MOZ, Nummer 54
Juli
1990
Kinderarbeit in Süditalien:

Zwischen Familie und Mafia

Zehntausende Kinder schuften in Garagen und Kellerlöchern, anstatt zur Schule zu gehen. Autoscheiben putzen, Jeans nähen, betteln ... der karge Lohn wandert meist direkt ins Familienbudget, nachdem die Mafia ihre Schutzgebühr eingestreift hat.

Für die Zustellung von ca. 100 Liter Mineralwasser bekommt der Junge 500 Lire
Fotos: Dario Santangelo

„Süditalien? Das gehört nicht mehr zur 5. Industrienation der Welt, zum EG-Land Italien — Süditalien, das ist bereits ‚3. Welt‘!“ Diese im Norden, und nicht nur unter den Lega-Lombarda-Wählern, weitverbreitete Meinung, so diskriminierend sie auch sein mag, ist nicht ganz unbegründet. Neapel, die „Hauptstadt des Südens“, Reggio Calabria und Palermo haben gewisse strukturelle Ähnlichkeiten mit den Großstädten Lateinamerikas — stark ausgeprägte Klassenunterschiede verbunden mit auffallend starkem sozialem Gefälle, hohe Arbeitslosigkeit, weitverbreitete Armut und organisierte Kriminalität, die teilweise den nicht funktionierenden Staatsapparat ersetzt bzw. reguliert. Daraus resultieren Klientelwirtschaft und Gewaltherrschaft, es floriert eine Schattenwirtschaft mit einem dominierenden informellen Dienstleistungssektor ...

Kinderarbeit gehört zum täglichen Leben in Süditalien — sowohl am Land als auch in den Städten. Die hohe Arbeitslosigkeit, verbunden mit einem praktisch inexistenten sozialen Netz, zwingt viele Familien, Jugendliche und Kinder schon früh zur Erwerbsarbeit zu drängen, um die Versorgung zu garantieren. 1987 lebten 20% aller italienischen Familien von einem Jahreseinkommen in der Höhe von 80.000 öS, 10% kamen auf undeklarierte, d.h. aus keinem regulären Arbeitsverhältnis stammende 10.000 öS. Um überleben zu können, haben die Leute im Süden gelernt, sich zu ‚arrangieren‘ — selbstgeschaffenen Tätigkeiten nachzugehen — Schwarzarbeit. Allein im Raum Neapel ist die Camorra Arbeitgeberin für 40.000 Personen. 30.000 davon leben vom Zigarettenschmuggel und -handel. In dieser ökonomisch, sozial und legistisch prekären Situation zählt jede Arbeitskraft — den Luxus, Kinder ‚nur‘ großzuziehen und sie zur Schule zu schicken, können sich viele nicht leisten.

Taglöhner und Haushaltsgehilfinnen

Auf dem Land gehört der Großteil der 10-12jährigen Kinder schon der ökonomisch aktiven Bevölkerung an. Heimarbeit und Mitarbeit im eigenen Kleinbauernbetrieb oder Handwerk zählen zu den Tätigkeiten der traditionellen, auf Subsistenz gerichteten Ökonomie, wo die Kinder im Rahmen der Familie in den Arbeitsprozeß eingebunden sind und nicht autonom in der kapitalistischen Marktwirtschaft arbeiten. Außerdem finden sich meist sporadische Arbeitsverhältnisse von Kindern als Tagelöhner in den Ernte- und Saatzeiten, Hilfsarbeiten auf Märkten und Baustellen sowie für die Mädchen als Hausarbeiterinnen und Mägde. Die zunehmende Armut auf dem Land zwingt viele Kinder, zu ‚emigrieren‘ — sie werden, kaum 12 Jahre alt, zu ‚reichen‘ Verwandten in den Norden geschickt, wo sie dann meist als Gratishausgehilfen ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen.

Häufig, aber wesentlich effizienter organisiert als auf dem Land, ist die Heimarbeit in den Städten. Dabei handelt es sich größtenteils um Tätigkeiten, die nur einem spezifischen Arbeitsvorgang der industriell organisierten Produktion entsprechen z.B. Schuh- und Handschuhsäume nähen, Stoffblumen stecken oder schneiden, Jeans nähen usw. Die Kinder, vor allem die Mädchen, die eng mit anderen Frauen der Familie zusammenarbeiten, haben keinen direkten Kontakt zu ihrem Arbeitgeber, kennen meist nicht einmal seinen Namen oder seine Firma. Sie bezeichnen sich selbst auch nicht als Arbeiterinnen und sehen kein Ausbeutungsverhältnis zwischen sich und ihrem Arbeitgeber. Sie beziehen meist kein direktes Einkommen aus ihrer Tätigkeit, da es entweder für den Familienunterhalt gleich verbraucht oder für die ‚Aussteuer‘ von der Mutter zur Seite gelegt wird.

Camorra-Manufakturen

Die Arbeitsbedingungen sind sehr schlecht — meist wird in Garagen oder Kellerlokalen gearbeitet, ohne Entlüftungsanlagen und ohne Sicherheitsvorkehrungen. Die Zahl der Arbeitsunfälle und der Berufskrankheiten ist dementsprechend hoch — allerdings schwer belegbar, da die Mädchen schwarz arbeiten und, um Versicherungsschutz genießen zu können, die Arbeitsunfälle als ‚Heimunfälle‘ deklarieren. Eine häufige Berufskrankheit in der Lederverarbeitung ist die „klebstoffbedingte Polineuropathie“ — Lähmungserscheinungen. Schon 1976 entstand daher ein Komitee „der vom Klebstoff gelähmten Mädchen“, das, obwohl von den Behörden offiziell anerkannt, so gut wie keinen Einfluß auf die Arbeitsbedingungen in den illegalen Kleinbetrieben hat. Viele dieser Manufakturen gehören direkt der Camorra bzw. der Mafia und stellen ausschließlich Markenartikelfälschungen her.

In der stark geschlechtsspezifisch gegliederten Arbeitswelt werden Buben schon früh in die ‚männlichen‘ Tätigkeiten miteinbezogen. Auch hier kann man/frau das mehr familienorientierte vom einkommensorientierten Arbeitsverhältnis unterscheiden. Die Mitarbeit von Kindern in Handwerks- und Handelsbetrieben der eigenen Familie ist vor allem auf die Überlebenssicherung der Familie gerichtet. Der Junge bezieht kein direktes Einkommen aus seiner Tätigkeit, bestenfalls ein sehr geringes. Es wird meistens — anders als bei den Mädchen — angestrebt, ihm den Pflichtschulbesuch zu ermöglichen. In den einkommensorientierten Arbeitsverhältnissen hingegen, wo die Buben als Lehrlinge beschäftigt sind, sind die Arbeitsbedingungen wesentlich härter. 10- bis 12-stündige Arbeitstage, in denen der Junge körperlich harte und unqualifizierte Tätigkeiten verrichtet, sind die Regel. Der Arbeitgeber ist meist ein entfernter Bekannter der Eltern des Kindes, der diesen einen Gefallen schuldet und dafür den Jungen bei sich anstellt. Selbstverständlich handelt es sich auch hier um Schwarzarbeit mit dementsprechenden Hungerlöhnen — durchschnittlich ca. 100 öS pro Woche. Das Ziel dieser Arbeit ist ja nicht der Verdienst, sondern das Erlernen eines Berufs.

Peppino S., ein 40jähriger Automechaniker in der Sanità, einem populären Viertel Neapels, meint dazu: „Ich wollt’ den Jungen doch gar nicht nehmen, aber seine Eltern haben ihn mir richtig aufgedrängt. Können tut er nichts, baut nur Unfug, in der Schule hat er’s ja auch zu nichts gebracht. Kann man da nein sagen? Ich hab’ ein großes Herz. Was soll denn sonst aus ihm werden, bei mir lernt er wenigstens was ...“ Der Junge ist 13 Jahre alt und arbeitet täglich von 8 Uhr bis 20 Uhr. Dafür bekommt er sein warmes Mittagessen und die Trinkgelder der Kunden.

In den Städten des Südens springen sogar dem oberflächlichsten Betrachter die Barjungen ins Auge — oft 6jährige Buben, die mit kaffeebeladenen Tabletts durch die Straßen sausen. Sie verrichten Botendienste und Hauszustellungen, helfen hinter der Bar aus, putzen das Lokal ... 10-, 12-stündige Arbeitstage sind auch hier die Regel, als Bezahlung gibt’s die Trinkgelder.

Ein 11-jähriger ambulanter Händler in Neapel

Beruf: Autoscheibenputzer

Die bisher beschriebenen Arten von Kinderarbeit gehören noch zu den ‚privilegierteren‘ Formen, da sie in gewisser Hinsicht den Betroffenen doch die Möglichkeit bieten, eine produktive Tätigkeit zu erlernen. Das Ausbeutungsverhältnis ist allerdings unbestreitbar, außer vielleicht in den familieninternen Betrieben, die auf Überlebenssicherung ausgerichtet sind.

Viele Kinder des armen und ärmsten Süditalien jedoch haben nicht einmal diese winzige Chance, eine Art von Berufsausbildung zu erfahren. Sie arbeiten von klein auf ‚selbständig‘, schaffen sich selbst ihren Arbeitsplatz. Sie sind ambulante Verkäufer, die von Taschentüchern bis zum Schminkset alles mögliche an Straßenkreuzungen und Busstationen an den Mann oder die Frau bringen wollen. Oder sie sind Autoscheibenputzer auf vielbefahrenen Straßen. Das Einkommen, das sie aus diesen Tätigkeiten beziehen, ist meist nicht schlecht. Allerdings müssen sie davon ‚Abgaben‘ an die lokalen Mafia- und Camorrabosse zahlen, da sonst der Arbeitsplatz weg ist und sie ordentlich verprügelt werden.

Auf den Fisch- und Obstmärkten findet man/frau viele dieser kleinen ‚Selbständigen‘, die sich als Lastenträger anbieten. Sie arbeiten für alle, solange sie können, und werden willkürlich, auf Trinkgeldbasis, für ihre Dienste bezahlt. Die harte körperliche Arbeit führt oft zu Wachstumsstörungen und hinterläßt arge Gesundheitsschäden.

Neben diesen, sich auf ‚ehrliche‘ Weise ihr Geld verdienenden Kindern gibt es die unzähligen ‚Kleinkriminellen‘ — Straßenkinder, die sich mit den verschiedensten Tätigkeiten, von Taschendiebstählen bis zum Drogenhandel, das Überleben sichern. Hier sind es ebenfalls die Jungen, die aktiv sind von klein auf. Häufig sind sie in Banden organisiert, die alle Altersstufen umfassen — vom 5jährigen Anfänger bis zum 6jährigen ‚Capo‘. Die jüngsten beginnen mit einfachen Laden- und Taschendiebstählen. Später, mit ca. 10, 12 Jahren, spezialisieren sie sich dann auf die einträglicheren „scippi“ (schnelle gewaltsame Entwendung von Handtaschen und Schmuck), die meistens zu zweit oder zu dritt durchgeführt werden. Die Kinderbanden sind auch bekannt für die bewaffneten Überfälle in abgelegenen Gassen oder auf Parkplätzen.

Vom kleinen Dieb zum Dealer

Im organisierten Drogenhandel haben die Kinder ihren festen Platz. 1989 schockierte die Schlagzeile vom 8jährigen Buben, der in Palermo Heroin verkaufte, das gutbürgerlich denkende Italien. Aber er ist keine Ausnahme, sondern vielmehr ein charakteristischer Fall für die Situation der Kinder in Süditalien. Im Kleindrogenhandel, d.h. im organisierten Verkauf von Haschisch, aber auch von härteren Drogen an den Endverbraucher, werden die Kinder gerne und häufig als Warenüberbringer und auch direkt als Verkäufer beschäftigt. Ihr großer Vorteil gegenüber erwachsenen Dealern ist, daß sie vor dem Gesetz noch nicht strafbar sind. Sehr viele Kinder, vor allem in Neapel und Palermo, sind professionelle Bettler. Hauptsächlich sind es Mädchen, die mit Kleinkindern im Arm um Almosen bitten. Anläßlich eines UNICEF-Sonderprojektes, das sich zum Ziel steckt, die Straßenkinder Palermos zu ihren Familien zurückzuführen bzw. sie in Fürsorgeanstalten unterzubringen, stellte sich heraus, daß die meisten dieser Kinder von mafiosen Organisationen kontrolliert werden, die ihnen sowohl die ‚Arbeitsplätze‘ als auch die ‚Mitarbeiter‘ — von armen Familien ‚gemietete‘ Kleinkinder — zuweisen und als ‚Abgaben‘ den größten Teil der Einnahmen kassieren.

Kinderarbeit — abgesehen von der ‚nicht-produktiven‘ wie Betteln oder Stehlen — hat einen großen ökonomischen Stellenwert in der süditalienischen Gesellschaft. Viele Kleinbetriebe, aber auch mittlere und größere Industriebetriebe sind nur dank der Ausbeutung dieses extrem billigen und flexiblen Arbeitskräftereservoirs konkurrenzfähig.

Ca. 40% der 6-14jährigen Kinder Neapels gehen nicht oder nur unregelmäßig zur Schule. Jeder dritte Neapolitaner ist ohne Schulabschluß oder gar Analphabet. Diese mangelnde Ausbildung bedingt ihrerseits wieder ansteigende Arbeitslosigkeit unter eben diesen unqualifizierten Arbeitskräften. Der Einfluß von Mafia und Camorra nimmt zu, und damit auch die Kriminalität.

Auffallend ist, daß die Kinderarbeit der traditionellen geschlechtlichen Arbeitsteilung entspricht. Während die Mädchen vor allem als Heimarbeiterinnen tätig sind, völlig unter der Kontrolle ihrer Mütter — als „dazuverdienende kleine Hausfrauen“ —, sind die Buben von klein auf ‚draußen‘, außerhalb der Familie, wo sie lernen müssen, sich durchzuschlagen. Versagen sie, d.h. tragen sie nicht ausreichend zum Familieneinkommen bei, landen sie meistens auf der Straße und damit, fast unausweichlich, in den Händen von Mafia und Camorra.

Italiens europäische Zukunft, Schlagwort 1992, wird diesen Circulus vitiosus von Armut, organisierter Kriminalität und Kinderarbeit sicher nicht unterbrechen. „Einem bereits abgefahrenen Zug hinterherzulaufen, löst unsere Probleme nicht, verschlimmert sie eher. Die ökonomischen und sozialen Strukturen Süditaliens gehören verändert, neue Arbeitsplätze geschaffen ...“, meint dazu Fabio Appicella, von der italienischen Kommunistischen Partei PCI, Sekretär der Provinz Salerno.

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