicato de los Obrer@s del Campo) arbeitet in Almería seit 10 Jahren daran, die Arbeitsbedingungen für die häufig illegalisierten Arbeiter_innen in der Gemüseproduktion vor Ort zu verbessern - und bekämpft den lokalen Rassismus. Außerdem versucht sie, gewerkschaftliche Verbindungen in die Herkunftsländer der Migrant_innen zu knüpfen. Die SOC gilt damit zurecht als Pionierin der antirassistischen Gewerkschaftsarbeit, weshalb ihre Ansätze europaweit diskutiert und auch aufgegriffen werden (vgl. u.a. http://www.noborder.org/crossing_borders/newsletter07de.pdf ).

Zentral ist dabei die Tatsache, dass die hauptamtlichen SOC-Gewerkschafter_innen meist selbst migrantischen Hintergrund haben (sie stammen aus Marokko, Argentinien und dem Senegal) , die jeweiligen Sprachen der Arbeiter_innen sprechen und zudem selbst, oft über Jahre, in den Gewächshäusern der Region schufteten. Laut Schätzungen der Gewerkschaft, die im Vergleich zu den zwei großen Gewerkschaften CC.OO (Comisiones Obreras) und UGT (Unión General de Trabajadores) als marginalisiert bezeichnet werden kann und keine öffentlichen Förderungen erhält, arbeiten im berüchtigten „Plastikmeer von Almería“ ca. 150.000 migrantische Landarbeiter_innen aus afrikanischen, osteuropäischen und lateinamerikanischen Ländern. Sie pflegen, ernten und verpacken das Gemüse, das in den Supermärkten Europas vor allem während der Wintermonate verkauft wird. Insgesamt schätzt die SOC die Ausdehnung der Gewächshäuser in Almeria auf 35.000 ha, womit Almería mit Abstand die größte zusammenhängende Fläche von Plastikgewächshäusern in Europa besitzt. In der Hauptsaison rollen täglich bis zu 1000 LKWs Richtung Supermärkte in den Norden Europas.

Seit dem Beginn des Engagements der Gewerkschaft nach den rassistischen Ausschreitungen, die im Februar 2000 in der Region stattgefunden hatten, wird die kleine lokale SOC-Gruppe auch von einem breiten Bündnis an Solidaritätsgruppen und Gewerkschaften aus ganz Europa unterstützt, allen voran vom Europäischen BürgerInnenforum (EBF - http://www.forumcivique.org/ ). Dies vor allem aus dem Grund, weil der Gemüseanbau in Almería und die Beschäftigung von migrantischen Landarbeiter_innen als „neuralgischer Punkt“ der europäischen Landwirtschaft bezeichnet werden kann. Die Produktion von Gemüse und Obst in der Region ist nicht nur hyper-intensiv, sondern auch hochgradig prekär und krisenhaft: das reicht von der Unsicherheit der Preisentwicklung durch die scharfe Konkurrenz über die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, vor allem des Wassers, bis hin zur Widerspenstigkeit der Arbeiter_innen.

Die Produktionsbedingungen in Almería sind allerdings auch „paradigmatisch“ für den gesamten Sektor der industriellen Gemüseproduktion in Europa - sie haben in Almería lediglich ihr extremstes Ausmaß gefunden. Als weiteres, nur allzu offensichtliches Beispiel für rassistische Überausbeutung kann die Situation der afrikanischen Mandarinenpflücker_innen im süditalienischen Rosarno gelten (vgl. grundrisse Nr. 33: „Die Mandarinen und Oliven fallen nicht vom Himmel!“). Das Beispiel Almería zeigt, dass transnationale Solidarität sich heute nicht zwangsläufig einseitig zwischen Ländern des globalen Nordens und des globalen Südens abspielen muss. Vielmehr wird gerade durch die selektive Inklusion von Migrant_innen als Arbeitskräfte in die Ökonomie wohlhabender Länder eine neue „globale Apartheid“ geschaffen, die mit sich bringt, dass an unterschiedlichsten Orten des Globus Verdichtungen von enormen Ungleichverhältnissen festgestellt werden können – so in Almería, wo zehntausenden Arbeiter_innen elementarste Rechte vorenthalten werden. Damit sollte auch der These Beachtung geschenkt werden, dass es überall auf der Welt „Peripherien“ und „Zentren“ gibt – ungeachtet der weiterbestehenden, grundsätzlich asymmetrischen Nord-Süd-Verhältnisse, mit der Integration der meisten afrikanischen Länder auf der untersten Stufenleiter internationaler Arbeitsteilung.

Des Weiteren ist es im Kontext der Neuverortung transnationaler Organisierung mehr als notwendig, sich umfassend der Ökologiefrage und der Kritik am ökonomischen Wachstum im Kontext von Nord-Süd-Verhältnissen zu widmen. Dabei sollte der Verquickung von Wirtschaftswachstum und unnachhaltigem Konsum besondere Beachtung geschenkt werden. Ulrich Brand hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „imperialen Lebensweise“ geprägt: Imperiale Lebensweise „basiert auf einer für viele — herrschende, aber auch beherrschte — Menschen in den Gesellschaften des globalen Nordens materiell und kulturell vorteilhaften Einbindung in die internationale Arbeitsteilung.“ (Brand, Lösch, Thimmel 2007: 67; ABC der Alternativen, VSA). Denn grundsätzlich kann festgestellt werden, dass die Stabilität asymmetrischer Nord-Süd Verhältnisse erst vor dem Hintergrund der Einbeziehung weiter Teile der subalternen Klassen der OECD-Länder in bestimmte Konsummuster, die auf Kosten subalterner Klassen in Ländern des globalen Südens gehen, erklärt werden kann.

Dies ist für die Zeit des Fordismus mit seinem breiten Klassenkompromiss und der exponentiellen Steigerung des Wohlstands in westlichen Ländern unbestritten. Doch auch heute ist die Grundaussage noch hochgradig relevant: Weite Teile des Proletariats/Prekariats des Nordens haben mehr zu verlieren ihre Ketten: Nämlich eine gewisse privilegierte Position in der internationalen Arbeitsteilung. Politisch bleibt es eine wichtige Herausforderung, zu thematisieren, zu welchem Grad Lohnabhängige, prekär arbeitende und Arbeitslose in unterschiedlichen Teilen der Welt von Angriffen des Kapitals sowie von den destruktiven Auswirkungen des Kapitalismus auf Umwelt und natürliche Ressourcen unterschiedlich betroffen sind - ohne die verschiedenen Segmente des globalen Proletariats gegeneinander auszuspielen. Eine global orientierte Linke wird aber nicht umhin kommen, sich der Tatsache zu stellen, dass in Industrieländern ungleich mehr Treibhausgase ausgestoßen werden als anderswo, während die Folgen des Klimawandels zuerst in Ländern des globalen Südens spürbar sind!

Aus diesen Gründen wird die Herausforderung eines solidarischen Nord-Süd-Verhältnisses in Zukunft die Frage betreffen, ob es gelingt, in demokratischen Prozessen mehrheitsfähig zu machen, dass Bewohner_innen reicher Länder ihren ökologischen Fußabdruck verkleinern – Stichwort Klimagerechtigkeit. Das betrifft neben Fragen der Ernährung – Stichwort Fleischkonsum - vor allem Fragen der Mobilität. Denn Angesichts des Klimakillers Individual- und Flugverkehr sollte dringend über alternative Formen des Transports jenseits von Auto und Flugzeug nachgedacht werden, um die Forderung nach globaler Bewegungsfreiheit – so es gelingt, sie wahr werden zu lassen – nicht zu einem ökologischen Desaster zu machen. Dabei sollte selbstredend die Verantwortung für Co2 Ausstoß nicht individualisiert werden, oder, noch schlimmer, der Klimawandel als Argument verwendet werden, um den Massen im Süden das Recht auf Mobilität zu verweigern. Viel mehr sollte es gelingen, radikal demokratische Prozesse im globalen Maßstab anzuleiern, bei denen es zunächst gelingt, die Forderungen nach Bewegungsfreiheit und Klimagerechtigkeit zusammen zu denken. Diese Forderungen sollten in die bestehenden – oder neu zu schaffenden – Institutionen eingeschrieben werden, sodass die Nord-Süd-Schere beim globalen Fußabdruck sich schließt, bei gleichzeitiger Senkung der ökologischen Gesamtbelastung des Planeten. Dieses Crossover-Projekt von Klimagerechtigkeit und Bewegungsfreiheit ist wohl eine der wichtigsten und komplexesten Herausforderungen für transnationale Organisierungsarbeit auf der Höhe der Zeit. Anhand eines konkreten Beispiels transnationaler Organisierung sollen diese Überlegungen nun praxisnah ausbuchstabiert werden.

Transnationale Kampagnen zwischen Europa und Afrika: Die „Karawane für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung“ von Bamako zum Weltsozialforum nach Dakar

In der Entwicklung migrationspolitischer aktivistischer Zusammenhänge zwischen Europa und Afrika markierte das Jahr 2005 einen tragischen Wendepunkt: damals stürmten hunderte Migrant_innen aus Ländern südlich der Sahara die Grenzzäune der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Mehrere Menschen starben durch die Kugeln spanischer und marokkanischer Grenzpolizisten. In den fünf Jahren nach diesem Ereignis haben sich in Marokko vielfältige zivilgesellschaftliche Strukturen herausgebildet, von Sans Papiers-Organisationen nach dem Vorbild französischer Gruppen bis hin zu linken NGOs wie der ABCDS (Association Beni Znassen pour la Culture, le Développement et la Solidarité) in der ostmarokkanischen Stadt Oujda, die nach dem Jahr 2005 hunderte Flüchtlinge, die an die algerische Grenze rückgeschoben wurden, aufgenommen hat. In Mali kämpft die bereits erwähnte Organisation AME, die unter anderem von der Hilfsorganisation medico international unterstützt wird, unter ähnlichen Vorzeichen. Dass das Thema Migration und Menschenrechte an der Schnittstelle zwischen (West)Afrika und Europa auch in der hiesigen öffentlichen Debatte an Brisanz gewonnen hat, zeigen u.a. breit rezipierte journalistische Arbeiten von Corinna Milborn („Gestürmte Festung Europa“) oder Fabrizio Gatti („Bilal – als Illegaler auf dem Weg nach Europa“).

In den letzten Jahren hat sich die Zusammenarbeit zwischen den genannten Organisationen im Süden und bewegungspolitisch orientierten NGOs und aktivistischen Zusammenhängen in Europa intensiviert. Gemeinsame Stationen waren beispielsweise das polyzentrische Weltsozialforum im Jänner 2006 in Bamako/Mali, die breit angelegten Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007, das Klima- und Antira- Camp in Hamburg im August 2008, das NoBorder Camp in Lesvos im August 2009, die Mobilisierungen zum Klimagipfel in Kopenhagen, das antirassistische und antikoloniale Festival in Jena Anfang Juni 2010, das „in Erinnerung an die Toten der Festung Europa“ veranstaltet wurde, sowie das NoBorder Camp in Brüssel, das Anfang Oktober dieses Jahres stattfand.

Anfang nächsten Jahres soll die transnationale Vernetzung antirassistischer Initiativen zwischen Europa und Afrika in die nächste Etappe gehen: Vom 23. Januar bis 12. Februar 2011 wird eine Karawane für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung von Bamako/Mali nach Dakar/Senegal unterwegs sei – mit dem 11. Weltsozialforum in Dakar als letzter Etappenstation. Erwartet werden zwischen 200 und 400 Beteiligte, überwiegend aus afrikanischen Ländern. Geplant sind mehrere Aktionen, unter anderem gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex, zudem sollen öffentliche Versammlungen in Dörfern und Städten entlang der Strecke abgehalten werden.

Mali – politischer Hintergrund und Ausgangssituation

In Westafrika ist die soziale Lage für große Teile der Bevölkerung hochgradig prekär – eine Feststellung, die nicht über die zum Teil erheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern der Region hinwegtäuschen sollte. Stichwortartig sei dies am Beispiel Malis verdeutlicht – also jenem Land, das im Zentrum der Bamako-Dakar-Karawane stehen wird: Auf dem Human Development Index der Vereinten Nationen belegt Mali den 178. Platz, dahinter kommen nur noch die Zentralafrikanische Republik, Sierra Leone, Afghanistan und der Niger. Über 60% der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, 33% der Kinder unter 5 Jahren sind unterernährt, gerade mal 50% der Menschen haben Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 53 Jahre, 75% der über 15-Jährigen können nicht lesen und schreiben. Die Gründe für derart desaströse Sozialindikatoren sind ausgesprochen vielschichtig. Jenseits der immer noch gewichtigen Erbschaft des Kolonialismus sind unter anderem folgende Problemkomplexe zu berücksichtigen: erstens die neoliberalen, seit den 1980er Jahren lancierten Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank, denen die bis heute ungelöste Verschuldungsproblematik nicht nur Malis zugrundeliegt; zweitens die im Rahmen des WTO-Prozesses mehr oder weniger erzwungenen Privatisierungen und Marktöffnungen (bereits seit Jahren wird zwischen Afrika und der EU um die Implementierung der so genannten EPAs/Economic Partnership Agreements gerungen); drittens die Agrarpolitiken der EU und der USA, insbesondere die Praxis der Exportsubventionen; viertens die in ihrem wahren Ausmaß noch überhaupt nicht abschätzbaren Konsequenzen des Klimawandels auf Afrika. Hinzu kommen (vermeintlich) interne Ursachen wie etwa die Instrumentalisierung staatlicher Macht zur persönlichen, oft klientelistisch organisierten Bereicherung seitens der politischen Eliten.

Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass ca. 25% der 12 Millionen Malier_innen als Arbeitsmigrant_innen außerhalb des Landes leben – in Westafrika genauso wie in Europa. Wie bedeutsam die von ihnen jährlich zurückgeschickten ca. 300 Millionen Euro sind, zeigt ein simpler Vergleich: die Summe beträgt weit mehr als die offizielle Entwicklungshilfe, ja sie macht sogar mehr als die Hälfte der Exporteinnahmen Malis aus. Um so katastrophaler ist es, dass die EU schon seit Jahren den Zuzug (nicht nur) afrikanischer Migrant_innen mit nahezu allen Mitteln einzudämmen versucht – denn erwünscht sind lediglich Spezialist_innen wie Krankenschwestern oder Ärzt_innen sowie ein relativ kleiner ’Bodensatz’ flexibler Billigarbeitskräfte – unter anderem für die (südeuropäische) Landwirtschaft.

Das von der EU praktizierte Migrationsmanagement kommt einerseits in immer repressiveren Gesetzen, Durchführungsbestimmungen und Überwachungstechnologien zum Ausdruck, andererseits in der ständigen Vorverlagerung des EU-Grenzregimes. Stellvertretend seien erwähnt: (1) Charter-Abschiebungen – insbesondere nach Afrika; (2) Botschaftsvorführungen zum Zwecke der Identitätsfeststellung; (3) EU-finanzierte Auffanglager in der Ukraine, Libyen oder Mauretanien; (4) Überwachung innerafrikanischer Grenzen mit EU-finanzierter Technik – betroffen sind beispielsweise sämtliche 17 Grenzübergänge von Mali nach Mauretanien bzw. Algerien; (5) Koppelung von Entwicklungshilfe an die Bereitschaft afrikanischer Regierungen, Rückübernahme- bzw. Abschiebeabkommen mit der EU zu unterzeichnen; (6) systematische Überwachung sämtlicher Seewege in die EU einschließlich Abdrängung aufgespürter Flüchtlingsboote – nicht zuletzt durch Einheiten der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Die genannten und weitere Maßnahmen stellen eine systematische Verletzung asyl- und menschenrechtlicher Mindeststandards dar. Sie haben des weiteren seit Beginn der 90er Jahre mehreren zehntausend Menschen das Leben gekostet. Allein dieser Umstand sollte Grund genug sein, sich für einen gänzlich anderen Umgang mit Migration einzusetzen, womit bereits die Frage der von der Karawane verfolgten Zielsetzungen erreicht wäre.

Entsprechend der weiter oben vorgeschlagenen inhaltlichen Neu-Ausrichtung globaler Solidaritätsarbeit sollen während der Karawane mindestens vier Punkte zur Sprache kommen:

  • Erstens die Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen in den Transitländern (Niger, Mauretanien, Marokko, Lybien etc.) genauso wie an den Außengrenzen (Ceuta und Melilla, Türkei, die griechischen Inseln etc.)
  • zweitens strukturelle Hintergründe von Flucht und Migration, insbesondere die Zerstörung kleinbäuerlicher Landwirtschaft sowie die Auswirkungen des Klimawandels auf (West)Afrika. Hier wird es vor allem um die Kritik an der Cash-Crop Produktion von Baumwolle und Erdnüssen gehen. Da bei der Karawane auch ein aus dem Senegal stammender Gewerkschafter der SOC teilnehmen wird, steht hier auch die gewerkschaftliche Vernetzung von Arbeitsmigrant_innen auf der Tagesordnung.
  • drittens der bedrohliche Uran-Abbau in mehreren westafrikanischen Ländern, der v.a. der aktuellen Energiepolitik europäischer Länder nutzt. Das Europäische BürgerInnenforum, das mit einigen Aktivist_innen an der Karawane beteiligt sein wird, unterstützt schon seit längerem den Protest des west-malischen Dorfes Falea gegen den geplanten Uran-Abbau in unmittelbarer Nähe seiner Siedlungen. Im Niger haben ähnliche Projekte bereits schlimme Auswirkungen gezeitigt - beispielsweise in der Stadt Arlit die ohnehin niedrige Lebenserwartung auf 40 Jahre gedrückt (vgl. http://www.rbb-online.de/kontraste/index.html )
  • viertens die konkrete Arbeit der AME: in der sozialen, rechtlichen und medizinischen Unterstützung von Abgeschobenen – nicht zuletzt in Hinblick auf den Prozess der Reintegration von Abgeschobenen, in der politischen Arbeit gegen das EU-Migrationsregime und im Aufbau selbstbestimmter Entwicklungsperspektiven für Mali, etwa im Bereich ökologischer Landwirtschaft (vgl. auch die Webseite der AME: http://www.expulsesmaliens.info/ ).
  • fünftens die Situation von (afrikanischen) Flüchtlingen und Migrant_innen in Europa – entlang von Stichworten wie Lagerpolitik, rassistische Polizeigewalt oder prekäre Arbeitsverhältnisse (siehe Abschnitt zu Almería). Dieser Part wird v.a. von den Gruppen aus Europa bestritten, wobei ein großer Teil der Beteiligten aus Initiativen migrantischer Selbstorganisation stammt. [5] Die Realität der europäischen Flüchtlingspolitik soll allerdings nicht zum Thema gemacht werden, um Menschen davor abzuschrecken, ihr Land zu verlassen. Vielmehr soll es darum gehen, über die aktuellen Auseinandersetzungen rund um Asyl- und Migrationspolitik zu informieren und v.a. auch die Kämpfe von Flüchtlingen und Migrant_innen in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen. Dadurch soll es gelingen, die transnationalen Verbindungen zwischen afrikanischen Migrant_innen in Europa in ihre Herkunftsländer, die ohnehin in vielfältiger Weise bestehen, sowie zwischen Basisinitiativen da und dort politisch zu stärken.

Aktionen sind (bislang) drei geplant: erstens gegen das EU-finanzierte Migrationszentrum CIGEM in Bamako (eine Einrichtung, die in erster Linie gegen unerwünschte Migration gerichtet ist); zweitens gegen illegale bzw. völkerrechtswidrige, ebenfalls EU-finanzierte Rückschiebungen von Mauretanien nach Mali (es handelt sich um Migrant_innen und Flüchtlinge aus Subsahara-Ländern, die bei ihrem – mutmaßlichen – Versuch festgenommen wurden, in Boote gen Europa einzusteigen); drittens gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex in Dakar. Jenseits dessen werden an den einzelnen Stationen der Karawane politische Versammlungen mit der lokalen Bevölkerung stattfinden – sowohl zu den Hintergründen von Flucht und Migration als auch zur Situation von Flüchtlingen und Migrant_innen in den Transitländern bzw. der EU. Der genaue Zuschnitt dieser Versammlungen wird von Aktivist_innen der AME zusammen mit den lokalen Vorbereitungskomitees ausgearbeitet – nicht zuletzt unter Berücksichtigung der je spezifischen Interessenlagen (so wird es im senegalesischen Kaolack eine Versammlung zu afrikanischem Feminismus und Migration geben). In diesem Zusammenhang sollte im Übrigen auch beachtet werden, dass sämtliche Aktivist_innen der AME selbst Abschiebeerfahrungen durchlaufen haben. Der von der AME ins Spiel gebrachte Vorschlag zu migrationsbezogenen Versammlungen (auch unter Beteiligung von afrikanischen Aktivist_innen, die heute in Europa leben), ist also ein strategisches Konzept, das aus der Selbstorganisierung afrikanischer Migrant_innen hervorgegangen ist.

Ob Migration, Landwirtschaft oder Klima, die Bamako-Dakar-Karawane soll lediglich einen ersten Schritt in dem langfristig angelegten Bemühen darstellen, transnationale Netzwerke zwischen sozialen Basisbewegungen in Afrika und Europa aufzubauen. Hintergrund ist die prinzipielle Überzeugung, wonach sich an den historisch gewachsenen Ungleichheits-, Macht- und Dominanzverhältnissen langfristig nur etwas ändern lässt, wenn soziale Bewegungen in großem Stil gleichberechtigt, verbindlich und direkt (also nicht nur über über einzelne Delegierte ’vermittelt’) zusammenarbeiten. Dabei sollte der Entwicklung gemeinsamer Analysen, Strategien und Visionen besondere Bedeutung zugeschrieben werden. Denn nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökologischen Gründen ist es heute dringlicher denn je, eine umfassende Neubestimmung dessen vorzunehmen, was unter einem guten Leben und somit unter einer wünschenswerten gesamtgesellschaftlichen Entwicklung an sich zu verstehen ist – im Norden genauso wie im Süden des Globus.

Die Karawane für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung ist aufgrund der großen Anzahl an Teilnehmer_innen mit prekärem finanziellen background dringend auf der Suche nach weiteren Unterstützer_innen. Aus diesem Grund sind Spenden sehr willkommen. Mehr infos dazu finden sich auf http://www.afrique-europe-interact.net/

Bankverbindung:

Zusammenleben e.V.
c/o J. Hackert
IBAN: DE60120300000011505096
Swift/BIC: BYLADEM 1001

Zum Weiterlesen:

[1Eine prinzipielle Kritik des Internationalismus nimmt Schandl (2003) vor: „Der Internationalismus dehnt das Nationale nur international aus. Anstatt es hier wie dort konsequent zu negieren, werden Begrenzungen und Schranken schmackhaft gemacht, d. h. ontologisiert, und eben nicht als vergänglich und überwindenswert aufgefasst.“ http://www.streifzuege.org/2003/transnational-statt-internationalistisch)

[2Hier müssen jedoch regionale Unterschiede in Rechnung gestellt werden – auch politisch: Der in Lateinamerika immer noch beliebte Demo-Spruch, dass das vereinigte „Volk“ nicht zu besiegen sein wird („El pueblo unido jamás será vencido!“) lässt sich in eine linke Tradition stellen - auf mitteleuropäische Verhältnisse bezogen formuliert dieser Satz hingegen nichts anderes als eine Schreckensvision. (vgl. Jens Petz Kastner: „Fallen lassen! Anmerkungen zur Repressionshypothese“ in grundrisse Nr. 19)

[3Wenn es um die Internationalismus-Bewegungen geht, sollte allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass es sich zu keinem Zeitpunkt um ein homogenes Gebilde gehandelt hat: Zu berücksichtigen ist nicht nur, dass es stets unterschiedliche, sich vielfältige überlappende Strömungen gegeben hat – von Antiimperialist_innen unterschiedlicher Couleur über Moskau-treue Traditionskommunist_innen, die Kirchen, das BUKO-Spektrum bis hin zu autonomen bzw. sozialrevolutionären Strömungen, letztere vor allem im Rahmen der Mobilisierung gegen den IWF-Gipfel 1988 in Berlin. Viele der im neueren Internationalismus während der 80er Jahre vorgenommenen Richtungsänderungen sind schließlich seit 1994 durch den Aufstand der Zapatistas in Mexico nochmal auf ein völlig neues Niveau gehoben worden – insbesondere durch ihre Weigerung, die Erringung staatlicher Macht als emanzipatorische Zielsetzung zu betrachten (vgl. Phase 2, Nr 37, 09/2010, Interview mit Olaf Bernau/NoLager, transact!)

[4Dabei sollte nicht allerdings nicht vergessen werden, dass die meisten Migrant_innen aus dem globalen Süden nicht in Europa oder Nordamerika, sondern in ihrer „Herkunftsregion“ oder als Binnenflüchtlinge in den großen Städten leben. Es gibt also bei weitem mehr „Süd-Süd“ als „Süd-Nord“-Migration. Des weiteren können die angesprochenen asymmetrischen Verhältnisse nicht mehr in einem klassisch antiimperialistischen Raster im Zuschnitt der 1970er Jahre betrachtet werden, zumal es zwischen Ländern, die ehemals dem „Trikont“ zugerechnet wurden, erhebliche Unterschiede gibt; dies v. a. in Bezug auf ihre Position im geopolitischen Gefüge bzw. der Rolle ihrer Wirtschaft in globalen Wertschöpfungsketten und der internationalen Arbeitsteilung – das zeigt der Aufstieg von Ländern wie China, Indien oder Brasilien.

[5Beteiligte Gruppen sind u.a. die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen, NoLager Bremen, transact!, The Voice Refugee Forum, Oury Jalloh-Initiative, Brandenburger Flüchtlingsinitiative, kein mensch ist illegal Hanau, Antirassistisches Plenum Blankenburg-Oldenburg, Flüchtlingsrat Hamburg sowie Europäisches BürgerInnenforum.

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