Grundrisse, Nummer 10
Juni
2004

Zwei Fabeln von Don Durito

Die Liebe und der Kalender

18. September 1996

Auf einem Wolkenhäubchen trieb eine Flasche und verfing sich in den Zweigen einer Ceiba. Behutsam näherte ich mich — ein Fall aus diesen Höhen würde einen ähnlichen Aufschrei wie die Wirtschaftskrise von 1988 verursachen — und packte sie. Sie enthielt, wir Ihr Euch vorstellen könnt, eine Botschaft. Ich nahm diese heraus und fand den folgenden Brief Duritos:

Mein lieber, dekadenter Cyrano!

Eben mußte ich wieder erfahren, daß Du ein Gefangener der Ceibakrone bist. Dergleichen geschieht, weil Du Dich von Deinem Spiegel- und Aufwärtsfallen-Nonsense irreführen läßt. Ich kann Dich jetzt einfach nicht retten. Ich bin sehr mit dem zweiten Teil der Geschichten für eine Nacht des Erstickungstodes beschäftigt, die ich in Geschichten für schlaflose Einsamkeit umbenannt habe. Hier also ein Auszug, damit Du Dich nach einem Verleger für mich umsehen kannst.

Die Liebe und der Kalender

Es war einmal ein Mann, der kam zu allem zu spät. Und das nicht, weil er faul oder langsam, oder weil seine Uhr nachgegangen, oder weil es eine schlechte Angewohnheit gewesen wäre. Dies geschah, weil der Mann in einer anderen Zeit lebte. Das stimmt zwar nicht ganz, aber annähernd. Stand am Kalender September, wachte er an einem Aprilmorgen auf. Daher fiel sein Frühling nie mit dessen Unwahrscheinlichkeit zusammen. Andererseits gehorchte der Tod den Zeitläuften und teilte ringsum Abwesenheit für immer aus, jedesmal die gezählten Tage und Nächte eines Menschen vorüber waren. Aber weil dieser Mann nie rechtzeitig war, versäumte er unentwegt seine Todesstunde — und fand sie nicht, weil der Tod dem Kalender folgte. Der Tod wußte nur, daß er im Zustand des Aufschubs lebte, daß dieser Mann, der längst tot sein sollte, wegen seiner chronischen Verspätung immer noch lebte. Dieser Mann wurde des Lebens und Gehens, die ein und dasselbe sind, überdrüssig und begann, um sterben zu können, den Tod zu suchen. Und so gingen Zeit und Unzeit aneinander vorbei, der Tod erwartete die Ankunft des Mannes, um ihn mitnehmen zu können, und der Mann erwartete die Ankunft des Todes, um sterben zu können. Es gibt keinen Tag im Kalender, an dem diese beiden Zeiten einander finden könnten.

Tam-tam

Was meinst Du? Schon gut, spare das Lob für später. Gut, ich verschwinde. Ich schreibe Dir später, mein dekadenter, großnasiger Schildknappe.

Don Durito aus Lakandonien

P.S. Vergiß nicht, die Pinne festzuhalten. Man sagt, ungeheure Stürme seien im Anmarsch.

Hier endet Duritos Brief. Kein Kommentar.

Noch eine Wolke, noch eine Flasche und noch ein Brief von Durito

30. September 1996

Mein geliebter, verfolgter und bedrohter Cyrano!

Ich habe Dir mitzuteilen, daß Deine Zeit ausläuft. Diese Ceiba ist eine vortreffliche Zielscheibe für Mörser, Granatwerfer, Kanonen und Maschinengewehre – von Satelliten ganz zu schweigen. Am Ende dieses Briefes wirst Du ein unfehlbares Rezept zum Abstieg aus der Ceiba finden. Befolgst Du es Wort für Wort, wirst Du schnell runterkommen.

In der Annahme, daß Du nicht mehr lange da oben verweilen wirst, und daß du kein, sagen wir, attraktiver Kunde für Lebensversicherungen bist, schlage ich vor, daß Du Dich um die nötigen Verbindungen in Sachen Veröffentlichung meines neuen Buches bemühst, Geschichten für schlaflose Einsamkeit. Da die Zeit knapp wird, schicke ich Dir hier und jetzt einen weiteren Auszug aus einem besonderen Teil namens Geschichten, um schwanger zu werden. Das spricht absolut für sich; Du mußt nur lesen. Also:

Die Geschichte von den Magischen Schokohasen (Neoliberalismus, Hasenlibido und Kinder)

(Duritos Hommage an die Western von — erinnert Ihr Euch an The Good, the Bad, and the Ugly?)

Es waren einmal drei Kinder. Eines war gut, das andere schlecht und das dritte El Sup. Aus verschiedenen Richtungen kamen sie an ein Haus und traten ein. Im Inneren befand sich nur ein Tisch. Am Tisch standen Plastikbehälter, wie sie für Eis und Cremes verwendet werden, für jedes Kind einer. In jedem dieser weißen Plastikbehälter (man beachte: ohne Markenname oder Logo) befanden sich zwei Schokohasen und ein Zettel. Darauf stand:

Gebrauchsanweisung für Zwei Schokohasen

Nach 24 Stunden wird sich dieses Schokohasenpaar reproduzieren und ein neues Hasenpaar erzeugen. Von da an werden sich die Schokohasenpaare in diesem weißen Plastikbehälter alle 24 Stunden in neue Paare vervielfachen. So wird der/die Besitzer/in dieses magischen Plastikbehälters immer Schokohasen zu essen haben. Die einzige Bedingung: Es muß sich immer zumindest ein Schokohasenpaar in diesem Plastikbehälter, wie er für Eis und Cremes verwendet wird, befinden.

Jedes Kind nahm seinen weißen Plastikbehälter.

Das schlechte Kind konnte keine 24 Stunden warten und verzehrte seine zwei Schokohasen. Es genoß den Augenblick, hatte aber keine Schokohasen mehr. Nun ist nichts davon übrig, aber ihm bleibt die verklärte Erinnerung an die Schokohasen.

Das gute Kind wartete 24 Stunden zu und wurde mit vier Schokohasen belohnt. 24 Stunden später hatte es schon acht Schokohasen. Die Monate zogen ins Land, und das gute Kind eröffnete eine Kette von Schokohasenkaufhäusern. Ein Jahr später hatte es Filialen im ganzen Land. Es wurde von fremdem Kapital unterstützt und begann zu exportieren. Schließlich wurde es zum „Mann des Jahres“ gekürt und unbeschreiblich reich und mächtig. Schließlich verkaufte es fremden Investoren seine Anteile an der Schokohasenindustrie und wurde in den Aufsichtsrat der Firma gewählt. Um die Profite nicht zu gefährden, kostete es niemals auch nur einen Schokohasen. Nun besitzt es weder den magischen weißen Plastikbehälter, noch hat es eine Ahnung vom Geschmack der Schokohasen.

Das Kind El Sup gab — anstelle der Hasen — Haselnußeis in die weißen Plastikbehälter, wie sie für Eis und Cremes verwendet werden. Die gesamte Voraussetzung der Geschichte verändernd – er verschloß einen halben Liter Walnußeis unter dem Deckel –, verdarb es die Moral der Geschichte von den Schokohasen, woraus folgt, daß alle endgültigen Optionen eine Falle sind.

Neo-Moral: Haselnußeis kann dem Neoliberalismus schaden.

Verständnisfragen:

  1. Welches der Kinder wird Staatspräsident?
  2. Welches der Kinder wird einer Oppositionspartei angehören?
  3. Welches der Kinder sollte für die Übertretung des Gesetzes für Dialog, Versöhnung und Frieden in Würde in Chiapas getötet werden?
  4. Für Frauen: Würden Sie eines dieser drei Kinder zur Welt bringen wollen?

Antworten an Huapac Blatt Nummer 69, Kopien ans Innenministerium und an die Cocopa. [1]

Tam-tam

Na, was hältst Du von der Geschichte? Komm schon, schäme Dich nicht, sie großartig zu finden! Ich hoffe, Du findest einen wirklich verständigen Verleger, einen der Sorte, die mit Carlos Monsivais [2] und ähnlichen Leuten zusammenarbeitet. Vale.

Don Durito aus Lakandonien

P.S.

Ich habe beinahe die Anweisungen vergessen, wie Du aus der Ceiba runterkommst. Es ist denkbar einfach, folge einfach den ... Anweisungen zum Runterkommen aus der Ceiba. Bist Du sicher, daß Du nicht runterkommen willst? Geh‘ mit geschlossenen Augen bis ans Ende der Blätter. Sei furchtlos (zugegeben, ein guter Fallschirm wäre angenehmer). Bald wirst Du Dein Ziel erreicht haben (?).

[1Comisíon de Concordia y Pazificacion / Nationale Kommission für Eintracht und Friedensstiftung: parlamentarisches Vermittlungsgremium aus Regierungsmitgliedern aller Parteien

[2Carlos Monsivais, geboren 1935, bekannter mexikanischer Schriftsteller, der auch viel über Chiapas geschrieben hat

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