Mariella Mehr
Beiträge
Context XXI, Heft 2/2002
Wessen Sprache?

Die Überwindung der Sprachlosigkeit

Roma-Literatur und Sprache in Österreich
Mai
2002

Nach der Vernichtung des Großteils der österreichischen Roma durch den Nationalsozialismus dauerte es Jahrzehnte bis die verbliebenen, weitgehend traumatisierten Angehörigen der burgenländischen Roma wieder das Selbstbewusstsein hatten, nicht nur über ihre Verfolgungen zu sprechen, sondern auch (...)

Mariella Mehr (* 27. Dezember 1947 in Zürich; † 5. September 2022 ebenda[1]) war eine Schweizer Schriftstellerin au der Gruppe der Jenischen.

Mariella Mehr wurde als Angehörige der Minderheit der Jenischen 1947 in Zürich geboren. Sie wurde im Rahmen des Projekts Kinder der Landstrasse als Kleinkind ihrer Mutter weggenommen. In dem Projekt wurden Kinder von ihren «fahrenden» Eltern zwangsweise getrennt, um die Jenischen sesshaft zu machen. Sie wuchs in 16 Kinderheimen und drei Erziehungsanstalten auf. Viermal wurde sie in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen.

Weil sie unehelich schwanger geworden war, wurde sie wegen sittlicher Verwahrlosung 19 Monate lang in der Frauenstrafanstalt Hindelbank eingesperrt. Dort gebar sie im Sommer 1966 ihren Sohn Christian Mehr. Christians Vater ist Siro Moja, ein Angehöriger der Roma. Er arbeitete in der Schweiz als Portier und hatte dort die junge «Buffetdame» Mariella Mehr kennen gelernt. Für die Behörden waren solche Verbindungen unerwünscht; es galt sie zu unterdrücken.[2]

Der 11 Monate alte Christian wurde ihr durch die aktenführende Organisation Pro Juventute weggenommen. Durch Kindswegnahme wurden er, seine Mutter und in 1927 seine Großmutter Marie Emma Opfer des Projekts Kinder der Landstrasse.[3][4][5]

„Die Aktenanlegung und die systematisch verwendeten Stigmatisierungen bildeten denn auch mit einen Grund für die Diskriminierungen, welche die Betroffenen des Hilfswerks erleiden mussten. Die schriftlich festgehaltenen negativen und zugespitzten Formulierungen blieben bleischwer an den betroffenen Kindern und Erwachsenen hängen und bestimmten ihr weiteres Schicksal entschieden mit.“[6] Dennoch publizierte sie ab 1975, zunächst journalistisch, dann schriftstellerisch. Sie erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen. In 1981 erschien Steinzeit, ihr erster Roman.

Ab den 1970er-Jahren engagierte sich Mehr für die Interessen der Roma, zu denen sie auch die Jenischen zählte. In einem Interview sagte sie 1982: «Das Roma-Volk setzt sich aus 29 Stämmen zusammen. Darunter sind die Jenischen ein relativ kleiner Stamm.» Im selben Interview erklärte sie, dass sie aus der jenischen Gemeinschaft «hinausgeschmissen» worden sei, weil sie Widerstand dagegen geleistet habe, dass die Frauen, die die Organisationen der Roma bzw. der Jenischen gegründet hätten, darin zurückgedrängt worden seien.[7]

Mehr war 1975 Gründungsmitglied der Radgenossenschaft der Landstrasse, in der sie, zunächst als Kassierin, von 1976 bis 1982 als Sekretärin tätig war. Sie wirkte in den ersten Jahren zudem als Redaktorin der Genossenschaftszeitschrift «Scharotl», was eine jenische Bezeichnung für Wohnwagen ist.

In ihrem Buch Kinder der Landstrasse formulierte sie die Ziele der Jenischen auf programmatische Weise und betonte «die Versuche der Jenischen, ihre soziale und kulturelle Identität wiederzufinden».[8] An der Generalversammlung vom 5. März 1983 nahm sie nicht teil und wurde von der Versammlung nicht mehr als Mitglied des Verwaltungsrats wiedergewählt.

Mehr sah sich seither weniger als Schweizer als vielmehr als Roma-Schriftstellerin.[9] Aussenstehende schliessen daraus, dass sie in Romanes schreiben würde.[10] Das ist bei einer Roma-Angehörigen aus dem Stamm der Jenischen nicht naturgemäss der Fall; Jenische haben eine eigene Sprache, das Jenische. Mariella Mehr verstand gemäss demselben Interview Romanes, sie schrieb in Deutsch, Texte wurden ins Italienische übersetzt; Gedichte auch ins Romanes, übersetzt von Rajko Đurić.[11]

Für ihre schriftstellerische Leistung wie für ihr minderheitspolitisches Engagement erhielt Mehr 1998 die Ehrendoktorwürde der Universität Basel.

Nach zwanzig Jahren in der Toskana lebte Mehr seit 2015 wieder in der Schweiz.[12]

Im Jahr 2000 trat Mehr aus der Autorenvereinigung Gruppe Olten aus, weil diese das Ziel, «eine demokratische sozialistische Gesellschaft» zu verwirklichen, aus dem Zweckartikel ihrer Statuten gestrichen hatte. Sie war Mitglied der International Romani Writers (IRWA), deren Vizepräsidentin sie zeitweise war.[13]

Mehr verstarb am 5. September 2022 im Alter von 74 Jahren im Zürcher Pflegeheim Entlisberg.[1]

Ihr Archiv befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern.

Auszeichnungen (Auswahl)

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  • 1981 Literaturpreis des Kantons Zürich für Steinzeit
  • 1981 Förderungspreis des Kantons Bern für Steinzeit
  • 1983 Literaturpreis der Stadt Bern für In diesen Traum...
  • 1987 Literaturpreis der Stadt Bern für Kinder der Landstrasse
  • 1988 Ida-Somazzi-Preis
  • 1992 Anerkennungspreis des Kantons Graubünden (für das Gesamtwerk)
  • 1995 Anerkennungspreis der Stadt Zürich (Gesamtwerk)
  • 1996 Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung für Daskind
  • 1996 Ehrenmedaille der Gemeinde Tomils
  • 1998 Ehrendoktorwürde der Universität Basel
  • 2002 Buchpreise des Kantons und der Stadt Bern für Angeklagt
  • 2012 ProLitteris Preis für ein literarisches Lebenswerk[14][15]
  • 2016 Bündner Literaturpreis
  • Steinzeit. Roman. Zytglogge Verlag, Gümligen 1981.
  • In diesen Traum schlendert ein roter Findling. Gedichte. Zytglogge, Gümligen 1983.
  • Das Licht der Frau. Bericht über Spanien und die Stierkämpferinnen. Zytglogge, Gümligen 1984.
  • Kinder der Landstrasse. Ein Hilfswerk, ein Theater und die Folgen. Zytglogge, Gümligen 1987. (dokumentiertes Buch zur Aufführung)
  • Rückblitze. Zytglogge, Gümligen 1990. (Sammlung von Texten aus den Jahren 1976–1990)
  • Zeus oder der Zwillingston. Roman. R+F Verlag, Zürich 1994.
  • Daskind. Roman. Nagel & Kimche Verlag, Zürich 1995.
  • Brandzauber. Roman. Nagel & Kimche, Zürich 1998.
  • Nachrichten aus dem Exil. Gedichte, zweisprachig (deutsch & romani). Übersetzung von Rajko Djuric. Drava Verlag, Klagenfurt 1998.
  • Widerwelten. Gedichte, teilweise zweisprachig (deutsch & romani). Übersetzung von Miso Nikolic. Drava, Klagenfurt 2001.
  • Angeklagt. Roman. Nagel & Kimche, Zürich 2002.
  • Im Sternbild des Wolfes. Gedichte. Drava, Klagenfurt 2003.
  • Widerworte. Geschichten, Gedichte, Reden, Reportagen. Hg. v. Christa Baumberger und Nina Debrunner. Limmat, Zürich 2017.
  • Kinder der Landstrasse. Drama, uraufgeführt im Theater 1230, Bern 1986.
  • Silvia Z. Drama, uraufgeführt im Stadttheater Chur 1986.
  • Anni B. Drama. Aufführung im Theaterhaus Gessnerallee, Zürich 1989. (von der Autorin abgelehnte Aufführung)

Einzelnachweise

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  1. a b Charles Linsmayer: Schweizer Schriftstellerin Mariella Mehr im Alter von 74 Jahren gestorben. In: Aargauer Zeitung, 6. September 2022.
  2. Alexander Sury: «Warum hast du die halbe Welt gerettet, aber nicht deinen Sohn?»; abgerufen am 10. August 2024.
  3. Isabell Pfaff: Die Kinderdiebe, Süddeutsche Zeitung, 10. August 2024, S. 11.
  4. Jenische in der Schweiz; abgerufen am 10. August 2024.
  5. Interview mit Christian Mehr; abgerufen am 10. August 2024.
  6. Lukas Geiger: Qualitätssicherung mit stigmatisierender Wirkung? Zur Aktenführung in der sozialen Arbeit. (PDF) In: Sozial Aktuell Nr. 3. 3. März 2014, abgerufen am 11. August 2015.
  7. Rafaela Eulberg: «Sprache ist mein Zuhause». Interview mit der Romni-Schriftstellerin Mariella Mehr. In: Schlangenbrut, 21 (2003), Nr. 82, S. 21–25, hier: S. 25.
  8. Mariella Mehr: Kinder der Landstrasse. Ein Hilfswerk, ein Theater und die Folgen. Zytglogge-Verlag, Bern 1987, ISBN 3-7296-0264-0. Darin Abschnitt: «Die Versuche der Jenischen, ihre soziale und kulturelle Identität wiederzufinden», S. 20.
  9. Rafaela Eulberg: «Sprache ist mein Zuhause». Interview mit der Romni-Schriftstellerin Mariella Mehr. In: Schlangenbrut, 21 (2003), Nr. 82, S. 21–25.
  10. Interviewfrage: «Schreibst du auch auf Romanes?» in Rafaela Eulberg: «Sprache ist mein Zuhause». Interview mit der Romni-Schriftstellerin Mariella Mehr. In: Schlangenbrut, 21 (2003), Nr. 82, S. 21–25, Frage S. 22; eine Frage nach der jenischen Sprache wird nicht gestellt.
  11. Mariella Mehr: Nachrichten aus dem Exil / Nevipe andar o exilo, Gedichte / Gila. Übersetzungen ins Romanes von Rajko Djuric, Edition Niemandsland, Klagenfurt 1998, ISBN 3-85435-296-4.
  12. Eine starke Stimme meldet sich zurück. Der Bund, 6. Januar 2015.
  13. Background of IRWA (Memento vom 30. September 2011 im Internet Archive) In: romaniwriters.com (englisch).
  14. Preisverleihung 2012 (Memento vom 8. März 2012 im Internet Archive) (abgerufen am 5. März 2012)
  15. S. W. I. swissinfo.ch, a branch of the Swiss Broadcasting Corporation: Littérature: Mariella Mehr récompensée à Zurich. Abgerufen am 16. März 2020 (französisch).